Wenn sich Yasemin Tahris an die Anfänge von Flowit vor drei Jahren erinnert, muss sie schmunzeln. Denn: Ihr Unternehmen ist kein klassisches Start-up, sondern aus dem Pain Point des eigenen Familienunternehmens entstanden. „Mein Mann ist im Immobilien- und Handwerksbereich tätig und sah keinen Sinn mehr in klassischen Mitarbeitendengesprächen, in denen es Listen zum Abhaken oder Schulnoten zum Bewerten gibt und bei denen die Sprache eine große Barriere darstellt“, erklärt Yasemin Tahris. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass sich Mitarbeitende mit Fachbegriffen schwertun und Menschen mit Migrationshintergrund zudem die Landessprache im Weg steht. Gleichzeitig wollte ihr Mann immer die Menschen ins Zentrum stellen, erzählt sie.
Personalentwicklung neu denken
Heute gelingt dies Yasemin Tahris mit Flowit. Das Start-up denkt Personalentwicklung neu und berücksichtigt dabei Non-Desktop-Berufe, etwa in der Hotelerie, in der Gastronomie und in der Pflege. Konkret geht das so: Bereits vor dem Mitarbeitendengespräch fragt ein Chatbot in einer von 40 verschiedenen Sprachen: Wie geht es dir bei der Arbeit? Welche Themen beschäftigen dich? In welche Richtung möchtest du dich entwickeln? Die Sprache ist dabei einfach und verständlich und vermeidet Fachbegriffe. Das System verwendet ein Wording, das der Branche angepasst ist. „In der Küche ist nicht von Leadership die Rede, sondern vom Chef oder von der Chefin“, erklärt die Arbeits- und Organisationspsychologin, um die Gräben aufzuzeigen, die Sprache oft mit sich bringt.
Die Zahlen sprechen für sich: Nach eigenen Angaben sank die Fluktuation in den Unternehmen, die mit Flowit arbeiten, um bis zu 50 Prozent – weil sich die Mitarbeitenden besser abgeholt und gehört fühlen.
Yasemin Tahris berichtet: „Bei einem der größten italienischen Gastrobetriebe in der Schweiz haben wir herausgefunden, dass sich Mitarbeitende überhaupt nicht willkommen fühlen. Es gab zwar Benefits wie Wohnungen, aber die Unzufriedenheit war so groß, dass viele Gastarbeiter:innen nach einem Jahr wieder in ihr Heimatland abgereist sind.“ Mithilfe von KI fand die Erfinderin von Flowit mit ihrem Team heraus: „Mentorenprogramme sind die Lösung, um die Personen willkommen zu heißen und sie bei kulturellen und emotionalen Themen zu begleiten.“
Erfolgreiche Finanzierungsrunde
Heute zählt das Start-up 32 Beschäftigte. 30.000 Nutzer:innen sind jeden Tag auf dem System unterwegs. Vier Millionen Schweizer Franken sammelte es im vergangenen Sommer ein; zu den Investoren gehören Carsten Maschmeyer mit seinem Fonds Alstin Capital und VI Partners. „Bis dahin waren wir bootstrapped und hatten eine Million Euro wiederkehrenden Umsatz“, sagt Yasemin Tahris.
Sie selbst stammt aus einer Arbeiterfamilie, die Eltern kommen aus Marokko und der Türkei. Yasemin Tahris wurde in Schwamendingen groß – einem Stadtkreis von Zürich, der für seinen hohen Ausländeranteil bekannt ist. „Dort bin ich aufgewachsen, in einer schweizerisch-orientalischen Familie, in zwei Kulturen, was sehr spannend war und mich weitergebracht hat.“ Sie arbeitete nachts als Krankenpflegerin, um tagsüber die Matura (Abitur) nachholen zu können. „Mir wurde nichts geschenkt auf meinem Weg, ich habe mich selbst finanziert – bis hin zu meinem Doktorat.“ Das legte sie ab, während ihre beiden Töchter geboren wurden.
Yasemin Tahris möchte Menschen empowern und Diskriminierung vermeiden. „Jeder Mensch hat Vorurteile und Biases – auch die KI, weil sie von uns programmiert wird. Das ist eine Tatsache, an der man immer wieder arbeiten muss.“ Die Gründerin stellt ihr Team bewusst divers auf, um Vorurteile durch gezielte Fragen zu minimieren und die KI zu trainieren.
„Jeder Mensch hat Vorurteile und Biases – auch die KI, weil sie von
uns programmiert wird.“
Die Nachfrage stieg
Training – auf eine ganz besondere Art und Weise, das bietet Semra Pamuk im Erste Financial Life Park, kurz FLiP, in Wien an. Die gemeinnützige Gesellschaft setzt auf finanzielle Bildung und fördert diese. Semra Pamuk, die in Wien geboren wurde und türkische Wurzeln hat, ist dort Educator und Programme Manager: „Meine Hauptfunktion war es ursprünglich, Kindern und Jugendlichen das Thema Geld näherzubringen. Vor zwei, drei Jahren kam vermehrt auch die Nachfrage auf, Frauen zu dem Thema zu schulen, vor allem Frauen mit Migrationshintergrund.“
Der Name der Initiative: „Abla“, was auf türkisch „Schwester“ bedeutet. Hier möchte Semra Pamuk Frauen an die Basisbegriffe des Bankwesens heranführen. Was ist ein Dauerauftrag? Was ist ein Überziehungsrahmen? Und wo liegen eigentlich die Vor- und Nachteile einer Kreditkarte? „Ich möchte die Frauen niederschwellig abholen. Außerdem berate ich die Frauen, wie eine kurzfristige, mittelfristige und langfristige Finanzplanung aussehen kann.“
Dass der Bedarf groß ist, weiß Semra Pamuk aus eigener Erfahrung. Sie ist ein „typisches Gastarbeiterkind“, sagt sie über sich selbst, in Wien ist sie großgeworden. Nach der Matura 1994 begann sie eine Ausbildung zur Bankkauffrau, weil ihre Familie – der Vater Maurer, die Mutter Hausfrau – seinerzeit in der Nähe einer Filiale wohnte. „Ich hatte kein Internet, kein Instagram, keine Role Models – in einer Bank ist es angenehm zu arbeiten, und für mich war es damals ein wirklicher Traumberuf.“
Viele Jahre verbrachte sie in unterschiedlichen Positionen, unter anderem als Filialleiterin im 23. Bezirk in Wien. Dazwischen sattelte sie eine akademische Ausbildung auf und studierte „als einzige Mutter unter 19-Jährigen“ Banken- und Finanzwirtschaft. Semra Pamuk berichtet: „Im Job war für mich fast an der Tagesordnung zu dolmetschen und unsere Bankprodukte verständlich zu erklären.“
„Viele Frauen sind verängstigt“
Nach dem Wechsel zu FLiP war es wohl nur die logische Folge, dass Semra Pamuk ihren „Findependence“-Workshop entwickelte – also das spezielle Programm, das Frauen in ein finanziell unabhängiges Leben begleitet. Was ihr wichtig ist: „Ich erkläre die Begriffe auf Deutsch und übersetze zum Beispiel ‚Dauerauftrag‘ nicht ins Türkische. Die Frauen leben in Österreich, sie sollen sich mit den Begriffen auseinandersetzen, die hier verwendet werden – auch das ist Teil der Integration.“
Der Zuspruch zu den Workshops ist groß – so groß, dass bisher keine Außenwerbung nötig war. Die Frauen, die kommen, sind dankbar für das Angebot. Auf den Feedbackbögen schreiben sie, dass Wissen „professionell und einfühlsam vermittelt“ wird, dass der Kontakt „auf Augenhöhe“ stattfindet und während des Präsenz-Workshops „eine entspannte Atmosphäre“ herrscht. Ein großes Kompliment für Semra Pamuk, die weiß: „Viele Frauen sind verängstigt und wurden des Öfteren aufgrund des Unwissens bloßgestellt.“ Nach dem Workshop sind sie fit, was das Thema Finanzen angeht.
„Ich erkläre die Begriffe auf Deutsch und übersetze ‚Dauerauftrag‘ nicht ins Türkische.“
Mehr Wissen für alle und mehr Augenhöhe, das ist auch das Ziel des Münchner Social Start-ups SUMM AI mit dem dreiköpfige Gründungsteam Flora Geske, Vanessa Theel und Nicholas Wolf. Der Weg dorthin: Ein KI-Tool, das Texte auf Knopfdruck durch die Übersetzung in sogenannte „leichte Sprache“ verständlich macht. Entwickelt wurde die „leichte Sprache“ aus der Behindertenrechtsbewegung und von Menschen mit geistiger Behinderung sowie mit Lernschwierigkeiten. Sie umfasst ein klares Regelwerk, etwa mit einfachen Wörtern und kurzen Sätzen. SUMM AI ermöglicht es Organisationen und Unternehmen, mithilfe eines KI-Redaktions-Tools mehr Barrierefreiheit zu schaffen.
Mehr als 80.000 Texte übersetzt
Schon im gemeinsamen Studium an der TU München haben sie diese Mission für sich entdeckt, da Flora Geskes Tante zum Kreis derer gehört, die kompliziert verpackte Inhalte nicht aufnehmen können. „Unser Ziel ist es, Formulare und Webseiten nicht nur besser zugänglich, sondern auch verständlich zu machen. Wir waren schockiert, wie wenig Texte in leichter Sprache zur Verfügung stehen und wie viele Menschen damit von wichtigen Informationen ausgeschlossen werden“, berichtet CRO Vanessa Theel. „Wir wollen Menschen mit Lernschwierigkeiten und Bildungsnachteilen erreichen, und das sind geschätzt allein in Deutschland zehn Millionen. Zusammen mit Menschen, die gerade erst Deutsch lernen, sind es sogar rund 20 Millionen.“
„Millionen Menschen werden von wichtigen Informationen ausgeschlossen. Das wollen wir mit unserem KI-Tool ändern.“
Seit drei Jahren gibt es SUMM AI nun, und inzwischen zeigen sich viele Erfolge – von Großaufträgen, etwa für die Sparkassen, über eine siebenstellige Finanzierungsrunde bis hin zu mehreren Auszeichnungen. „Mittlerweile haben die Kunden mit unserem Tool mehr als 80.000 Texte in leichte Sprache übersetzt“, so Theel. Und schon bald dürften es deutlich mehr werden. „Banken und Versicherungen wachen langsam auf, da sie viele Rückfragen zu ihren Angeboten erhalten, aber dafür nur ineffiziente Prozesse haben.“ Zudem gibt es neue gesetzliche Vorgaben. „Institutionen müssen barrierefreie Angebote erstellen – aber sie wissen, dass die Umsetzung kaum kontrolliert wird. Deshalb bleibt es oft bei Inhalten in einfacher Sprache“, weiß Theel. Die einfache Sprache folgt jedoch keinem festen Regelwerk und enthält auch komplizierte Begriffe.
Kommunen und Sozialunternehmen stehen nun im Fokus von SUMM AI. „Partnerschaften mit Anbietern von Redaktionssystemen, die unser Tool als Plugin anbieten, sind für uns ein wichtiger Hebel“, erklärt Co-Gründerin Vanessa Theel. Im Ausland tut sich ebenfalls viel. „Neben Deutsch kann unser Tool in leichtes Englisch und leichtes Französisch übersetzen – auch für die französische Regierung war es bereits im Einsatz.“
Text: Dagmar Zimmermann & Simone Fasse