Einer brandaktuellen Studie zufolge würde ein inklusiveres Image der MINT-Fächer – die kritische Masse wird hier mit 20 Prozent Frauenanteil angegeben – mehr jüngere Leute ansprechen. Das ist doch interessant: Auf der einen Seite haben wir die Schüler*innen und potenziellen Student*innen, die mehr Inklusivität fordern, auf der anderen Seite aber den reellen Alltag, bei dem weibliche MINT-Studentinnen nach wie vor stark gegen Biases zu kämpfen haben. Wie erklären Sie diesen Gap?
Tijen Onaran: Wenn du als Frau oder auch als junge Frau die Einzige in einem bestimmten Tech- oder MINT-Umfeld bist, bist du ein bisschen wie das Alien im Raum. Du bist anders – und durch dieses Anderssein folgt Reibung. Die Masse, die sich als Gruppe sieht, wird sich zusammentun und dir gegenüber signalisieren: Du trittst anders auf, stellst andere Fragen, bist unbequem, challengt uns als Gruppe.
Auf der anderen Seite bietet dieses Anderssein eine große Chance: Du kannst Veränderungen anstoßen, kannst die Erste in deiner Familie sein, die IT studiert, ihren Weg geht. Du bist dann die Erste am Meetingtisch, die erste Frau, die erste Ingenieurin, die erste Informatikerin, wie auch immer. Und hast dann diesen Rolemodel-Effekt, sodass sich andere wiederum an dir orientieren.
Da fällt mir gleich wieder ein: Als wir 2018 sheconomy gründeten, kam eine Studie heraus, nach der 84 Prozent aller jungen Mädchen eher eine Führungsrolle anstreben würden, wenn es mehr female Rolemodels gäbe …
Es gibt einige spannende Studien zu diesem Thema. Microsoft zum Beispiel hat aufgezeigt, wenn Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren weibliche Vorbilder im IT-Bereich haben, verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch in so einen Job gehen. Das ist dieser berühmte Rolemodel-Effekt, auf den hingewiesen wird, wenn es um positive Entwicklungen rund um Frauen und Karriere oder Frauen und Wirtschaft geht.
Deswegen ist es so wichtig, dass Frauen in Bereichen wie IT, Informatik, Tech und Digital in die Sichtbarkeit kommen. Die jungen Mädchen orientieren sich an ihnen und sagen: Guck mal, wenn die es geschafft hat als Alien im Raum, dann schaffe ich es auch.
Interessant ist, dass selbst in „progressiven“ Studienrichtungen wie Programmieren, Gaming, Filmbusiness, das ja immer technikgetriebener wird, Studierende wie Lehrende extreme Sexismen beklagen. Hängt das damit zusammen, dass diese Generation viel sensibilisierter ist und deshalb etwas als viel unverschämter empfindet, als dies noch für die Boomer der Fall war? Oder ist es tatsächlich schlimmer geworden?
Ich glaube durchaus, dass vieles mit der Wahrnehmung zu tun hat. Überall wird über Diversity, Sichtbarkeit, female Empowerment gesprochen, daher werden die Frauen auch viel mutiger genauer hinzuschauen, genauer hinzuhören und es schnell zu thematisieren, wenn sie Ungerechtigkeiten empfinden. Die Generationen davor haben es bestimmt ebenso gesehen und genauso mit den Augen gerollt, aber sich irgendwie gedacht: Das gehört halt dazu, das steckt man weg.
Heute sagen die Frauen: „Nein, ich stecke das nicht weg, ich thematisiere es!“ Weil sie aufzeigen wollen: Das passiert nicht nur dir in deinem Unternehmen im Vier-Augen-Gespräch hinter verschlossenen Türen, sondern das passiert auch mir. Je öffentlicher diese Message ist, desto mehr Mut gibt sie anderen Betroffenen, dies nicht mit sich machen zu lassen. Es ist wichtig, seine Stimme zu erheben.
Wie ist das eigentlich bei Ihnen: Nehmen die Angriffe eher zu oder ab?
Sie nehmen zu und werden auch krasser von der Sprache her. Jahrelang war ich in meiner loving Community unterwegs, die ich mir über Social Media oder Events hart erarbeitet habe. Damit hatte ich mir meine Zielgruppe an den Tisch geholt. Aber jetzt setzen sich Leute an meinen Tisch, die ich gar nicht zur Party eingeladen habe. Die warten da und arbeiten sich an mir ab.
Ich merke, dass ich durch die gestiegene Reichweite und Medienöffentlichkeit meine Bubble verlassen habe und viele Menschen erreiche, die mit Diversity nichts anfangen können oder wollen und für die ich das Sinnbild des bösen Feminismus bin. Für die ich ganz viel triggere, in vielen Momenten. Das zeigt sich in dieser Angriffigkeit.
Wie gehen Sie damit um? In diesem Zusammenhang möchte ich nochmal auf die eingangs zitierte Studie zurückkommen, nach der 60 Prozent aller MINT-interessierten Mädchen erst gar nicht mit dem Studium beginnen, aus Angst vor Versagen beziehungsweise aus Angst, zurückgestoßen zu werden. Wie bewegt man sich durch so eine „unsichere“ Zone?
Man braucht ein gutes Grundvertrauen in sich selbst. Würde ich meinen ganzen Impact und den Wert meiner Arbeit nur über den Applaus definieren, würde ich mich abhängig von der Kritik machen, die irgendwann wie das Amen im Gebet kommt. Das heißt – natürlich freue ich mich über die tolle Wertschätzung, die ich von vielen Seiten erhalte.
Aber ich weiß, aufgrund einer intrinsischen Motivation, warum ich das tue, was ich mache. Ich habe diese Vision von einer diverseren Wirtschaft – das ist für mich absolut Number one. Daran messe ich meine Arbeit. Und wenn Kritik kommt, denke ich daran, warum ich meinen Job mache, wofür ich mich engagiere. Dieses Wissen ist für mich ein guter Kompass.
Was würden Sie daher den Mädchen, die an MINT interessiert sind, aber sich nicht trauen, diese Hemmschwelle zu überwinden, raten?
Sie sollen beginnen, ein Erfolgstagebuch zu schreiben und sich einmal in der Woche hinsetzen und sich ihre eigenen Erfolge, die sie jetzt schon in jungen Jahren haben, bewusst machen. Angst resultiert ja häufig aus Unwissen oder daraus, dass ich mich nur darauf fokussiere, was ich nicht kann. Auch ich habe vor Jahren angefangen, ein Erfolgstagebuch zu schreiben. Manchmal steht einfach nur da: Ich habe die Woche überstanden. Oder: Ich war laufen. Oder aber: Ich habe einen Lippenstift auf den Markt gebracht, und er läuft erfolgreich.
Je früher man mit dem Self-Empowerment, von dem ich vorher gesprochen habe, anfängt, desto besser wird man darin, sich in Situationen zu begeben, in denen man sich unsicher fühlt. Etwa, wenn es um die Entscheidung geht, einen Job anzunehmen, für den man sich nicht top-qualifiziert fühlt – so etwas kommt bei Frauen häufig vor. Oder wenn man sich überlegt: Gehe ich in den MINT-Bereich, schaffe ich das überhaupt? Dann wirfst du einen Blick in dein Tagebuch und liest dir deine eigenen Erfolge durch. Das ist dann wie ein Mantra, und du wirst feststellen: Ich bin sowas von qualifiziert! Ich schaffe das. Guck mal, ich habe schon so viel geschafft! Das ist der Punkt.
Ab den 1980er Jahren haben an den Schulen massive Mädchenförderungsprogramme begonnen, bei denen es darum ging, das Selbstbewusstsein von Mädchen zu stärken, dass Mädchen sich nicht immer so verstecken, sich häufiger zu Wort melden. Sieht man sich die heutige Realität an, dürften diese Maßnahmen nicht den gewünschten Effekt gehabt haben – zumindest nicht in ausreichendem Maße?
Da muss man differenzieren. Die Maßnahmen sind wichtig und richtig, um die Aufmerksamkeit für das Thema aufrecht zu halten. Aber ich finde, man kann nicht immer den Frauen die Verantwortung geben, an der Frauenproblematik zu arbeiten. Ich nehme auch die Männer in die Verantwortung.
Das fängt zuhause bei den eigenen Töchtern an, die man hoffentlich empowert – natürlich auch die Söhne, aber wir sprechen jetzt über die Töchter. Das geht weiter über die Entscheidungstische, die ich als Mann divers besetzen sollte, weil dies viel klüger und smarter ist – und endet bei Förderprogrammen, die wir nicht als solche bezeichnen sollten. Denn Frauen müssen nicht ge-fördert werden, sie müssen be-fördert werden. Diese Wahrnehmung gehört geändert.
Wenn Sie einen Tipp geben könnten – was müssen die Fachhochschulen machen, um mehr Studentinnen anzuziehen?
Sie müssen nachdenken und dort hingehen, wo die Party stattfindet, und nicht glauben, dass die Mädels ihnen automatisch die Bude einrennen. Das gilt für FHs und Universitäten genauso wie für Unternehmen. Wenn ich Diversität erreichen will, muss ich mir überlegen: Wo sitzen denn die guten Leute? Sind sie auf Social Media? Muss ich als Universität, als Institution, als FH vielleicht auch einen TikTok-Account haben? Oder einen bei Instagram, LinkedIn, und wen kann ich da als Personal Brand aufbauen?
Menschen folgen Menschen. Es gilt, Leute aufzuzeigen, die bereits da sind und sich als Ambassadors für die jeweilige Institution eignen. Ich muss dahin, wo die Talente sind. Nochmals – dazu muss ich mir genau überlegen: Wen möchte ich erreichen und wo sitzen diese Leute? Sind das Communitys, sind das Vereine, Verbände, Netzwerke? Ja, dann überlegt mal! Recherchiert ein bisschen! Bewegt euch!
Man muss also verstehen, die neuen Medien zu bedienen. Aber wie geht man es sonst noch an an?
Ich bin eine große Befürworterin von Talent- und Empowerment-Programmen. Noch viel stärker aber brauchen wir die Männer, die sagen: „Was kann mein Beitrag sein, nicht als Verursacher des Problems gesehen zu werden, sondern als Teil der Lösung?“ Wenn die anfangen würden, in Charge zu gehen, dort wo es Ungerechtigkeiten, sexistische Sprüche, Gender-Pay-Gap oder Teilzeitthemen gibt, hätte das einen viel stärkeren Multiplikationseffekt als wenn immer nur die Frauen für sich einstehen müssen. Es sind die Männer, die in den Führungsebenen überwiegen, daher sind sie es, die die Tische diverser besetzen müssten. Das wäre das große Ding.
„Man muss das System reparieren und nicht die Frauen“, sagen Sie im Podcast von „Female Finance“. Wo kann man sofort ansetzen, wo geht es leicht, wo geht es schnell und effektiv?
Jeder CEO müsste sich einer Diversity-Strategie verschreiben! So, wie ich mich als CEO oder Geschäftsführerin eines Unternehmens hinsetze und überlege, was ist die Innovationsstrategie meines Unternehmens, wie viel Rendite Umsatz möchte ich machen – genauso muss sofort das Thema kommen: Und wie divers soll mein Unternehmen aussehen? Wenn es noch nicht so ist, woran liegt dies und wie kann ich es verändern?
Diversität ist der Treiber für Erfolg und Innovation, das zeigen zahlreiche Studien. Aber es haben nur jene die Macht, etwas zu verändern, die die Entscheidungen treffen. Deswegen sage ich das immer, und wir sehen es auch in unserer Diversity-Beratung: Wenn sich die Entscheidungsträger – ich gendere jetzt bewusst nicht – immer darauf zurückziehen, indem sie sagen, jetzt machen wir mal ein nettes Frauennetzwerk-Event oder schwingen die Regenbogenflagge – so ist das nicht echte und gelebte Vielfalt, sondern Schaufenster-Diversität.
Als Unternehmen divers zu sein bedeutet, dass ich auch harte Entscheidungen treffen muss. Dass ich mir eine Quote setzen muss und dass ich die Quote durchziehe. Ich glaube, dass viele Entscheidungsträger hier einfach zu wenig mutig sind.
Ein anderer Satz von Ihnen: „Ohne Diversität keine Digitalisierung. Ist das Produkt nicht divers, ist es marktwirtschaftlich nicht sinnvoll.“ Das ist logisch und naheliegend und wird erstaunlich wenig beachtet. Was ist die Ursache? Von der Logik her müsste man sich doch denken: Klar, mein Produkt muss die andere Hälfte genauso …
… erreichen. Ich glaube, das liegt auch daran, dass der Diskurs bei Diversität sehr aktivistisch geprägt ist. Dadurch hat er in der Wirtschaft nicht die Durchdringung, die es bräuchte. Denn in der Wirtschaft sitzen nun mal Menschen, die nach klaren KPIs gehen und sich überlegen: Ist das eine gute Business-Entscheidung, ja oder nein? Im nächsten Schritt gehen die Entscheidungsträger dann auf Social Media und platzieren das Diversity-Thema rein in die aktivistische Bubble, ohne es jedoch in ihre Unternehmenskultur zu implementieren.
Es gibt das berühmte Seifenspender-Beispiel aus den USA: Ein Unternehmen hat einen automatischen Seifenspender auf den Markt gebracht. Das Problem war bloß, dass bei schwarzen Personen keine Seife rauskam. Das Produkt war faktisch für eine relevante Zielgruppe nicht bedienbar. Damit war es ökonomisch nicht sinnvoll. Daran sieht man: Durch fehlende Diversität entsteht auch fehlendes Business. Deswegen sage ich immer wieder: Jedes Unternehmen, das sich des Themas nicht annimmt, wird in den nächsten Jahren einfach vom Markt verschwinden. Derzeit unterschätzen das noch ganz viele CEOs und Geschäftsführer.
Abschließend – was war seit der Gründung der Digital Women für Sie der schönste Erfolg?
Es ist nicht nur, dass wir ein Team von 22 Leuten sind, dass mein Mann und ich es geschafft haben, erfolgreich ein Unternehmen aufzubauen und durch die Krise zu führen und die Unternehmerkultur in Deutschland mitzuprägen. Es ist auch meine persönliche Wirksamkeit. Wenn du weißt, dass du das Leben von Menschen positiv veränderst, ist das der beste Job, den man haben kann. Dass da jemand an seinem Handy sitzt und irgendeinen Spruch, den ich teile, sieht, und denkt: Ok, das macht mir Mut.
Der schönste Erfolg ist, wenn ich in Offenburg vor einer Halle stehe, in die ich gleich hineingehe, weil ich dort eine Keynote halte, und ein junges Mädchen mit türkischen Wurzeln zu mir kommt und sagt: „Tijen, du hast mir gezeigt, dass ich alles werden und schaffen kann, was ich möchte“.
Über Tijen Onaran:
Tijen Onaran ist Unternehmerin, Investorin, Bestseller-Autorin und eine der wichtigsten Meinungsmacherinnen Deutschlands, wenn es um Diversität, Sichtbarkeit und Digitalisierung geht. Sie ist Gründerin des Unternehmens Global Digital Women und der Diversity-Beratung ACI Consulting – dem führenden Beratungsunternehmen Deutschlands in Diversitätsfragen. Mit Global Digital Women unterstützt sie Konzerne und Mittelständler bei der Konzeption und Umsetzung von Female-Empowerment-Kampagnen, und mit ACI berät sie Unternehmen in allen Fragen rund um Diversität und Gleichberechtigung.
Global Digital Women und ACI gewannen jeweils als erste Unternehmen mit Diversitätsfokus den Deutschen Exzellenzpreis. Mit dem Digital Female Leader Award rief Tijen außerdem den bedeutendsten Award für weibliche digitale Nachwuchs- und Führungskräfte ins Leben. Am 11. Oktober ist ihr neues Buch „Be your own f*cking hero: Trau dich, weil du es kannst“ in Zusammenarbeit mit sheconomy Deutschland Redaktionsleiterin Dagamar Zimmermann erschienen. Des Weiteren ist sie Investorin bei der TV-Show „Die Höhle der Löwen“.
Buchtipp Tijen Onaran:
Tijen Onaran
Be Your Own F*cking Hero
Trau dich, weil du es kannst!
ca. 256 Seiten
ISBN 978-3-442-31727-1
ca. € 18,00 [D] / € 18,50 [A] / CHF 24,90
Goldmann
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