StartBusinessKarriereEin Kopf, (zu) viele Hüte

Ein Kopf, (zu) viele Hüte

Wie das Balancieren unserer Rollen mehr Freiraum schafft als das Streben nach Selbstoptimierung – eine persönliche Reflexion von Mission Female Member Josephine Gerves.

Josephine Gerves ist Co-CEO, Mutter, Ehefrau und noch vieles mehr. Und sie ist etwas müde. Müde von dem Versuch, sich auf die Nachkommastelle zu optimieren, um noch mehr Verantwortung, Aufgaben und Checklisten in einen Tag zu quetschen. Ihre Erkenntnis: Echte Kontrolle bedeutet, aktiv zu entscheiden, welcher Ball runterfällt.

Nur ein paar Stunden mehr

Wie schön wäre es, wenn der Tag vier Stunden länger wäre. Dann hätte ich noch die Spülmaschine ausräumen, mich mehr mit dem Hund beschäftigen und Sport treiben können. Oh, wie viel sportlicher ich doch wäre, hätte der Tag nur ein paar Stunden mehr. 

Aber ohne die zusätzliche Zeit versuche ich den letzten Call zu beenden, gleichzeitig noch zwei E-Mails zu lesen und drei Nachrichten zu beantworten, bevor ich ins Wohnzimmer eile, um meinen Mann zu entlasten. „Hat unsere Tochter schon gegessen? Was ist der Windel-Status? Warum niest sie – bekommt sie eine Erkältung? Wann ist eigentlich der nächste Termin beim Arzt? Schatz, deine Schwester hat bald Geburtstag – was schenken wir ihr? Was essen wir zu Abend? War der Hund schon draußen? Ach Mist, die Wäscherei hat schon geschlossen …“

Ich atme. Ich atme tiefer. Ich atme im Viereck. Ich gehe meine Liste an Prioritäten für den Tag durch und genieße das Bild der vielen grünen Haken an erledigten Aufgaben. Ich atme ein letztes Mal tief durch und setze mich zu meiner Tochter auf die Spieldecke. Diesen Moment habe ich mir verdient, und ich werde ihn genießen. 

Vermeidliche Kontrolle durch Selbstoptimierung

Den Wunsch nach einem längeren Tag trage ich schon lange mit mir. Ich bin Josephine, und ich versuche die Vorstellung kurz zu halten, auch wenn mein Kopf viele Hüte trägt: Ich bin Mutter eines Ende 2022 geborenen Mädchens, ich bin seit mehr als sieben Jahren Ehefrau, und ich bin Co-CEO einer der größten Digitalagenturen Deutschlands. Das sind jedoch nicht die einzigen Rollen, die mich definieren. Ich bin zudem Hundemama, Freundin, Familien-, Partei- und Vereinsmitglied, Coach und vieles mehr.   

Leider muss ich mich, wie alle anderen Menschen auf diesem Planeten auch, mit den uns gegebenen 24 Stunden eines Tages begnügen. Wenn Zeit also keine veränderbare Variable ist – was also tun? Die vermeintliche Lösung liegt nahe. Sie wird in Büchern propagiert und auf Social Media gehypt: Selbstoptimierung. Der Gedanke ist erst einmal schlüssig: Wenn das verfügbare Zeitkontingent quantitativ nicht gesteigert werden kann, muss ich qualitativ mehr aus dieser Zeit herausholen. Die Frage, die sich einem stellt, ist also: Was kann ich an mir, meinen Gewohnheiten und meiner Arbeitsweise so optimieren, dass ich den größten Impact erziele? 

Ein Perspektivwechsel

Bislang war ich ein großer Verfechter der Selbstoptimierung. Über Jahre hinweg optimierte ich weitaus mehr als nur mein E-Mail-Postfach: Ich ging zur Ernährungsberatung, ließ mich regelmäßig coachen und machte Sport, wenn andere noch schliefen. Mein oberstes Ziel war es, nicht nur das meiste aus meiner Zeit, sondern auch das meiste aus mir herauszuholen. Wenn das Leben ein Spiel ist, war Selbstoptimierung mein Cheat Code. 

Dann kam meine Tochter auf die Welt und mein über Jahre mühevoll aufgebautes Kartenhaus der vermeintlichen Kontrolle fiel in sich zusammen. Als ich direkt nach dem Mutterschutz wieder anfing zu arbeiten, stellte ich schnell fest, dass selbst mit den besten Management Skills die Summe der Aufgaben nicht zu bewältigen war. Es waren zu viele Hüte und immer noch nur 24 Stunden.

Radikales Umdenken war nötig, ansonsten würde ich nicht nur nie wieder schlafen, ich würde auch die kostbaren ersten Jahre mit meiner Tochter nicht genießen können. Folgende Erkenntnisse kamen schnell und hart:

  1. Selbstoptimierung allein macht nicht glücklich, mich zumindest nicht. Der reine Fokus auf einen selbst lässt außer Acht, dass die Welt um uns herum völlig chaotisch ist und wir nur ein kleiner Stern im Gesamtkosmos des Lebens sind. 
  2. Ich möchte im Spiel des Lebens keine Abkürzung nehmen. Ich möchte die volle Experience. Anstatt mich zu fragen, wie ich an einem Tag noch mehr E-Mails beantworten kann, versuche ich mich eher zu fragen, welche Balance an Rollen heute für mich wichtig ist. 
  3. Maximale Selbstoptimierung grenzt oft an Selbstgeißelung: Die nächsten 2 Stunden kein Blick aufs Handy. Die nächsten Wochen kein Wein am Abend. Nie wieder Brot. Natürlich ist Social Media ein Zeitfresser. Und gegen gesunde Ernährung ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber ist das Leben nicht zu kurz für all die Regeln? Was passiert eigentlich, wenn wir hin und wieder mal nicht so streng mit uns sind?

Seit der kurzen Neukalibrierung bin ich mit mir wieder völlig im Reinen. Im Alltag hilft es mir, mir selbst sehr regelmäßig die folgenden Fragen zu stellen: 

  1. Welche Rolle habe ich in letzter Zeit vernachlässigt, und wie geht es mir damit?
  2. Was sind die wichtigen Dinge, die ich erledigen muss, um meinen Kernrollen gerecht zu werden? 
  3. Welche zusätzliche Aktion (vom Anruf beim Schwiegervater bis hin zur Planung einer Baby Shower für die beste Freundin) möchte ich heute in meinen Tag integrieren, um mich gut zu fühlen?
  4. Von welchen Aufgaben fühle ich mich getrieben? Was ist dringend, aber nicht wichtig? Was kann ich delegieren?

Ich finde mit den Antworten auf diese Fragen immer wieder Fokus und Ruhe. Ich versuche nicht, jede meiner Rollen jederzeit zu 100 Prozent auszufüllen. Stattdessen priorisiere ich die Aufgaben meiner Kernrollen und stelle sicher, dass in Summe eine Balance besteht. Wenn meine Freunde die vergangenen zwei Wochen zu kurz gekommen sind, schicke ich heute allen eine Sprachnachricht und sage ihnen, was mir ihre Geduld mit mir bedeutet.

Es tat noch nie so gut, Bälle fallen zu lassen

Aus den oben aufgelisteten Fragen ergibt sich nicht nur mein Angriffsplan für den Tag, es ergibt sich eine Logik, die es mir erlaubt, sehr schnell zusätzlich aufkommende To-dos zu bewerten. Zudem ermöglicht mir diese Herangehensweise transparent zu machen, welche Aufgaben ich wahrscheinlich nicht oder nicht vollständig erledigen kann und welche eigene und fremde Erwartung ich nicht erfüllen werde. Und nachdem diese Erkenntnis einen Moment sacken konnte, kommt der magische Moment. 

Dann kann ich mit Ehrgeiz auf die mentale Liste der Dinge blicken, die ich ambitioniert priorisiert habe. Dann kann ich mich mit Fokus den mir wichtigen Aufgaben widmen und somit ein Gleichgewicht meiner Rollen herstellen. Und dann kann ich am Abend mit Stolz auf den Tag zurückblicken und mich darüber freuen, was ich alles geschafft habe. Diese positiven Gefühle sind viel mächtiger als die kleine, verführerische Stimme, die mir sagt, ich hätte aber auch alles schaffen können. Zum Glück weiß ich, dass die Stimme lügt. 

Das große Ganze

Es wäre gelogen zu behaupten, Methodiken zur Selbstoptimierung fänden bei mir keine Anwendung mehr. Trainiertes ist über Jahre hinweg in Routine übergegangen ist und so nehme ich viele Techniken der Selbstoptimierung gar nicht mehr als solche wahr. In meinem Kleiderschrank finden sich noch immer Kleidungsstücke, die ich in bis zu 5-facher Ausführung besitze. Und ja – ich lege mir das Outfit für den kommenden Tag bereits am Vorabend raus. Warum? Damit ich am Morgen mit einem frischen Kopf so wenig „unnötige“ Entscheidungen wie möglich treffen muss. Diese Gewohnheiten gehören inzwischen zu mir.

Wir alle wollen das meiste aus dem Tag, aus dem Jahr, aus dem Leben herausholen. Auch gegen das Streben, ein gesunder und erfolgreicher Mensch zu sein, ist nichts einzuwenden. Ich persönlich halte Selbstoptimierung jedoch für nur eines der Werkzeuge. In unserem Werkzeugkasten für ein glückliches Leben dürfen vor allem Selbstliebe, ein flexibles Mindset und regelmäßige Selbstreflexion nicht fehlen. Mit steigender Selbstsicherheit und der Fähigkeit, auch große Aufgaben zu (de-)priorisieren merke ich, wie Selbstoptimierung immer häufiger im Werkzeugkasten ruht. Denn ich bin gut, so wie ich bin. Ich schaffe eine Menge. Und das Fallenlassen von ein paar wenigen Bällen zugunsten derer, die ich dafür bravourös vor mir herjongliere, zugunsten meiner mentalen und körperlichen Gesundheit, hat sich noch nie so gut angefühlt. Ich lade euch ein, es selbst auszuprobieren. Lasst uns weniger streng mit uns sein. Wir sind bereits großartig genug!


Über die Person

Josephine Gerves, 35, blickt bereits jetzt auf eine eindrucksvolle Karriere in der Agenturbranche zurück: sie war u. a. Teil des deutschen Management-Teams bei Havas und Managing Director & Partner bei DEPT. Im April 2023 wechselte Josephine Gerves als Chief Client Officer zu Digitas Pixelpark, eine der größten Digitalagenturen in Deutschland, und wurde nach nur fünf Monaten zum Co-CEO ernannt. Die Hamburgerin ist Mitgründerin des Meta Festivals, der größten Marketingkonferenz im Metaverse. Das Branchenmagazin W&V zählte sie 2021 zu den „100 Köpfen, die bewegen” und 2022 zu den „Top 10 Metaverse People to Follow“.

Mission Female GmbH

Mission Female bietet erfolgreichen Frauen ein exklusives Netzwerk von Vertrauen und Austausch auf Augenhöhe und stärkt sie aktiv bei ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Dabei engagiert sich das 2019 von Frederike Probert gegründete Business-Netzwerk aktiv für mehr Female Power in Wirtschaft, Gesellschaft, Medien, Kultur, Sport und Politik und vereint erfolgreiche Frauen branchenübergreifend auf höchster Ebene mit einem Ziel: Gemeinsam beruflich noch weiter voranzukommen. Immer persönlich, vertraulich und verbindlich ganz nach dem Motto #strongertogether.

https://www.missionfemale.com/ 

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