Sie erfinden in Ihrer Arbeit gern Trendwörter. Was hat es mit der „Kindness Economy“ auf sich, zu der Sie forschen und ein aktuelles Buch veröffentlicht haben?
Vielleicht klingt die Entwicklung von Trendwörtern zunächst banal. Aber aus meiner Sicht geben sie Menschen einen Rahmen, eine Identifikation. Für Kindness Economy haben wir kein deutsches Wort gefunden. Der Begriff regt jedoch zum Nachdenken an, denn Kindness wird selten mit Wirtschaft in Verbindung gebracht. Was die Kindness Economy auszeichnet, ist die Betonung von Zugewandtheit, Anerkennung und Großzügigkeit. Die Kindness Economy geht dabei über das traditionelle Verständnis von Wirtschaft hinaus. Es ist nicht nur ein Trendwort; es ist eine Bewegung, die dazu aufruft, Wirtschaft und Menschlichkeit nicht als Gegensätze zu sehen. Adam Smith sprach bereits im 18. Jahrhundert von einer Wirtschaftsform, die Profit macht, aber dennoch auf das Wohl der Menschen achtet. Was wir heute brauchen, ist eine Wirtschaft, die sich bewusst ist, dass nachhaltiger Erfolg nur möglich ist, wenn wir auch sozial nachhaltig handeln.
Sie haben das Konzept nicht nur übernommen, sondern auch erweitert. Wie genau?
Ich habe den Begriff aus einem Buch von Mary Portas, einer englischen Retail-Beraterin, übernommen und versucht, ihn auf breitere gesellschaftliche Kontexte anzuwenden – nicht nur auf das Geschäftsleben, sondern auch auf Staaten, Lebensstile und die Arbeit selbst. Es geht darum, das Konzept so zu erweitern, dass es weitreichendere Implikationen hat immer vor dem Dreiklang: People, Planet, Profit.
Das klingt gut. Aber können wir uns das vor dem Hintergrund des wachsenden globalen Wettbewerbs überhaupt leisten, wenn internationale Konzerne und viele andere Länder alles andere als „kind“ agieren?
Wir sehen viele Unternehmen, die Probleme mit dem Fachkräftemangel haben und deshalb nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir sehen, dass wir weiter konsumieren und bauen wollen. Aber wir sollten es anders machen und den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Ohne soziale Nachhaltigkeit auch keine ökologische Nachhaltigkeit. Und motivierte Menschen sowie diversere Arbeitskulturen bringen auch mehr Innovation und Profit.
Warum sehen Sie gerade jetzt einen möglichen Wandel hin zur Kindness Economy oder sogar das Potenzial für ein neues Wirtschaftswunder und eine Revolution, wie Sie schreiben?
Um ehrlich zu sein, sehe ich gerade den Höhepunkt der „Unkind“ Economy. Wir stecken in einer Arbeitswelt, die noch immer zuerst nach mehr Profit strebt, nach immer mehr Effizienz statt Effektivität. Das schreckt viele Frauen ab. Dabei brauchen wir sie dringender denn je im Arbeitsmarkt. Wir brauchen mehr Männer, die das verstehen. Auch deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Ich sehe, dass sich inzwischen mehr Frauen für Ökologie und Technik interessieren. Dass sich immer mehr Unternehmen um ihre Belegschaft und Mental Health kümmern. Und es gibt nach Corona ein neues Bewusstsein für das Zwischenmenschliche, als Gegentrend zum rein Digitalen. Wir brauchen einen Reset, und die Krise ist der beste Zeitpunkt, um neu zu denken.
Es hat lange gedauert, bis wir Frauen uns im Wirtschaftsleben erlaubt haben, nicht immer nett zu sein. Ist die Kindness Economy hier nicht sogar ein Rückschritt und bedient alte Klischees?
Die Kindness Economy geht weit über bloße Freundlichkeit hinaus. Und ich glaube auch nicht, dass Frauen so viel netter sind. Es handelt sich vielmehr um eine Wirtschaftsweise, die bewusst auf die Bedürfnisse von Menschen eingeht – seien es Mitarbeitende, Kund:innen oder die Gemeinschaft. Wir müssen verstehen, dass Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit sich gegenseitig verstärken. Zum Beispiel reden wir derzeit zu viel über die ökologische Nachhaltigkeit. Die ist wichtig, keine Frage. Aber wenn Beschäftigte unzufrieden und überfordert sind, wenn sie im Job schlecht behandelt werden – werden sie dann wirklich rausgehen und sich für Klimaschutz einsetzen? Die skandinavischen Länder haben bessere Arbeitsbedingungen und sind auch ökologisch viel weiter.
Sie haben in Ihrem Buch umfangreich über dieses Thema geschrieben. Was
motiviert Sie besonders an diesem Konzept?
Mich motiviert die Möglichkeit, nachhaltige Veränderungen zu schaffen. Wir leben in einer Zeit großer sozialer und ökologischer Herausforderungen. Die Kindness Economy bietet einen Rahmen, in dem wir wirtschaftliche Aktivitäten so gestalten können, dass sie nicht nur ökonomisch sinnvoll sind, sondern auch sozial förderlich.
Was hätten speziell Frauen davon?
Besonders für Frauen sehe ich hier großes Potenzial, da dieser Ansatz erlaubt, traditionelle Arbeitsbedingungen, die oft noch sehr männlich geprägt sind, aufzubrechen. Das Konzept der Kindness Economy könnte aus meiner Sicht der Schlüssel zu einer gerechteren und nachhaltigeren Wirtschaft sein.
„Frauen sollten diese Gelegenheit nutzen, um Arbeitsbedingungen nach ihren Bedürfnissen zu schaffen.“
Welche konkreten Veränderungen sehen Sie bereits auf dem Markt? Wo wird dieser Ansatz schon erfolgreich umgesetzt?
Es gibt viele Start-ups und mittelständische Unternehmen, die diesen Ansatz bereits verfolgen. Ein gutes Beispiel ist der Outdoor-Ausrüster Patagonia – ein Unternehmen, das schon in den 1970er Jahren großen Wert auf das Wohlbefinden der Mitarbeitenden und auf ökologische Nachhaltigkeit gelegt hat. Übrigens war der Gründer Yvon Chouinard auch begeisterter Surfer und hat seinen Leuten erlaubt, in die Wellen zu gehen, wenn sie gut waren. Der Profit wuchs trotzdem kontinuierlich. Chouinard hat inzwischen sein Vermögen in eine Stiftung und eine gemeinnützige Organisation übergeben.
Auch in anderen Branchen bewegt sich etwas. Es gibt ein deutsches Restaurant im Schwarzwald, das den Beschäftigten mehr Flexibilität bietet, mehr freie Wochenenden und Tage und die Zusicherung: Der Chef schreit in der Küche nur, wenn ihm etwas auf den Fuß fällt. Oder die Supermarktkette in Holland, die Kassen hat, an denen es explizit Zeit gibt, miteinander zu reden. In China gesteht das Unternehmen Pang Dong Lai den Mitarbeitenden „Unhappiness Leave“ zu. Auch in traditionelleren Unternehmen und in familiengeführten Betrieben beginnt aus meiner Beobachtung ein Umdenken, oft angestoßen durch jüngere Generationen, die andere Werte in die Arbeitswelt einbringen.
Wie lassen sich die Prinzipien der Kindness Economy in traditionellen Unternehmen einführen?
Wir brauchen andere Narrative für Firmen. Wenn wir an die Zukunft denken, tun wir das meist von der Gegenwart aus – das ist eine Prognose. Was uns hilft, ist ein Storytelling, das uns ermöglicht, ein anderes Bild zu schaffen. Zum Beispiel der Gedanke: Wie soll unser Unternehmen in 20 Jahren aussehen? Wir stellen uns die Zukunft vor und denken rückwärts in die Gegenwart. Wir sollten stärker vom Ergebnis her denken. Damit meine ich nicht den Profit, sondern zum Beispiel: 2040 wollen wir 50 Prozent weibliche Talente eingestellt haben – was brauchen wir dafür? Welche Entscheidungen müssen wir heute dafür treffen? Oder wie sehen die Arbeitskultur und das Büro aus?
Insgesamt geht es immer um einen besseren Dialog mit den Menschen, etwa mit der Einstellung eines Chief Happiness Officer oder Chief Kindness Officer. Natürlich ist es nicht möglich, alle und zu jeder Zeit in einem Unternehmen glücklich zu machen. Aber ein offenes Arbeitsklima zu schaffen, das ist möglich. Auch hier helfen ein neues Storytelling und eine neue Perspektive: Wie muss die Firma aussehen, damit auch die Kinder meiner Beschäftigten gern hier arbeiten möchten?
Wie lässt sich der Erfolg von Kindness Economy messen?
Ein wichtiger Schritt wäre die Einführung von sogenannten Kindness Performance Indicators. Kindness für sich ist sehr schwer zu messen, aber: Ähnlich den bekannten KPIs könnten wir neue Kennzahlen einsetzen, die messen, wie gut ein Unternehmen in Bezug auf soziale Verantwortung und Mitarbeiterzufriedenheit abschneidet. Unternehmen müssten dann nicht nur ihre finanziellen Leistungen, sondern auch ihren Beitrag zum sozialen Wohl offenlegen.
Es gibt bereits entsprechende Zertifikate, aus meiner Sicht liegt hier die Zukunft. Nehmen wir das Beispiel Benefit Corporation, kurz B Corp. Das ist ein internationales Zertifikat, mit dem die Non-Profit-Organisation B Lab Unternehmen für ihre sozialen und ökologischen Auswirkungen auszeichnet. Diese Unternehmen müssen ihre Anstrengungen regelmäßig transparent machen.
Sehen Sie gesetzliche Änderungen, die notwendig wären, um die Kindness Economy weiter voranzutreiben?
Ja, definitiv. Wir brauchen Gesetze, die Unternehmen nicht nur zu ökologischer, sondern auch zu sozialer Nachhaltigkeit verpflichten – als Äquivalent hin zum Menschen. Die ESG-Kriterien bringen hier einen wichtigen Schub. Aber es ist noch weitaus mehr möglich: In Schweden etwa gibt es eine Wellbeing-Allowance: Unternehmen bieten eine steuerfreie Sozialleistung, die ihren Mitarbeitenden Zeit und Ressourcen für persönliches Wohlbefinden ermöglicht. Sie muss laut Gesetz allen Arbeitnehmenden, unabhängig von der Beschäftigungsform, zu den gleichen Bedingungen angeboten werden. Solche Maßnahmen könnten einen großen Unterschied machen.
Nach Corona scheinen viele Menschen noch aggressiver, noch einsamer zu sein. Wie lässt sich dieser Trend wieder drehen?
Jeder Trend erzeugt auch einen Gegentrend, wie bereits beschrieben. Ja, wir haben ein großes Problem mit Wut, Aggression, Unkindness – aus meiner Sicht getrieben von Social Media – und eine „Profit before People“-Kultur. Diese Normalisierung von Unkindness dürfen wir nicht hinnehmen. Was ich interessant finde, ist die Spaltung in Social Media. Nach der „unkind“ Plattform Twitter versucht Threads, sich hier klar als „kind“ abzugrenzen. So etwas macht mir wieder Hoffnung. Ebenso, dass die stark individualisierte Gesellschaft wieder die Gemeinschaft sucht, etwa in Co-Working oder Co-Living-Spaces. Man sieht die Bewegung hin zu einer individualistischen Gemeinschaft.
„Das Konzept der Kindness Economy könnte der Schlüssel zu einer gerechteren und nachhaltigeren Wirtschaft sein.“
Welche Rolle könnten hier Städte beziehungsweise eine weiblichere Stadtplanung spielen?
Zu lange haben wir uns um Digitalisierung und Technik gekümmert. Wir brauchen Smart Cities – aber das sollte der Hintergrund sein. Vor allem brauchen wir menschliche Städte und Visionen. Zum Beispiel, wie Andrea Gebhard, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer in Deutschland, sagt: Eine Stadt, in der ein vierjähriges Kind allein zum Eisessen gehen kann. Es geht um Lebensqualität und Begegnung. Städte wurden bislang aus der männlichen Perspektive heraus geplant. Aber es sind nicht nur Frauen, die neu denken. Jaime Lerner, der Bürgermeister von Curitiba in Brasilien hat beispielsweise den Begriff „Urban Acupuncture“ geprägt: Schon ein kleiner „Stich“ kann Energie erzeugen und Menschen motivieren, in der Gemeinschaft aktiv zu werden.
Wann waren Sie zuletzt besonders „kind“ im Wirtschaftskontext?
Ich halte unter anderem viele Vorträge und teile mein Wissen oft ehrenamtlich. Außerdem suche ich immer wieder den Dialog zu diesem Thema, um mehr Menschen dafür zu sensibilisieren.
Haben Sie weitere Tipps für Frauen, die in dieser neuen Wirtschaftsform erfolgreich sein wollen?
Ich würde raten, mutig zu sein und neue Wege zu gehen. Die Kindness Economy bietet die Chance, Arbeit anders zu denken. Frauen sollten diese Gelegenheit nutzen, um Arbeitsbedingungen nach ihren Bedürfnissen zu schaffen – für ihr Wohlbefinden und ihre berufliche Entwicklung. Nutzen Sie Netzwerke, bilden Sie Kooperationen und seien Sie Vorreiterinnen in dieser Bewegung.
Wie könnte eine Gesellschaft damit starten?
Wir sollten stärker bei den Kindern ansetzen. Irland macht es vor, hier gibt es Empathie-Unterricht in einem Zwölf-Wochen-Programm. Es gibt sogar eine Prüfung. So lässt sich „Human Potential“ entwickeln und beispielsweise ein anderer Umgang mit Social Media. Solche Programme könnten auch Unternehmen unterstützen.
Zur Person
Oona Horx Strathern (61) ist seit mehr als 30 Jahren als Autorin, Zukunfts- und Trendforscherin und Rednerin tätig. Seit ihrem Studium der Humangeographie geht sie der Frage nach, wie wir in Zukunft leben und arbeiten werden. Als Trendberaterin hat sie für internationale Unternehmen wie BMW, AUDI, Axor und L’Orèal gearbeitet und war vor der Gründung von The Future:Project Geschäftsführerin des Zukunftsinsituts Horx. Sie ist eine führende Stimme in den Bereichen Design, Architektur und Stadtentwicklung und vertritt Themen wie kulturellen und sozialen Wandel. Darüber hinaus setzt sie sich für die Rechte von Frauen ein. Aufgewachsen in Dublin und London, lebt sie heute in einem experimentellen, selbst entworfenen „Zukunftshaus“ in Wien. Erst vor Kurzem hat sie ihre Leidenschaft fürs Surfen entdeckt.
The Future:Project – Transformative Zukunftsforschung
Gegründet im Oktober 2023 als eigenständiges und unabhängiges Unternehmen und Thinktank, ist The Future:Project ein transdisziplinär arbeitendes Expert:innen-Netzwerk aus erfahrenen Trend- und Zukunftsforschenden. Das Team, ehemals beim Zukunftsinstitut tätig, fördert nach eigenen Angaben eine Zukunftsforschung für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – mit einer konsequenten Ausrichtung auf gesamtgesellschaftliches Gemeinwohl, einen konstruktiven gesellschaftlichen Wandel und eine lebenswerte Zukunft. Bei The Future:Project arbeiten auch Oonas Ehemann Matthias Horx sowie die beiden Söhne Tristan und Julian mit.
Buchtipp
In ihrem aktuellen Buch beschreibt die Zukunftsforscherin Oona Horx Strathern die gravierenden Umwälzungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Anhand von Praxisbeispielen aus aller Welt zeigt die Expertin, warum Unternehmen das Kindness-Prinzip gerade jetzt strategisch einsetzen sollten. „Kindness Economy“ von Oona Horx Strathern, Gabal, 224 Seiten. 35,88 Euro.