Wirft man einen Blick auf die generelle Wahlbeteiligung bei Europa-Wahlen, offenbart dies vor allem eines: Die Wähler*innen sind müde. Bei fast allen Ländern zeigt die Stimmenkurve seit Jahren nach unten. Unter den wenigen Herausreißern sind Dänemark, Schweden oder Ungarn. Die Wähler*innen sind aber nicht müde von „ihrer“ Union, in der sie nach wie vor am liebsten Urlaub machen (Italien, Griechenland, Kroatien). Und die sie wohl in jeder ehrlichen Sekunde als die „beste aller Welten“ bezeichnen würden – dankbar in diesem Raum und nicht woanders geboren worden zu sein.
Müde sind sie von einer Politik der Nebenschauplätze, die medienwirksam inszeniert werden, jedoch nichts mit dem Alltag der meisten Bürger*innen zu tun haben. Dazu zählen wochenlange Charakteranalysen diverser Politiker und stumpfsinniger, rechter Döp-Dö-Dö-Döp-Gesang im Suff, der allenfalls seitens des Gerichts verfolgt gehört, jedoch stattdessen von der Politik aufgeblasen wurde, als ob von Sylt aus eine neue Nazi-Massenbewegung ganz Deutschland erfasste. Auf diese Art wurden in den letzten Tagen und Wochen die wichtigen Sachthemen der Union überschattet, die da wären: der „Green Deal“, ambitioniert begonnen, aber zuletzt verwässert; die Agrarpolitik, mit dem Ziel, den Artenschutz voranzutreiben; die drohende Deindustrialisierung des Kontinents; eine nachhaltige Verteidigungsstrategie und – das Migrationsthema. Dazu die Fragen, die die Bürger*innen beschäftigen. Sie lauten in Deutschland der Reihe nach: „Friedenssicherung“, „Soziale Sicherheit“ und „Zuwanderung“. In Österreich führt die „Teuerung“ das Themen-Ranking an, gefolgt von „Zuwanderung“ und „Klimakrise“.
Man darf der Politik nicht Untätigkeit vorwerfen, wenn man selbst „untätig“ bleibt.
Zu all diesen Punkten haben die Wähler*innen in den letzten Wochen – abseits der üblichen Stehsätze – wenig Neues erfahren. Keine realisierbaren Konzepte, kaum konkrete Bilder davon, wie ein sicheres, wettbewerbsfähiges, sozialwirtschaftlich orientiertes, innovatives und in mehrfacher Hinsicht „gesundes“ Europa in Zukunft aussehen könnte. Hier wurde nicht nur wesentliche politische Kommunikation versäumt, sondern auch die Anbindung an die wählende Bevölkerung. Einen ernsthaft bespielten, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen EU-Wahlkampf gab es diesmal nicht.
Es wird kaum möglich sein, dieses Manko bis 9. Juni ausreichend aufzuholen. Was man hingegen vermitteln kann und unbedingt sollte: Es ist Privileg und Ausdruck von Freiheit, wählen zu dürfen. Meine Kollegin Nadia Weiss mahnte etwa in ihrer vorwöchigen Kolumne richtigerweise: „Es ist nicht egal, wenn man seine Stimme nicht nutzt. Wer nicht entscheidet, für den entscheiden andere“.
Und außerdem: Wir Wähler*innen dürfen der Politik nicht Untätigkeit vorwerfen, wenn man selbst „untätig“ bleibt. Deshalb: Nützen Sie Ihre Stimme, gehen Sie wählen. Entgegen des populistischen Narrativs, es würde im EU-Parlament bloß um Bananen- und Gurkenkrümmungen gehen, hat die Stimme, die man Europa gibt, auch Auswirkungen auf die Politik im eigenen Land. Oder, um die 1998 verstorbene, amerikanische Schriftstellerin und Publizistin Martha Gellhorn zu zitieren: „Die Menschen sagen oft mit Stolz: ,Ich interessiere mich nicht für Politik‘. Sie könnten genauso gut sagen: ,Ich interessiere mich nicht für meinen Lebensstandard, meine Gesundheit, meinen Arbeitsplatz, meine Rechte, meine Freiheiten, meine Zukunft oder irgendeine Zukunft.‘ … Wenn wir die Kontrolle über unsere Welt und unser Leben behalten wollen, müssen wir an Politik interessiert sein.“
Siebenmal wird die politische Macht in diesem Jahr in Österreich neu verteilt. Grund genug für sheconomy, um in der aktuellen Ausgabe mit den Frauensprecherinnen der Österreichischen Parlamentsparteien über Erreichtes, Versäumtes und neue Ziele zu sprechen.
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