Frau Evans, was hat Sie dazu inspiriert, ihr Buch „Die Pionierinnen des Internets – Die unbekannte Geschichte der Frauen des digitalen Zeitalters“ zu schreiben?
Die Tatsache, dass es existieren musste. Ich habe viele Bücher über die Geschichte des Internets gelesen und in keinem wurde auch nur eine einzige Frau erwähnt. Intuitiv spürte ich – wie viele andere Leserinnen auch –, dass das nicht die ganze Geschichte sein konnte.
Als ich mit meiner Recherche begonnen hatte, stellte ich schnell fest, dass meine Intuition richtig war. Es gab nicht nur zahlreiche Frauen, die in dieser Geschichte vorkommen, ihre Geschichten waren außerdem genauso fesselnd und historisch betrachtet genauso wichtig wie die Geschichten, die uns über Männer in ihren Garagen im Silicon Valley erzählt wurden. Aus der Perspektive einer Autorin war es eine wahre Goldgrube an Material.
„Männer werden als komplexe Helden dargestellt, und deshalb möchte ich auch Frauen in all ihrer Komplexität repräsentieren.“
Die Geschichte welcher Pionierin hat Sie am meisten beeindruckt und warum?
Das klingt vielleicht etwas widersprüchlich, aber obwohl alle Frauen in diesem Buch beeindruckend sind, ist keine von ihnen „vollkommen“. In meinem Bereich ist es üblich, weibliche Pionierinnen der Geschichte als „badass ladies“ zu reduzieren. Es besteht eine solches Verlangen nach Repräsentation, dass wir uns oft mit etwas Oberflächlichem zufrieden geben – wie zum Beispiel einen Konferenzraum nach jemandem zu benennen.
Männer hingegen werden als komplexe Helden dargestellt, und deshalb möchte ich auch Frauen in all ihrer Komplexität repräsentieren. Selbst wenn eine Generation zum Beispiel ein anderes Verständnis von Feminismus hatte als ich oder wenn sie mit ihren Dämonen zu kämpfen hatten. Natürlich ist es beeindruckend, dass Ada Lovelace die allerersten Computerprogramme der Geschichte geschrieben hat. Aber was mich noch mehr beeindruckt hat, ist, dass sie das trotz ihrer Opiumsucht, ihrer Spielsucht und sich selbst als schlimmster Feindin geschafft hat.
Welche Frau, die an der Entwicklung des Internets beteiligt war, wird Ihrer Meinung nach am meisten unterschätzt?
Eines der Dinge, die ich mit diesem Buch erreichen wollte, war zu zeigen, dass die Entstehung des Internets als Kollektiv geschehen ist. Denn ich glaube nicht, dass das Gegenmittel zu einer Geschichte der „großen Männer“ des Internets einfach eine Geschichte der „großen Frauen“ ist. Es ist eher eine Korrektur, ein Versuch, den Blickwinkel zu erweitern und zu zeigen, wie viele andere Menschen im Raum waren, als diese wichtigen Technologien erdacht, getestet, gebaut und definiert wurden. Große Errungenschaften erschafft man nicht alleine, sondern in einem Kontinuum von Menschen und Ideen.
Dennoch möchte ich eine Frau nennen, von der ich denke, dass sie historisch gesehen unterschätzt wird: Elizabeth „Jake“ Feinler, die im Grunde genommen die Bibliothekarin des frühen Internets war. Sie war sozusagen die erste Suchmaschine. Und dank ihren Bemühungen ist es gelungen, die Struktur des frühen Internets zu organisieren, sodass es sein chaotisches exponentielles Wachstum überleben und sich zu einem weltweiten Informationsnetzwerk entwickeln konnte.
Besteht heutzutage genug Bewusstsein dafür, dass Geschichtsschreibung reflektiert betrachtet werden muss?
Ich denke, es gibt ein wachsendes Interesse an historischen Korrekturen, die den Leser:innen eine neue Perspektive auf die Geschichte geben und vielfältigere Perspektiven einschließen. Teilweise liegt das daran, dass die etablierten Narrative unzureichend sind: Sie erklären nicht, wie wir dorthin gelangt sind, wo wir heute sind, und sie helfen uns nicht dabei, grundlegendste Probleme anzugehen oder zu lösen.
Ich glaube, das liegt aber auch daran, dass die Gegenwart so komplex und überwältigend ist, dass wir nach Antworten in der Vergangenheit suchen. Wir vergessen oft, dass wir gerade selbst Geschichte erleben und dass das wahre Verständnis von Geschichte, wie auch von der Gegenwart, manchmal erfordert, dass wir gleichzeitig mehrere, widersprüchliche Perspektiven einnehmen.
„Wenn Technologien von homogenen Gruppen entwickelt werden, dann sind sie einfach nicht gut.“
Die Tendenz ist zwar steigend, aber noch immer ist die Workforce im Bereich KI wenig divers. Das bedeutet auch, dass bei der Entwicklung zahlreiche Menschen nicht mitbedacht werden. Warum ist das Sichtbarmachen von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen in der Geschichte für eine zukünftig diversere Gesellschaft so wichtig?
Im Grunde genommen geht es ja darum, Dinge zu kreieren, die tatsächlich funktionieren. Wenn Technologien, Plattformen oder Systeme von homogenen Gruppen entwickelt werden – wie es so oft der Fall war und heute immer noch oft der Fall ist –, dann sind sie einfach nicht gut. Diese homogenen Gruppen können Probleme oft nicht vorhersehen, die für Menschen außerhalb ihrer Blase offensichtlich sein könnten.
Deshalb haben wir zum Beispiel das große Problem mit Mobbing auf Social-Media-Plattformen: diese Plattformen wurden nicht von Menschen mitentwickelt, die Erfahrungen mit gezielter Belästigung oder Hassrede gemacht haben. Sie haben bei der Entwicklung nicht einmal an Schutzmechanismen gedacht. Und sie haben nicht darüber nachgedacht, wie ihre Plattform für Menschen sein würde, die nicht wie sie selbst sind. Heute müssen wir mit den Folgen davon leben.
Warum ist es wichtig, Frauen in der Geschichte sichtbar zu machen, um Innovationen zu fördern?
Ganz einfach: es wird mehr Frauen dazu inspirieren, am Technologiebereich teilzuhaben. Wenn Frauen und Mädchen sich selbst in der DNA einer der bahnbrechendsten Technologien des Jahrhunderts wiedererkennen, können sie sich auch leichter in deren Zukunft vorstellen. Mit dem Wissen, dass es schon vor ihnen Generationen von technikbegeisterten Müttern, Großmüttern und sogar Urgroßmüttern gegeben hat.
Und ich bin der Meinung, dass das Sichtbarmachen von Frauen in der Geschichte des Internets dessen ganze Geschichte wieder zum Leben erweckt, was uns auch hilft zu verstehen, dass Geschichte dynamisch ist. Sie ist nicht in Stein gemeißelt. Und viele Dinge, die wir als selbstverständlich oder als unabänderlich betrachten, sind wieder offen für Interpretationen, Überarbeitungen und Neugestaltungen.
„Die leisen Menschen, Männer sowie Frauen, tun oft die eigentliche Arbeit.“
Was können wir heute tun, um sicherzustellen, dass die bemerkenswerten Frauen der Gegenwart auch in Zukunft als solche repräsentiert werden?
Wir müssen den leisen Menschen zuhören. So viele prominente und einflussreiche Persönlichkeiten in der Technologie-Branche – also diejenigen, die normalerweise in Geschichtsbüchern landen – sind diejenigen mit dem Megafon, die bereit sind, vor allen anderen hervorzutreten und allen zu zeigen, warum sie wichtig sind. Aber nicht jeder hat die Veranlagung oder die Bereitschaft, das zu tun. Das kostet auch viel Zeit, die vielleicht besser dafür genutzt werden könnte, Neues zu entwickeln. Die leisen Menschen, Männer sowie Frauen, tun oft die eigentliche Arbeit. Und wenn wir kein Licht auf sie werfen, werden sie vergessen.
Über das Buch:
Die IT-Welt gilt als Männerdomäne: Bekannte Größen wie Konrad Zuse, Steve Jobs oder Bill Gates haben mit ihren technologischen Errungenschaften die digitale Revolution entfacht. Claire Evans zeigt, dass dies jedoch nur ein Teil der Wahrheit ist und auch weibliche Visionäre schon immer an der Spitze wichtiger Technologiewellen standen. Sie beschreibt anhand von Porträts vieler Pionierinnen der Technik, dass es keineswegs nur die Männer waren, die die Computerwelt dominierten. Von Ada Lovelace, die im viktorianischen Zeitalter das erste Computerprogramm zu Papier brachte, oder der Mathematikerin Grace Hopper, die während des Zweiten Weltkriegs die Demokrhatteatisierung des Computerwesens vorantrieb – dieses Buch ist eine Hommage an die Frauen, die als unbesungene Heldinnen der Informationstechnologie das Internet zu dem gemacht haben, was es heute ist.
Über Claire L. Evans:
Claire L. Evans ist Schriftstellerin, Musikerin und Gründerin von Terraform, dem Science-Fiction-Vertical von »VICE«. Sie schrieb für »Motherboard« und »National Geographics« populärwissenschaftlichen Blog »Universe«. Heute schreibt sie außerdem für »VICE«, »The Guardian«, »WIRED« u. a. und berät Designstudenten am Art Center College of Design.