Anna Trost:Liebe Frau Oberzaucher, vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen. Aus der Sicht der Verhaltensbiologie, wie verhält sich der Mensch während der Corona Krise?

Elisabeth Oberzaucher: Okay, das ist eine große Frage (lacht). Normalerweise gleichen wir in der Verhaltensbiologie das Verhalten der Menschen gerne mit dem Verhalten in einer ähnlichen Situation aus der Vergangenheit ab, um einen Richtwert zu bekommen, wohin die Reise gehen könnte. Das wäre bei unserer momentanen Situation allerdings ein Fehler. Warum? Weil wir heute vermehrt in einer städtisch-organisierten und weltweit vernetzten Welt leben. Dadurch ist die Ausbreitung eines Virus wie Covid-19 schneller geschehen als zu Zeiten, in denen wir noch in landwirtschaftlichen Kleingruppen gelebt haben. Ein zweiter Grund ist unser generell sehr hoher Bildungsstatus. Wir wissen, was Viren sind, wie wir die moderne Medizin dagegen einsetzen und die Wissenschaft zu unserem Vorteil nutzen können. Gerade weil wir im Zuge des Virus nicht auf die Evolutionsgeschichte zurückgreifen können, fällt es uns allerdings ziemlich schwer, die Maßnahmen umzusetzen.

Viele Menschen neigen also dazu, Verschwörungstheorien zu glauben oder auf Fake News reinzufallen. Auch das lässt sich gut erklären. Wenn wir keinerlei Erfahrung zurückgreifen können, sprengt es unsere Vorstellungskraft. Das führt zu Orientierungslosigkeit. Grob konnten zwei Verhaltensweisen beobachtet werden: Die eine Gruppe vertraut auf das Fachwissen der Expertinnen und Experten, was zu mehr Faktenwissen führt, bessere Orientierung ermöglicht und die Pandemie besser in den Griff bekommen lässt. Die andere Gruppe unterzieht sich freiwillig den Fehlleitungen des Bauchgefühls. Sie dürfen mich hier nicht falsch verstehen, kritisch sein ist wichtig, nur darf kritisch sein und auf das eigene irrationale Bauchgefühl zu hören, nicht verwechselt werden. Was der konkrete Nachteil ist? Wenn auf das Bauchgefühl anstatt auf die Fakten gehört wird, betrifft das irrationale Verhalten in einer Pandemie nun mal alle.

Elisabeth Oberzaucher © Ingo Pertramer

Anna Trost: Menschen, die sich in dieser Situation auf ihr Bauchgefühl verlassen wollen, empfinden die Maßnahmen als Bevormundung. Was sagen Sie dazu?

Elisabeth Oberzaucher: Grundsätzlich tendieren wir schon dazu, Menschen mehr Vertrauen zu schenken, die wir kennen. Bei ihnen empfinden wir es auch nicht so schnell als Bevormundung, wenn uns etwas gesagt wird. Gut zu sehen ist das zum Beispiel daran, wie schnell Freunden auf Social Media bei der Verbreitung von Fake News geglaubt wurde, nur weil jemand behauptet hat, jemanden zu kennen, der gesagt hat, dass … In der Wissenschaft lässt sich Ihre Frage ganz einfach erklären. Wie wir bereits wissen, haben wir früher in Kleingruppen zusammengelebt. Durch die Zugehörigkeit einer Gruppe konnten wir uns selbst besser davor schützen angelogen zu werden. Bevormundet fühlt sich diese Personengruppe nun also von einem Maßnahmenkatalog, der von Unbekannten erstellt wurde. Nur leider ist das in der heutigen Zeit eine Fehlleitung unseres Bauchgefühls, wie wir durch die rasante Verbreitung der Fake News in unserem Umfeld alle beobachten konnten. Dieser und viele anderen Gründe zeigen uns immer wieder, warum wir in solchen Angelegenheiten auf Fakten und nicht den Hausverstand oder das Bauchgefühl setzen müssen.

Anna Trost: Wie können wir also die Vertrauenswürdigkeit in Expertinnen und Experten verstärken?

Elisabeth Oberzaucher: Schlussendlich dreht sich alles um die Art und Weise wie wir miteinander sprechen. Die richtige Wahl der Kommunikationsstrategie ist entscheidend. Zum Beispiel: Wenn mir etwas so erklärt wird, dass ich es auch verstehe, dann steigt meine Akzeptanz gegenüber dieser Information und ich fühle mich auch nicht entmündigt. Auf der anderen Seite, wenn mir alles ohne Erklärung nur vorgeschrieben wird, dann regt sich in meinen Augen fast schon zurecht das schlechte Gefühl der Bevormundung. Manche Regierungen nutzen solche überheblichen Kommunikationsstrategien. Wie gesagt, da wird der Widerstandsgedanke nachvollziehbar. Der Fehler an dieser Stelle ist allerdings, dass die Maßnahmen an sich gut und richtig sind, angezweifelt gehört eher die Art, wie sie kommuniziert werden. Beobachten Sie, wer welche Kommunikationsstrategien anwendet. Es könnte Ihnen dabei helfen zu entlarven, wem Sie vertrauen möchten und wem nicht.

Anna Trost: Es wird momentan viel darüber debattiert, ob die Corona-Krise die Frau* wieder zurück an den Herd bringt. Sehen Sie in all diesen Entwicklungen auch ein Risiko im Gleichstellungsprozess der Geschlechter?

Elisabeth Oberzaucher: Hm, ich denke nicht, dass der Rückschritt so drastisch sein wird. Zu glauben, dass wir allerdings genau da weiter machen können, wo wir auf dem Weg zur Gleichstellung vor Corona aufhören müssten, ist genauso unwahrscheinlich. Warum? Zuvor waren wir »auf dem Weg« zur Gleichstellung, das heißt, es war immer noch ungleich. Sollte es nach der Corona Krise also auch zu einer befürchteten Wirtschaftskrise kommen, so wird es einen scharfen Kampf um die wenigen freien Arbeitsplätze geben. Wer dann die Stellen bekommt könnte, müssen Sie sich selbst überlegen.

Anna Trost: Ich hätte da noch eine Frage zur menschlichen Psyche. Wie wirkt sich die Isolation in Ihren Augen eigentlich darauf aus?

Elisabeth Oberzaucher: Das kann sich vielseitig zeigen. Grundsätzlich alles von depressiven Verstimmungen hin bis zu einer echten Depression. Interessanterweise verlieren wir auch sehr schnell unseren Rhythmus, wenn wir keine anderen Menschen in unserem Alltag haben. Das liegt daran, dass sie normalerweise unseren Tag mit-takten. Ohne unsere Mitmenschen kommt es zu einem »Freilauf der inneren Uhr«. Diese »freilaufende Uhr« hat plus minus 24 Stunden, wodurch wir uns immer weiter vom Takt der Außenwelt entfernen. Andere Auswirkungen können auch verschiedene Formen von Antriebslosigkeit und »Sich-Gehen-Lassen« sein. Wichtig zu unterscheiden ist hier einfach, dass wir uns dank virtueller Plattformen immerhin »nur« körperlich distanzieren mussten. Fatalere Folgen hätte ganz klar eine soziale Distanz, also gar kein Kontakt zu anderen, gehabt.

Anna Trost: So, dann sind wir auch schon bei meiner letzten Frage. Wie sehen Sie den Widerspruch rund um den Begriff »Solidarität«? Zuhause den Nachbarn helfen und draußen der Oma das Klopapier wegschnappen? Wie passt das zusammen?

Elisabeth Oberzaucher: Das lässt sich in der Verhaltensbiologie ganz einfach erklären. Wenn wir nicht auf das Expertenwissen vertrauen, sondern uns von unserem Bauchgefühl fehlleiten lassen, handeln wir genau so irrational und unlogisch. Deshalb brauchen wir vernunftgesteuerte und rationale Argumente, die Expertinnen und Experten liefern können.

Anna Trost (lacht): Ich würde sagen, mit diesen Worten schließen wir den Kreis, denn damit kommen wir genau wieder zu meiner ersten Frage. Vielen Dank, dass Sie uns auf eine gedankliche Reise durch die Verhaltenswelt des Menschen mitgenommen haben. Alles Liebe von uns!

Elisabeth Oberzaucher: Sehr gerne, es bleibt spannend!


INSIDERTIPP: Alle, die sich für menschliches Verhalten in städtischen Räumen interessieren – von der Evolutionsgeschichte über sich neu formierende Bedürfnisse bis hin zu möglichen Zukunftsszenarien – sollten sich unbedingt Elisabeth Oberzauchers Buch: »Homo Urbanus« zu Gemüte führen.


Alle Fotos © Ingo Pertramer