Kenza Ait Si Abbou steht mitten im Klassenzimmer. „Stellt euch vor, ich bin ein Roboter“, lautet die Aufgabe für die Schulkinder, denen sie gerade aus ihrem Buch „Meine Freundin Roxy“ vorgelesen hat. Exakt reagiert sie auf die verschiedenen Kommandos: Arme hoch, Arme runter, dreh dich im Kreis. Erst nach und nach bemerken die Schüler:innen, dass die menschliche Roboterfrau nicht selbst mitdenkt und deshalb die Zurufe sehr genau sein müssen.
„Im Spiel mit mir haben die Kinder gelernt, einen Roboter zu programmieren, ohne es zu merken.“ Mit strahlendem Lächeln zeigt KI-Expertin und IBM-Managerin Kenza Ait Si Abbou, wie Spaß an digitaler Bildung aussehen kann. In ihrem ersten Buch „Keine Angst, ist nur Technik“ bringt sie technische Zusammenhänge einfach auf den Punkt und zeigt, wie wir Algorithmen den Takt vorgeben können. Ihr Sohn wünschte sich daraufhin ein ähnliches Buch für Kinder, so entstand „Meine Freundin Roxy“.
„Auch das ist ein Beitrag zu digitaler Bildung. Ich wollte aber nicht, dass die Kinder das Gefühl haben, etwas lernen zu müssen, deshalb habe ich einen Roman und kein Sachbuch geschrieben“, erzählt die Autorin. „Mit dem Buch habe ich auch versucht, zu zeigen, dass digitale Bildung sogar ohne Computer im Klassenzimmer funktioniert – viele Konzepte lassen sich einfach so erklären. Mein Plädoyer ist: Digitale Bildung bedeutet nicht zwangsläufig, auch programmieren zu können.“
Kritik am Bildungssystem
Ihr neuestes Werk „Menschenversteher – wie Emotionale Intelligenz unseren Alltag erobert“, ist frisch erschienen, auch hier werden komplizierte Fakten und Hightech-Wissen verständlich, aber nie oberflächlich präsentiert. Für ihre Mission, Menschen für Technik zu begeistern und Ängste zu nehmen, nimmt sie neben ihrem Job als Director Client Engineering DACH bei IBM so manche Extrameile auf sich, ist Keynote-Speakerin, Impulsgeberin und „Top Voice“ auf der Business-Plattform LinkedIn. Immer wieder richtet sich ihr Appell in Richtung Bildungssystem, das aus ihrer Sicht überholt ist: „Es wurde für die industrielle Revolution designt, nicht für die aktuelle technologische. Wir müssen das System komplett neu denken.“
Das sei auch vor dem Hintergrund von KI-Instrumenten wie ChatGPT wichtig, mit deren Hilfe heute in Sekunden Texte generiert werden können. „Wie wollen wir Bildung gestalten, damit die Leistung von Schüler:innen und Studierenden geprüft wird – und nicht die von ChatGPT?“ Regulierung allein helfe jedoch nicht. „Bildung ist hier in meinen Augen wichtiger als Regulierung – denn Regulierung ist immer nur reaktiv.
Deswegen muss man beides parallel angehen. Es ist wichtig, Medienkompetenz beizubringen, zu erklären, wo die Chancen und wo die Risiken sind – und KI so nutzen zu können, dass die Mehrwerte daraus nutzbar sind.“
Zwischen Mensch und Maschine
ChatGPT habe die Chance eröffnet, ein konkreteres Bild von KI zu bekommen, ist sie überzeugt: „Das Verständnis ist jetzt konkreter und nicht mehr so abstrakt und angstbehaftet.“ Vielleicht ein Weg, mehr Nachwuchs für neue Technologien zu begeistern. Die gebürtige Marokkanerin spricht sieben Sprachen und weiß aus ihren Projekten, wie wichtig gut ausgebildete Leute sind, um im Wettbewerb der KI-Anwendungen mithalten zu können.
Sie selbst hat Elektrotechnik in Spanien, Deutschland und China studiert – ein Fach, das für viele kaum noch attraktiv erscheint, speziell bei Frauen stagnieren die ohnehin niedrigen Anmeldungen in Deutschland. „Frauen interessieren sich offenbar mehr für MINT-Fächer, wenn das Ziel hinter dem Studium klar ist, wie bei Umwelt- oder Sozio-Informatik“, beobachtet Kenza Ait Si Abbou. Die IBM-Managerin will Geisteswissenschafter:innen zeigen, dass sie ebenfalls eine wichtige Rolle in der technischen Entwicklung spielen. „In unseren interdisziplinären Teams benötigen wir nicht nur Design-, Informatik- und Datenwissenschafter:innen, sondern dringend auch Leute aus der Linguistik für die Mensch-Maschine-Interaktion. Ich merke aber, dass die oft gar nicht wissen, dass wir sie brauchen – das will ich mit meinen Auftritten ändern.“
„Wir machen Roboter immer menschlicher und Menschen immer mehr zu Robotern.“
Ihre Arbeit ist ihre Berufung, ihre Faszination liegt im Brückenschlag zwischen Menschen und Maschine – „Zwei Welten, die sich in den letzten Jahren weit näher gekommen sind als wir das gemeinhin glauben“, schreibt sie in ihrem neuesten Buch. Hier beleuchtet sie die emotionale KI, eine andere Richtung der KI-Entwicklung als etwa die generative KI, zu der ChatGPT zählt. „In der emotionalen KI geht es um die Fähigkeit, die Maschine menschliche Emotion analysieren und nachahmen zu lassen. Empathie wird simuliert“, erklärt die Ingenieurin.
Könnten die Maschinen uns also ersetzen oder sogar ein Bewusstsein entwickeln? Das menschliche Bewusstsein sei nach jetzigem Wissen nicht abbildbar, beruhigt sie, KI täusche dies immer nur vor. „Neurowissenschafter:innen wissen heute noch nicht zu 100 Prozent, wie Bewusstsein bei Menschen entsteht, daran wird geforscht. Wenn wir aber noch nicht einmal verstanden haben, wie das menschliche Gehirn funktioniert, können wir auch Maschinen diese Zusammenhänge nicht antrainieren.“ Was in 20 Jahren passiert, könne heute niemand seriös sagen.
Soziale Bindungen stärken
Die Stärke der Menschen liege in der emotionalen Intelligenz. „Diese emotionale Intelligenz sollten wir dringend auf allen Ebenen stärken. Denn das unterscheidet uns von Robotern und macht uns bislang noch zukunftsfähig“, sagt Kenza Ait Si Abbou. Doch sie warnt: „Wir bringen Robotern bei, wie sie Emotionen bei Menschen erkennen, und auf der anderen Seite verbieten wir uns im menschlichen Verhalten immer mehr Emotionalität. Kurz: Wir machen Roboter immer menschlicher und Menschen immer mehr zu Robotern.“ Umso wichtiger sei es, Menschen und ihre Talente zu verstehen und soziale Bindungen zu stärken. „Wir brauchen weiterhin andere, um zu überleben – der Mensch ist ein Gesellschaftstier. Dafür werden wir weiter soziale Kompetenz brauchen.“
Weiterlesen:
„Menschen Versteher“ von Kenza Ait Si Abbou, Droemer/ Knaur (2023), 256 Seiten, 20,00 Euro, E-Book 17,99 Euro