Wo sehen Sie berufliche Nachteile für Menschen, die nicht in einem sehr privilegierten Umfeld groß geworden sind?
Natalya Nepomnyashcha: Die fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten in der Schule schlagen sich auch im späteren Berufsleben nieder. Soziale Aufsteiger:innen haben oft ungerade Lebensläufe, studieren länger oder gar nicht. Entsprechend werden sie trotz ihrer vielleicht sogar herausragenden Fähigkeiten nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen und haben oft Schwierigkeiten beim Berufseinstieg. Selbst in besser bezahlten Positionen, die hohe Qualifikationen erfordern, gibt es Nachteile, etwa den sogenannten Class Pay Gap. Dieser zeigt, dass soziale Aufsteiger:innen in vergleichbaren Positionen weniger verdienen als Menschen, die aus privilegierten Familien kommen. Das liegt daran, dass soziale Aufsteiger:innen bei Gehaltsverhandlungen häufig nicht so fordernd auftreten oder ihre Leistung aufgrund unbewusster Vorurteile als geringer eingeschätzt wird.
Wie haben Sie selbst gemerkt, dass Sie sich für dieses Feld engagieren wollen? Warum haben Sie das Netzwerk Chancen gegründet?
Ich wurde 1989 in Kiew geboren und wuchs dann in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Immer wieder habe ich gemerkt, wie ungleich Privilegien und damit Aufstiegs- und Karrierechancen verteilt sind. Deshalb habe ich 2016 neben meinem Vollzeitjob Netzwerk Chancen gegründet, das soziale Aufsteiger:innen fördert und dabei eng mit möglichen Arbeitgebenden zusammenarbeitet.
Was haben Sie bislang erreicht?
Wir fördern mehr als 2800 Menschen, die einen finanzschwachen oder nichtakademischen Hintergrund haben – mit Workshops, Einzelcoachings und Mentoring. Wir begleiten unsere Mitglieder auf dem Weg in einen neuen Job oder zu einer Beförderung. Das sind alles tolle Vorbilder. In unserem Netzwerk und darüber hinaus gibt es jedoch sehr viele Menschen aus unteren sozialen Schichten, die weiterhin enorm kämpfen müssen – darüber habe ich auch in meinem ersten Buch „Wir von unten“ geschrieben. Unter anderem sind darin Menschen porträtiert, die trotz Anstrengung nicht vorankommen.
Aber das Bewusstsein für Diversity steigt doch eindeutig in den Unternehmen?
Das stimmt. Doch wir reden bei der sozialen Herkunft von einer Diversity-Dimension, die bislang kaum von den Unternehmen beachtet wird. 80 Prozent der CEOs der 100 deutschen Unternehmen stammen aus den oberen 3,5 Prozent der Bevölkerung. Kulturelle Diversität oder Geschlechter-Gleichstellung bilden ja nicht den Bereich der sozio-ökonomischen Herkunft ab. Zu oft entscheidet nicht die Leistung, sondern die Herkunft darüber, an wen Jobs vergeben werden. Die Best-Practice-Beispiele für Unternehmen, die soziale Vielfalt leben, kommen meistens aus dem Ausland, häufig aus Großbritannien. Aber: Ich spüre einen Wandel in Gesprächen mit Entscheider:innen auch in Deutschland. Das Bewusstsein für die eigenen Privilegien steigt und wird zunehmend öffentlich diskutiert.
Sie haben für Ihre Arbeit vor Kurzem sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten – und damit jede Menge Aufmerksamkeit. Wie sehr hilft das dem Netzwerk Chancen?
Ich bin sehr dankbar für diese Ehre. Es ist alles andere als selbstverständlich, mit 34 Jahren so eine Auszeichnung zu erhalten. Dies schafft sicherlich noch einmal Aufmerksamkeit für das Thema, was mich sehr freut. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir Menschen nicht deshalb zuhören, weil sie auf roten Teppichen und in Zeitungen zu finden sind, sondern weil sie das Leben von anderen maßgeblich zum Besseren verändern.
Sie haben im Frühjahr 2024 ein Baby bekommen und sind in Ihrer Elternzeit bei der Unternehmensberatung EY in eine Führungsrolle befördert worden. Wie überrascht waren Sie, dass das möglich war?
Bei EY kenne ich einige Frauen, die in der Elternzeit befördert wurden – insofern hat mich diese Entscheidung nicht überrascht. Im Bekanntenkreis höre ich aber oft, dass Mütter das Gefühl haben, nach einer Pause keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr zu bekommen. Das finde ich traurig und unverständlich, denn gerade Eltern können sehr gut priorisieren und effizient arbeiten.
Wie sehen Sie den aktuellen Fachkräftemangel aus Sicht von Netzwerk Chancen?
Unternehmen lassen aus unserer Sicht viel Potenzial ungenutzt. Der Diversity-Dimension „soziale Herkunft“ wird viel zu wenig Beachtung geschenkt. Menschen mit einem ungeraden Lebenslauf können in zahlreiche Positionen nicht einsteigen, weil sie im Recruiting-Prozess durchs Raster fallen, obwohl sie die passenden Fähigkeiten für die Stellen mitbringen. Soziale Aufsteiger:innen könnten den Kreis der Bewerbenden aber deutlich vergrößern.
Was bedeutet das konkret?
Ich spreche mich eindeutig nicht dafür aus, ungeeignete Leute einzustellen. Unternehmen könnten in sehr vielen Bereichen aber stärker im Hinblick auf Kompetenzen rekrutieren, und nicht auf der Basis von „harten“ Einstellungskriterien wie Abschlüssen. In Deutschland hängt der Bildungserfolg wie in kaum einem anderen Land von der sozialen Herkunft ab. Deshalb sollte beispielsweise Bewerbenden, die mit 30 oder 35 in den Job einsteigen möchten, nicht gleich fehlender Ehrgeiz unterstellt werden. Aufgrund ihrer Herkunft konnten sie vielleicht nicht früher ihre Stärken entwickeln oder haben neben ihrem Studium Vollzeit gearbeitet. Der Ehrgeiz ist aber sicher vorhanden, wenn man es so weit geschafft hat.
„Es gibt die Tendenz, in Bewerbungsverfahren Menschen mit Ähnlichkeiten zu bevorzugen. Gleiches gilt für Beförderungen.“
Was ist Ihr Ziel in diesem Zusammenhang?
Wir wollen bei Menschen, die für Einstellungsprozesse verantwortlich sind, Awareness und mehr Offenheit für das Thema schaffen. Denn Führungskräfte und HR-Verantwortliche bringen – wie wir alle – bestimmte „Biases“ mit, also Voreingenommenheiten. Menschen sprechen Menschen, die ihnen ähnlich sind, positivere Eigenschaften zu. Es gibt die Tendenz, in Bewerbungsverfahren ähnliche Bewerbende zu bevorzugen. Gleiches gilt für Beförderungen.
Wie lassen sich eigene Privilegien teilen, haben Sie einen Tipp?
Durch meine Rolle erhalte ich viele Einladungen für Galas, Dinnerpartys und andere Events. Bei Einladungen, die für zwei Personen gelten, nehme ich aber nicht meinen Mann als Begleitung mit. Stattdessen lade ich jemanden ein, die oder der sonst nicht die Möglichkeit hätte, auf diese Weise gesellschaftliche Codes kennenzulernen und wertvolle Kontakte zu knüpfen. Das lässt sich leicht umsetzen.
Zur Person
Natalya Nepomnyashcha: 1989 in Kyiv geboren, wuchs sie in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Ohne Abitur schaffte sie es zum Masterabschluss und arbeitet heute für eine der größten Unternehmensberatungen der Welt (EY). 2016 gründete sie nebenberuflich Netzwerk Chancen, das mit einem ideellen Förderprogramm mehr als 2800 soziale Aufsteiger:innen unterstützt und Arbeitgebende zur Diversity-Dimension „Soziale Herkunft“ berät. 2024 veröffentlichte sie ihr erstes Buch und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Buch-Tipp
„Wir von unten – Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet“
Natalya Nepomnyashcha mit Naomi Ryland
Ullstein Verlag