StartInnovationTechKI und Chat GPT: “Die Magie und den Schock selbst erleben" 

KI und Chat GPT: “Die Magie und den Schock selbst erleben“ 

Prof. Dr. Doris Weßels gehört zu den wichtigsten Expert:innen, wenn es um KI-generierte Texte und die Auswirkungen für Forschung und Lehre geht. Über den Schock und die Magie des ersten Ausprobierens und warum es jetzt Tempo in der Regulierung von Chat GPT und Co braucht.

Frau Prof. Weßels, Sie beschäftigen sich schon lange mit KI-gestütztem Schreiben. Wie überrascht waren Sie von Chat GPT?

Das erste generative KI-Modell von OpenAI wurde bereits 2018 vorgestellt. In den Folgejahren und mit den neuen Modellversionen ist diese Technologie in hunderte von leistungsstarken KI-gestützten Schreibwerkzeugen eingeflossen. Dass deren Leistungsstärke und ihre Verbreitung auch im Bildungsbereich drastisch zunehmen würden, war aus meiner Sicht seit 2020  klar vorhersehbar. Um dem Thema mehr Sichtbarkeit zu geben und die dringend notwendige Aufklärungsarbeit im Bildungs- und Wissenschaftsbereich zu leisten, haben wir das „virtuelle KI-Kompetenzzentrum Schreiben lehren und lernen mit KI“ am 1. September 2022 gegründet. Allerdings hat mich die Chat-Variante überrascht, die Open AI mit Chat GPT am 30. Nobember 2022 veröffentlicht hat. Nachdem ich zum ersten Mal damit gearbeitet habe, war ich zugleich fasziniert, aber auch schockiert.

Warum schockiert?

Weil ich schnell begriffen habe, welche weitreichende Disruption wir damit erleben. Diese ist zwar vergleichbar mit den Anfängen des World Wide Web oder des iphones, aber die Dynamik der Veränderung ist exponentiell höher. Die Relevanz auf allen gesellschaftlichen Ebenen ist bei vielen Entscheider:innen noch längst nicht angekommen.

Was bedeutet das aus Ihrer Sicht speziell für Bildung und Lehre?

Wir erleben eine völlig neue Form des Schreibens, eine Disruption des klassischen Schreibprozesses. Es geht jetzt darum, neue Lehr- und Lernformen unter Einbindung von Chat GPT & Co. zu entwickeln. Das bedeutet ganz konkret neue Aufgabenstellungen, neue Formen der Didaktik und veränderte Prüfungsformen. Reine Fleißaufgaben werden in den Hintergrund rücken. Schulen und Hochschulen werden sich verändern müssen, das ist eine immense Herausforderung für das gesamte Bildungssystem, an der wir aber nicht vorbeikommen.

Leider agiert gerade der Bildungssektor wie ein großer und behäbiger Tanker, der sich nur langsam neu ausrichtet und seinen Kurs ändert. Wir müssten jetzt daran gehen, Prüfungsordnungen und Lehrpläne schnell zu verändern und auch zukünftig regelmäßig an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Ich hätte mir da ein weitaus höheres Tempo gewünscht, auch politisch. Wenn wir nicht aufpassen, hinken die Lehrenden den Lernenden bei der Nutzung dieser KI-Technologien immer weiter hinterher, aber auch in der Gesellschaft steigt die Gefahr der digitalen Spaltung. Diese neuen Werkzeuge zwingen uns dazu, unsere Skills immer auf dem Laufenden zu halten – in sehr engen zeitlichen Zyklen. Dieses kontinuierliche Lernen durch entsprechende Weiterbildungsangebote ist auch eine Führungsaufgabe in den Bildungseinrichtungen. Mit einem einmaligen Ausprobieren ist es nicht getan.

Wo sehen Sie weitere Gefahren, wo müsste zum Beispiel reguliert werden?

Eine zeitnahe Regulierung wäre zwar nötig, ist aber in unseren föderalen Strukturen und auf EU-Ebene schwierig, siehe die Diskussionen um den EU AI Act. Dabei brauchen wir jetzt Anstrengungen auf allen Ebenen, vor allem bei der Aufklärung, damit wir als Gesellschaft überhaupt ein Verständnis für diese Technologie haben und diskursfähig sind. Wichtig ist aus meiner Sicht eine Kennzeichnungspflicht überall dort, wo generative KI genutzt wird und es keine klaren Zuordnungen zu Verantwortlichkeiten bei menschlichen Akteuren gibt. Wir müssen uns bei der Textgenerierung bewusst machen, dass wir ein exponentielles Wachstum der produzierten Texte erleben werden. Gleichzeitig wächst auch die Gefahr von Falschinformationen, die sich verfestigen.

Welche Chancen sehen Sie?

Zum einen zwingt uns diese Disruption dazu, durchaus selbstkritisch über unsere bisherigen Bildungsziele und unser Bildungssystem zu reflektieren. Das ist für die Neuausrichtung sehr förderlich. Im Bereich der KI-Sprachmodelle bieten sich für den Einsatz an Schule und Hochschule auch neue Chancen, wenn ChatGPT z.B. als Inspirationsmaschine genutzt wird.  Auf diese Weise können Menschen mit „Angst vor dem weißen Blatt Papier“ einen ganz neuen Zugang zum Schreiben finden und damit produktiver werden. Wenn ich quasi per Knopfdruck mir erste Textentwürfe generieren lassen kann, steige ich im Schreibprozess gleich auf der Ebene eines Gutachters bei der Bewertung des Entwurfs ein. Das ist ein höheres Kompetenzniveau und erfordert natürlich, dass ich auch die Grundlagen beherrsche.

Was raten Sie?

Es ist wichtig, die „Magie des ersten Moments“, die Faszination der KI und vielfach auch den „Schock“ selbst zu erleben. Nur durch das persönliche Erleben spüre ich, wie tiefgreifend die aktuelle Veränderung ist. Wir brauchen Mut und Experimentierfreude bei der Nutzung dieser Technologie, weil es keine vorgefertigten Muster und keine jahrelangen Erfahrungswerte gibt. Schüler:innen und Studierende sollten ein Gefühl dafür entwickeln, was es heißt, mit KI verantwortungsbewusst und kompetent zu arbeiten – etwa in Schreibwerkstätten. Außerdem müssen wir uns mehr denn je kritisch damit auseinandersetzen, woher die Inhalte kommen, die wir konsumieren, um nicht Opfer von Fake News zu werden. Die Themen Medienkompetenz und Weiterbildung müssen nun noch viel dringender in den Fokus rücken als zuvor. Darüber hinaus sollten wir immer im Auge behalten: Es bleiben Maschinen, mit denen wir es zu tun haben – ohne jegliches  Bewusstsein und ohne ein semantisches Textverständnis für die Aufgabenstellung, die wir bearbeiten lassen. Die Steuerung liegt bei uns, und die sollten wir nicht aus der Hand geben. Wir sind der „Machine Leader“!

Prof. Dr. Doris Weßels ist Professorin für Wirtschaftsinformatik an der FH Kiel mit den Schwerpunkten Projektmanagement und Natural Language Processing. Sie hat zudem das  „Virtuelle KI-Kompetenzzentrum Schreiben lehren und lernen mit KI“ mit gegründet.

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