„Wir wollen die gängigen Klischees sowie das Stigma brechen und das Thema häusliche Gewalt in die Mitte unserer Gesellschaft tragen“, sagen die fünf Frauen, die die private Initiative #DieNächste gestartet haben. Ein Gespräch mit der betroffenen Aufsichtsrätin Anna Sophie Herken.
Wie hat sich die Initiative gefunden – über das Thema häusliche Gewalt spricht man ja nicht gleich sehr offen?
Wir sind uns über berufliche Netzwerke begegnet und als wir uns ausgetauscht haben, haben wir ganz schnell gemerkt, dass wir vieles gemeinsam haben – und dazu zählt auch selbst von häuslicher Gewalt betroffen gewesen zu sein. Wir haben offen über unsere Erfahrungen miteinander geredet – und waren uns einig, dass dies leider viel zu selten geschieht.
Gab es einen Auslöser-Moment, an die Öffentlichkeit zu gehen?
Das war schon ein wichtiger und besonderer Moment als wir feststellten, dass wir alle Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Das ist ja ein Thema, das mit ganz viel Scham und Stigma verbunden ist, die Menschen reden schlichtweg nicht darüber. Wir haben auch bemerkt, dass wir alle die gleichen Reaktionen aus dem Umfeld erlebt haben: Unglaube, Unverständnis und Vorurteile waren häufige Reaktionen, als wir uns als Betroffene offenbarten. Von vielen Seiten erhielten wir die Empfehlung zu schweigen, sei es weil uns berufliche Nachteile vorhergesagt wurden, aus Angst vor den Tätern, wegen der Kinder oder auch, weil uns nicht geglaubt wurde. Und wenn einem von allen Seiten geraden wird, über Gewalterfahrungen zu schweigen, ist niemandem klar, was für ein Ausmaß häusliche Gewalt hat. Die Betroffenen wissen gar nicht, wie viele andere Frauen in ihrem Umfeld auch betroffen sind.
Über welches Ausmaß sprechen wir da?
Die Zahlen sind schockierend: Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner umgebracht und jede Stunde werden in Deutschland 13 Frauen über ihren (Ex-)Partner Opfer häuslicher Gewalt. Die traurigste Zahl ist jene, die man nicht kennt. Denn die Dunkelziffer ist riesig. Laut einer Studie aus Niedersachsen wird nur jede 215. Tat überhaupt angezeigt. Wir haben uns gesagt, dass es so nicht weitergehen kann. Wir sind davon überzeugt, dass häusliche Gewalt ein großes und strukturelles gesellschaftliches Problem ist, das alle betrifft. Daher haben wir uns als private Initiative mit dem Namen #DieNächste organisiert.
„Vielen Menschen ist gar nicht klar, wie viel Mut dazu gehört, sich offen als Betroffene zu zeigen“
Was ist der nächste Schritt?
Wir haben noch einiges vor. Der Auftakt für unsere Initiative #DieNächste war eine große Titelgeschichte, bei der sich insgesamt gleich 45 betroffene Frauen gezeigt haben. Uns ist wichtig, erstmal auf Awareness und Aufklärung zu setzen, damit überhaupt deutlich wird, dass häusliche Gewalt ein Thema ist, das uns alle betrifft. Gleichzeitig vertreten wir natürlich konkrete politische und gesellschaftliche Forderungen und möchten durch Studien und Umfragen auch zur Verbesserung der sehr mageren Datenlage in dem Bereich beitragen. Unsere Forderungen haben wir auf unserer Website zusammengestellt.
Welche Resonanz haben Sie bereits erhalten?
Wir haben bislang eine wirklich überragende Resonanz und wir sind sehr dankbar für diese Welle der Solidarität. Mich hat positiv überrascht, wie viele KollegInnen und Menschen sich mit unterstützenden und wertschätzenden Beiträgen bei uns gemeldet haben. Es haben sich auch zahlreiche Frauen bei uns gemeldet, die sich ebenfalls als Betroffene offenbart und ihre eigenen Erfahrungen geteilt haben. Es ist einerseits schön zu sehen, dass sich nun mehr Betroffene trauen, offen zu sprechen. Gleichzeitig ist es irgendwie auch jedes Mal ein Schreck, dieser Gedanke: „Oh nein, sie auch…“
Gab es auch negative Überraschungen?
Einige von uns haben auch Drohungen und Beschimpfungen erhalten, abwertende Aussagen aus dem Umfeld. Wirklich nachdenklich haben mich auch jene Menschen gemacht, oft übrigens auch Frauen, die als erste Reaktion in den sozialen Medien geschrieben haben „Aber es gibt doch auch Männer, die Opfer sind.“ Da weiß man nicht, was man dazu noch sagen soll. Zum einen sind circa 80 % der von häuslicher Gewalt betroffenen Personen Frauen (was aber übrigens nicht heißt, dass die restlichen 20% Täter alle weiblich sind, da auch gleichgeschlechtige Paare erfasst werden). Und zum anderen denken wir: Was ist das denn für eine Reaktion, auf eine so mutige Aktion von 45 betroffenen Frauen, die sich dem Stigma aussetzen und sich öffentlich mit Bild und Namen zeigen? Ich glaube, vielen Menschen ist gar nicht klar, welchen Mut es dazu braucht und was es für die Frauen persönlich bedeutet, sich offen als Betroffene zu zeigen.
Was fordert #DieNächste konkret?
Zusammengefasst:
- eine staatliche Koordinierungsstelle mit ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen, die ressortübergreifend und eng mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet
- die Konzeption und Umsetzung einer nationalen ressortübergreifendem HG-Strategie mit intersektionaler Perspektive
- ein (kostenfreien) niedrigschwelligen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen
- der flächendeckende und bedarfsgerechte Ausbau des Hilfesystems (d.h. min. 15.000 Frauenhausplätze + dazugehördendes Personal sowie mehr Fachberatungsstellen + dazugehörendes Personal für alle von Gewalt betroffenen Frauen und Kinder
- Anpassung der nationalen Gesetzgebung zum Aufenthaltsrecht wegen des Wegfalls der IK-Vorbehalte
- flächendeckende verpflichtende für Fortbildungen und Trainings für alle Berufsgruppen, die in Kontakt mit Betroffenen oder Tätern von Gewalt kommen, etwa Justiz (Richter:innen, StA), Polizei, Jugendamt, Sozialamt
- Integration von Bildungsprogrammen über häusliche Gewalt in Lehrpläne an Kitas, Schulen und Universitäten, um das Bewusstsein für dieses Thema zu erhöhen, frühzeitig aufzuklären und präventive Maßnahmen zu fördern sowie die Integration von Gewaltpräventionsprogrammen im Schulalltag, um soziale Kompetenzen, Konfliktlösungsfähigkeiten und gewaltfreies Verhalten zu fördern
- Umfassende Berichterstattung von Femiziden in den Fernsehnachrichten um die Gesellschaft über dieses strukturelle Problem aufzuklären. Aktuell wäre dies eine Berichterstattung an mind. jedem dritten Tag.