StartBusinessSuccessFachkräftemangel: "Unternehmen lassen viel Potenzial ungenutzt"

Fachkräftemangel: „Unternehmen lassen viel Potenzial ungenutzt“

2024 wird bei vielen Organisationen die Suche nach Fachkräften weit oben auf der Agenda stehen. Natalya Nepomnyashcha, Gründerin von Netzwerk Chancen sagt, wo Potenzial schlummert. Denn: Soziale Aufsteiger*innen könnten den Kreis der Bewerbenden deutlich vergrößern.

Wie sehen Sie den aktuellen Fachkräftemangel aus Sicht von Netzwerk Chancen?

Unternehmen lassen aus unserer Sicht viel Potenzial ungenutzt. Der Diversity-Dimension „soziale Herkunft“ wird bislang kaum Beachtung geschenkt. Menschen mit ungeradem  Lebenslauf können deshalb in zahlreiche Positionen nicht einsteigen, weil sie im Recruitingprozess durchs Raster fallen, obwohl sie die passenden Fähigkeiten für die Stellen mitbringen                    .

Was bedeutet das konkret?

Ich spreche mich eindeutig nicht dafür aus, ungeeignete Leute einzustellen. Aber soziale Aufsteiger:innen können den Kreis der Bewerbenden deutlich vergrößern. Unternehmen können in sehr vielen Bereichen stärker im Hinblick auf Kompetenzen rekrutieren und nicht auf der Basis von “harten”  Einstellungskriterien wie Abschlüssen. In Deutschland hängt der Bildungserfolg wie in kaum einem anderen Land von der sozialen Herkunft ab. Deshalb sollte beispielsweise Bewerbenden, die mit 30 oder 35 in den Job einsteigen möchten, nicht gleich fehlender Ehrgeiz unterstellt werden. Aufgrund ihrer Herkunft konnten sie vielleicht nicht früh ihre Stärken entwickeln oder haben neben ihrem Studium Vollzeit gearbeitet. Der Ehrgeiz ist aber sicher vorhanden, wenn man es so weit geschafft hat.

Was ist Ihr Ziel in diesem Zusammenhang?

Wir wollen bei Menschen, die für Einstellungsprozesse verantwortlich sind, Awareness und mehr Offenheit für das Thema schaffen. Denn Führungskräfte und HR-Verantwortliche bringen – wie wir alle – bestimmte “Biases” mit, also Voreingenommenheiten. Menschen sprechen Menschen, die ihnen ähnlich sind, positivere Eigenschaften zu. Es gibt die Tendenz, in Bewerbungsverfahren ähnliche Bewerbende zu bevorzugen. Gleiches gilt für Beförderungen.

Was haben Sie bislang erreicht?

Wir fördern mehr als 2.200 Menschen, die einen finanzschwachen oder nichtakademischen Hintergrund haben – mit Workshops, Einzelcoachings und Mentoring. Wir haben schon einige Mitglieder auf dem Weg in einen neuen Job oder zu einer Beförderung begleitet. Das sind alles tolle Vorbilder! In unserem Netzwerk, aber noch viel mehr da draußen gibt es jedoch sehr viele Menschen aus unteren sozialen Schichten, die weiterhin enorm kämpfen müssen – darüber schreibe ich auch in meinem ersten Buch, das im Frühjahr erscheint.

Das Bewusstsein für Diversity steigt doch eindeutig in den Unternehmen?

Das stimmt. Aber wir reden hier von einer Ebene, die bislang kaum beachtet wird. Denn kulturelle Diversität oder Geschlechter-Gleichstellung bilden nicht den Bereich der sozio-ökonomischen Herkunft ab. Für die meisten deutschen Unternehmen ist diese Ebene noch sehr weit weg. Die  Best Practise-Beispiele für Unternehmen, die soziale Vielfalt leben, kommen meistens aus dem Ausland, häufig aus Großbritannien, aber ich spüre einen Wandel in Gesprächen mit Entscheider:innen auch in Deutschland.

Wie haben Sie selbst gemerkt, dass Sie sich für dieses Feld engagieren wollen? Warum haben Sie Netzwerk Chancen gegründet?

Ich wurde 1989 in Kyiv geboren und wuchs dann in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Immer wieder habe ich gemerkt, wie ungleich Privilegien und damit Aufstiegs- und Karrierechancen verteilt sind. Deshalb habe ich 2016 neben meinem Vollzeitjob Netzwerk Chancen gegründet, das soziale Aufsteiger:innen fördert und dabei eng mit möglichen Arbeitgebenden zusammenarbeitet.  

Wo sehen Sie noch berufliche Nachteile für Menschen, die nicht in einem sehr privilegierten Umfeld groß geworden sind?

Die fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten in der Schule schlagen sich natürlich auch im  späteren Berufsleben nieder. Aber selbst in besser bezahlten Positionen, die hohe Qualifikationen erfordern, gibt es Nachteile, etwa den so genannten Class Pay Gap. Dieser zeigt, dass soziale Aufsteiger:innen in vergleichbaren Positionen weniger verdienen als Menschen, die aus privilegierten Familien kommen. Das liegt daran, dass soziale Aufsteiger:innen bei Gehaltsverhandlungen häufig nicht so fordernd auftreten oder ihre Leistung aufgrund unbewusster Vorurteile als geringer eingeschätzt wird.

1989 in Kyiv geboren, wuchs Natalya Nepomnyashcha in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Ohne jemals Abitur erworben zu haben, machte sie 2012 einen Masterabschluss in Großbritannien. Nach dem Studium der Internationalen Beziehungen war sie u. a. für eine der weltweit größten Unternehmensberatungen sowie eine NGO aus Westafrika tätig. ​

2016 gründete sie nebenberuflich Netzwerk Chancen. Das soziale Unternehmen bietet ein ideelles Förderprogramm für soziale Aufsteiger*innen zwischen 18-39 Jahren und kollaboriert mit potentiellen Arbeitgebenden. Gleichzeitig setzt sich die Initiative dafür ein, dass die soziale Herkunft als Diversity-Faktor anerkannt wird. Natalya Nepomnyashcha leitet die Organisation ehrenamtlich neben ihrer Vollzeitbeschäftigung.

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