StartBusinessSuccessEmanzipation bedeutet, sich von unehrlichen Traditionen zu lösen

Emanzipation bedeutet, sich von unehrlichen Traditionen zu lösen

Vorfreude ist bekanntlich die größte Freude: Tanja Wehsely, Geschäftsfüherin der Volkhilfe Wien und MINERVA Preisträgerin 2023, erzählt im Interview, was sich seit der Verleihung im vergangen Jahr getan hat und wo sie aktuell politischen Handlungsbedarf sieht.

Sheconomy: Vor ziemlich genau einem Jahr wurde Ihnen eine unserer Minervas in der Kategorie Female Role Model überreicht. Ich kann mich gut an Ihre flammende Dankesrede erinnern. Nehmen Sie uns vielleicht kurz mit zu jenem Moment, als ihr Name gefallen ist. Wie war das und was hat sich in diesem Jahr getan?

Eine Minerva in der Kategorie „Female Role Model Leadership“ zu gewinnen, war schon eine besondere Ehre. Es handelt sich dabei ja um einen dezidierten Frauenpreis, der engagierte Frauen in den verschiedensten Kategorien und Bereichen auszeichnet, was diesen Award in meinen Augen umso bedeutender macht. Ich engagiere mich schon lange für Frauen, Gerechtigkeit und Gleichstellung auch politisch, insbesondere für das Empowerment von Mädchen. Allerdings hatte ich bis zum Schluss wirklich keine Ahnung – nichts ist durchgesickert. Und die Übergabezeremonie mit der Laudation von Timna Brauer hat mich dann echt berührt.

Und lustig, dass Sie auch die Rede ansprechen. Ein Kollege unseres Managementboards, zuständig für den Bereich Pflege und Betreuung, wurde auf diese Rede anerkennend von einer Frau angesprochen: Sie hatte von der Minerva 2023 folgende prägnante Aussage in Erinnerung: „Eine Frau mehr bedeutet einen Mann weniger, und 50/50 bedeutet wirklich halbe-halbe.“

Dieser Satz verdeutlicht, dass echte Gleichstellung auch eine Verschiebung bestehender Strukturen erfordert, damit eine gerechtere Gesellschaft entstehen kann. Es zeigt, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben, um diese Überzeugungen weiter zu festigen.

Die Volkshilfe Wien gibt es seit 1947. Laut Google: 1.600 Mitarbeiter. Sie sind die erste Frau an der Spitze. Was sind die Tätigkeitsfelder der Volkshilfe Wien im Detail?

Zum Stichtag, 31. Dezember 2023, sind es sogar 1.731 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und damit sind wir dann auch schon mitten im Thema der großen globalen Krisen, die derzeit parallel auftreten und bei uns als große gesellschaftliche Herausforderungen ankommen. Zuerst der Ukraine-Krieg, dazu der Krieg in Nahost. Die Volkshilfe Wien ist da eine zentrale Anlaufstelle. Wir sind eine wichtige Institution im Sozialbereich ebenso wie in der Pflege.

Im Bereich der Sozialarbeit bieten wir Menschen am Rand der Gesellschaft ein breites Spektrum an Unterstützungsmaßnahmen. Dazu gehören Arbeitsmarktprogramme, Flüchtlingshilfe, Unterstützung für Wohnungslose und sozialpädagogische Wohngruppen für Kinder in Fremdunterbringung.

Außerdem sind wir die größte Anbieterin in Österreich für mobil betreutes Wohnen im Rahmen der Grundversorgung. Flüchtlinge werden in Wohnungen untergebracht und nicht in Sammelunterkünften. Mit über 600 verwalteten Einheiten sind wir eine wichtige Akteurin in diesem Bereich und arbeiten eng mit dem Sozialministerium und der Stadt Wien zusammen.

Wir haben Visionen für das Zusammenleben in der Stadt! Unser Ziel ist es nicht nur die Existenz der Menschen zu sichern, sondern ihnen auch über das gesetzliche Minimum hinaus zu helfen. Als Volkshilfe Wien wollen wir keine Dienstleisterin ohne Seele sein, sondern es geht schon darum, Rechte für die Menschen sicherzustellen, nötigenfalls zu erkämpfen. Die Volkshilfe ist 365 Tage im Jahr im Dienst, ohne Unterbrechung, auch an Feiertagen und Wochenenden. Wir betreuen Personen im Alter von null bis 100. Sogar über 100 sind ein paar Kundinnen, die noch zu Hause leben und die wir unterstützen. Das ist schön.

Sie haben Ihre Karriere als Streetworkerin begonnen und waren danach im Wiener Gemeinderat aktiv. Was haben Sie aus diesen Jahren mitgenommen?

Stimmt: Streetworkerin, hauptsächlich in der Jugendarbeit. Sozialarbeit und Kommunikation sind mein ursprünglicher Beruf. Danach war ich lange in der Politik tätig und habe dort in vielen Bereichen eine Menge gelernt. Neben vielen grundlegenden Fragen, ging es auch darum, kreative Ideen zu entwickeln, um das Leben der Menschen zu verbessern. Als erste und bisher einzige Vorsitzende des Gemeinderatsausschusses für Finanz und Wirtschaft der Stadt Wien verantwortete ich ein Budget von 15 Milliarden.

Ich hatte das Glück, dass alles, was ich bisher beruflich gemacht habe, sehr interessant und erfüllend war, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Aber es stimmt schon, ich weiß auch, wie es den Leuten geht. Ich habe beruflich Hausbesuche gemacht und kenne die Anliegen der Menschen gut.

Was sind für Sie die größten Erfolge in den vergangenen Jahren gewesen?

Bei meinem Antritt vor fünf Jahren hatte ich mir vorgenommen, die Volkshilfe Wien bekannter zu machen – die Kolleg*innen und ihre tagtäglichen Erfolge sichtbarer zu machen. Die Volkshilfe Wien ist nun eine sichtbare Akteurin in der sozialen Landschaft Wiens.

Eines der Leuchtturmprojekte ist der wunderbare „Volkshilfe Hafen”. Ein ganzes Haus im 19. Bezirk, wo nur Frauen Nutzungsverträge bekommen. Es steht Frauen in allen Lebenslagen offen, um ihnen einen sicheren Ort zum Ankommen und Stabilisieren zu bieten.

Ein weiteres, mir besonders wichtiges Projekt ist „A G’spia fürs Tier” (Wienerisch für: ein Gefühl für die Bedürfnisse der Tiere). Dieser Tage feiern wir 10 Jahresjubiläum. Wir unterstützen hier u.a. Tierhalter*innen in Notsituationen.. Durch das Projekt erleben Menschen Wertschätzung und Akzeptanz. Das galt auch für die Geflüchteten aus der Ukraine. Sie kamen natürlich mitsamt ihren Haustieren, die oft krank waren und auch mit Futter versorgt werden mussten. Das haben wir dann gemacht. Uns ist bewusst, dass die Familie auch aus Tieren besteht.

Und ja: In den vergangenen fünf Jahren ist unsere Mitarbeiterzahl von 1.500 auf über 1.730 gestiegen. Das riesige Programm zur Wohnungssicherung und Delogierungsprävention, den sogenannten Wohnschirm, wickeln wir für das Sozialministerium ab. Als Volkshilfe Wien sind wir aktuell die „Wohnungssicherer der Nation“. In der Rückschau eine doch recht große Erfolgsbilanz.

Welche Rahmenbedingungen würden Sie sich für ihre Mitarbeiter*innen von Politik und Gesellschaft wünschen?

Unsere Mitarbeiter*innen, egal ob sie nun Heimhelferinnen sind oder in der Pflege, finden das Schlechtreden ihres Berufs mehr als entbehrlich. Diese Frauen sind hervorragend in dem, was sie tun, vor allem in der mobilen Pflege, wo sie eigenständig und mit viel Verantwortung agieren. Dort liegt ihre große Kompetenz und auch ihr Herz.

Die Betreuung und Pflege zu Hause ist ein Feld, das sich aus dem Privaten heraus zu einem professionellen Feld entwickelt hat. Früher wurde die Betreuungsarbeit einfach von Frauen in den Familien zu Hause geleistet, unbezahlt versteht sich. Aber jetzt ist Pflege ein anerkannter Beruf, den man sogar studieren kann und für den man Geld bekommt. Und da wird dann immer alles plötzlich ganz schwierig.

Berufe in traditionellen Frauendomänen, wie Pflege oder Kinderbetreuung, werden von der Gesellschaft einfach weniger wertgeschätzt und schlechter bezahlt. Da gibt es ein großes Gefälle vom Prestige her und auch monetär betrachtet. Das ist ein Punkt, an dem man ansetzen sollte.

Die Politik und die Medienberichterstattung sollten sich mehr auf langfristige Lösungen und echte Gleichstellung fokussieren, nicht nur auf kurzfristige Maßnahmen. Emanzipation bedeutet, sich von unehrlichen Traditionen zu lösen.

Eine weitere Herausforderung ist der gesellschaftliche Wandel. Wie viel die Angehörigen da leisten, wird nicht genug gesehen. Die professionelle Betreuung macht nur einen Bruchteil der tatsächlichen Carearbeit aus. Was wir uns wünschen, ist mehr Anerkennung und Achtung. Wenn man das WHO-Ziel “Menschen ermöglichen zwei Jahre länger gesund zu Hause zu leben” erreichen will, dann müssen wir entsprechend unterstützt und ausgerüstet werden. Das ist ein klarer politischer Auftrag.

Vielen Dank für das Gespräch.

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