In vielen großen Familien sitzt irgendwo ein Egghead, eine Intelligenzbestie – und ein Glück für sie, wenn sie als solche erkannt wird. Bei den Khans aus New Orleans war das Superhirn Salman – »Sal«, wie ihn Freunde nennen. Sal wuchs bei seiner Mutter auf, die aus Kalkutta stammt und besuchte eine öffentliche Schule. Danach legte er gleich drei Abschlüsse am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) hin: in Mathematik, Elektrotechnik und Informatik. Nach einem weiteren Hochschulabschluss in Harvard wurde Salman sofort von einem Hedgefonds-Unternehmen engagiert, bei dem er fünf Jahre als Analyst arbeitete, ehe seine Cousine Nadia seinem Leben eine Wendung versetzte. Nadia brauchte Mathe-Nachhilfe, und weil sie in New Orleans, Sal jedoch in Boston saß, erledigten die zwei das Ganze mithilfe des Doodle-Notepads von Yahoo. Mit der Zeit klopften weitere Verwandte bei Salman an, auch sie benötigten seine Dienste. Um die Abläufe zu vereinfachen, zeichnete er seine Erklärungen mittels Video auf und stellte das Ganze auf YouTube.

Schon nach kurzer Zeit tauchten dort auch Kommentare von Fremden auf: »Das erste Mal, dass ich lache, während ich eine Ableitung zeichne«, schreibt einer. Daraufhin ein anderer: »Same here. Mathe fühlt sich auf einmal an wie eine Kung-Fu-Übung«. Sal kündigte seinen Job und rief die Khan Academy ins Leben. Seither hat er mehr als 140 Millionen Usern geholfen, über zwei Milliarden Schulprobleme zu lösen. Vor wenigen Jahren kürte ihn das amerikanische Forbes Magazine zu einem der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Kaum ein Zweiter versteht es, Wissen auf einen derart breiten Boden zu stellen, indem er Jugendliche abholt, die etwas länger brauchen als andere, wenn es darum geht, Mathematik, Naturwissenschaften oder historische Zusammenhänge zu verstehen. Sie können unzählige Male Khans Videos aufrufen und nach eigenem Tempo lernen, bis ihnen der Knopf aufgeht.

Auch der österreichische Bildungsexperte Andreas Salcher bezieht sich gern auf das Khan-Modell und sieht in dieser Wissensvermittlung einen Eckpfeiler für erfolgreiches Lernen. Das Geheimnis der Methode ist, so Salcher, dass sie »auf Augenhöhe« passiert. Kritiker sehen in diesem Lehransatz allerdings auch das Ende der Exzellenz und befürchten: Je stärker die Gleichschaltung des Wissens angestrebt werde, desto weniger Ausreißer werde es künftig nach oben geben. Die Kombination des traditionellen Schulsystems mit den Möglichkeiten einer Khan Academy erscheint sinnvoll. Mittlerweile hat das Khan-Prinzip zahlreiche Epigonen hervorgebracht, sodass fast jedes europäische Land in seiner Sprache Schüler unter Leidensdruck zu unerwarteten Erfolgen führen kann.

Besonders interessant im Zusammenhang mit digitalem Learning erscheint mir die berufliche Weiterbildung. Sie bringt mich zu einer der am lautesten postulierten Bemerkungen unserer Zeit, nämlich der des »lebenslangen Lernens«. Der Begriff wird überstrapaziert, weil damit insinuiert wird, dass die Generationen vor den Babyboomern selbst dann erfolgreich sein konnten, wenn sie sich weigerten, mit der Zeit zu gehen. Führt man jedoch vor Augen, dass die wichtigsten Erfindungen zwischen dem späten 19. Jahrhundert und den 1960er-Jahren stattfanden, weiß jeder, dass Menschen zu früheren Zeiten genauso gezwungen waren, sich weiterzubilden. Einer der relevantesten Unterschiede zur Jetztzeit aber ist, dass Modernisierungsverweigerer damals trotzdem weiterhin Arbeit fanden. Heute würden solche Personen vom Fortschritt abgehängt.

Und noch etwas, das darf gesagt werden – es wird der heutigen Generation leichter gemacht als jeder anderen vor ihr. Alles wird »spielifiziert«. Wir alle sind es mittlerweile gewohnt, Anwendungsflächen zu bedienen, auf denen Lämpchen oder Botschaften aufleuchten, die uns zum nächsten Schritt führen. Wie stark uns diese Form von Weiterbildung bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist, merkte ich bei meiner Befragung von Fabrikarbeitern, die Erfahrung mit Industrie-4.0-Prozessen gesammelt hatten. Ich wollte von ihnen wissen: »Müssen Sie sich stärker weiterbilden als früher?« Und zu meinem Erstaunen lautete die Antwort häufig »Nein«.55 Prozent hatten nicht das Gefühl, öfter als früher Schulungen ausgesetzt zu sein, obwohl es in der Natur von Digitalisierungsprozessen liegt, dass man sich ständig weiterbilden muss – allein deshalb, weil Software regelmäßig aktualisiert werden muss. Interessant, dass die meisten der Befragten diese in den Arbeitsalltag integrierten Lernprozesse als positiv empfanden. »Das ist gut«, »Würde gern noch mehr«, waren häufig getätigte Aussagen.

Dazu zwei Erklärungen. Mitarbeiter werden heute nur mehr im Ausnahmefall auf Schulungen geschickt, das meiste geschieht am Arbeitsplatz selbst. Das heißt: Es müssen keine Wochenenden oder sonstigen Tage geopfert, sondern maximal Überstunden eingeschoben werden. Und die bekommt man im Regelfall abgegolten. Digitale Weiterbildung erfolgt daher oft »bequemer« als analoge. Zweiter Punkt: Digitale Weiterbildung verläuft generationsübergreifend. Niemand kann – jedenfalls körperlich – zu alt oder zu jung sein, um von Technik- beziehungsweise Softwareschulungen bewusst ausgenommen zu werden.

Noch ein dritter Punkt fällt mir ein: Wertschätzung. Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird nicht als bloßer Modernisierungsschub, sondern als grundlegender Wandel wahrgenommen. Kein Wunder, dass sich Unternehmen in solchen Phasen bemühen, Verhalten zu scannen: Betriebsräte stehen in diesen heiklen Phasen in engem Austausch mit den Angestellten, Führungskräfte veranlassen etwas häufiger als sonst Befragungen, um die Stimmungen »im Haus« aufzugreifen. Bei Mitarbeitern kommen solche Bemühungen durchaus als Wertschätzung an. So fühlten sich etwa in meiner Studie 73 Prozent der Arbeitnehmer während des Strukturwandels ausreichend von ihren Vorgesetzten unterstützt. Also wahrgenommen und anerkannt.

Angesichts dessen, was theoretisch möglich ist, befinden wir uns in einer frühen Phase der Digitalisierung. Noch lässt sich das Thema Weiterbildung für die Betroffenen leicht in ein positives Licht rücken. Die Frage ist, wie lange diese Wertschätzung von außen anhält, bevor berufliche Weiterbildung zur Conditio sine qua non und keine Sekunde mehr eine Frage der Bereitschaft sein wird. Wir sollten uns nicht zu viel Zeit lassen, darüber nachzudenken.


Dieser Artikel ist ein Auszug aus »Error 404. Wie man im digitalen Dschungel die Nerven behält«, von Michaela Ernst (Ecowin), 235 Seiten, 22 Euro.

Error 404: So lautet die Fehlermeldung, die am häufigsten auftaucht, wenn man sich an den Hindernissen im digitalen Paralleluniversum die Zähne ausbeißt. Wo diese auftreten können, erfährt man in einem von A wie Amtswege über E wie emotionale Intelligenz bis Z wie Zeitersparnis. Error 404 ist ein Plädoyer, mit der Zeit zu gehen und diese mitzugestalten, »denn wer Veränderung nicht als Fremdkörper betrachtet, muss nicht dagegen anschwimmen.«