In einer Demokratie zu leben, ist ein Privileg

Franzi, wann hast Du das letzte Mal vehement widersprochen?

Das letzte Mal habe ich vehement widersprochen, als jemand in einer Unterhaltung sagte, dass die AfD vielleicht einfach mal an die Macht kommen müsse – so könnten wir alle sehen, was wir davon hätten. Mich hat das sehr erschreckt, denn wir wissen – nicht nur aus der Geschichte – was passieren kann, wenn wir Rechtsextremisten den Steigbügel hinhalten. Die Leichtfertigkeit, mit der solche Aussagen getroffen werden, halte ich für gefährlich. Und genau das habe ich dann gesagt.

Siehst Du angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien in Europa die Demokratie in Gefahr?

Ich glaube, dass es ein großes Privileg ist, in einer Demokratie zu leben. Und ich glaube, dass wir die Demokratie nie für selbstverständlich nehmen sollten. Wir müssen uns um sie kümmern, sie verteidigen – gerade jetzt. Und gleichzeitig müssen wir unterschiedliche Meinungen und Unsicherheiten aushalten können. Debatte gehört zur Demokratie.

„Ich glaube, dass es ein großes Privileg ist, in einer Demokratie zu leben. Und ich glaube, dass wir die Demokratie nie für selbstverständlich nehmen sollten.“

In Deinem Buch “Anleitung zum Widerspruch” behandelst Du große Themen wie das Leugnen des Klimawandels, Verschwörungstheorien oder Frauenfeindlichkeit – und wie man ihnen argumentativ begegnen kann.

Das Buch habe ich vor der Pandemie geschrieben, weil mir diese Themen im Alltag begegnet sind – in Kommentaren, in Mails, in Diskussionen, auf Podien, als Reaktionen auf Videos.  Damals hatte ich den Videoblog “Die besorgte Bürgerin”. Ich habe das Buch geschrieben, das ich mir damals gewünscht hätte.

Ist es Dir schon immer leichtgefallen, zu widersprechen?

Nein. Ich bin eigentlich kein konfrontativer Mensch. Ich kann es schwer ab, wenn irgendetwas querhängt und ich mich in ungelösten Konflikten wiederfinde. Aber noch schlimmer als ausgesprochene Konflikte sind unausgesprochene Konflikte und unausgesprochene Widerworte, wenn jemand zum Beispiel etwas Menschenfeindliches sagt. Mir wurde irgendwann klar, dass ich widersprechen, mich einsetzen kann und muss. Denn mir schlägt als privilegierte Person lange nicht dasselbe entgegen wie anderen Menschen.

Gibt es eine Debatte, die Dich besonders betroffen hat?

Schon in meinem Buch gibt es einen Abschnitt übers Impfen. Damals war die Pandemie nicht abzusehen, es ging beispielsweise darum, wie damit umzugehen ist, wenn Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen wollen. Im Größeren ging es also um die Frage, welche Verantwortung der oder die Einzelne für die Gesellschaft trägt. Mit Corona nahm diese Debatte ganz andere Ausmaße an.

Anfang 2021 hast Du als ehemalige Daimler-Managerin ein viermonatiges Sabbatical genommen, um für die Malteser deren Berliner Impfzentrum aufzubauen. Daraus ist ein gutes Jahr geworden, in dem Du das Impfzentrum geleitet hast. Was hast Du gelernt?

Ich habe gelernt, wie fantastisch es ist, ein komplett diverses Team zu haben. Denn dadurch waren wir auch viel besser in der Lage, auf die ganz unterschiedlichen Patient:innen einzugehen. Wir können uns jetzt kaum mehr vorstellen, wie viel Angst die Menschen damals hatten, ich ja auch. Wir wussten nicht, wie und wann sich die Lage entspannen wird.

Wie bist Du im Impfzentrum mit Konflikten umgegangen?

Wenn Menschen vor der Tür standen, schrien, weinten, sie wollten eine Impfung, aber noch nicht in der richtigen Priogruppe waren, war das schon eine Herausforderung. Wenn jemand Deine Mitarbeiter:innen anpöbelt, musst Du natürlich einschreiten. Ich habe mich immer wieder daran erinnert, dass wir in einer Ausnahmesituation sind, wir alle extrem verunsichert sind und diese Menschen vor allem auch aus Angst und eben dieser Unsicherheit handeln.

Hat das immer geklappt?

Manche Situationen konnte man gut miteinander für alle auflösen. Aber bei menschenfeindlichen oder diskriminierenden Aussagen muss man sehr deutlich und klar Grenzen ziehen; wenn zum Beispiel Mitarbeiter:innen rassistischen Angriffen in der Impfkabine ausgesetzt waren, wurde sehr klar Position bezogen.

„Ich habe gelernt, zu widersprechen und einzuordnen, wenn etwas gegen meine Werte geht.“

Was sagst Du Kritiker:innen, die Dir vorwerfen, Du würdest Meinungen verbieten?

Ich als Mensch verbiete keine Meinung, denn ich lebe in einem demokratischen Staat mit klarer Gesetzeslage. Wenn Menschen heutzutage sagen, Meinungen sind verboten, haben sie nach meiner Erfahrung ihre Meinung kurz zuvor meistens unbestraft aussprechen können. Ich habe gelernt, zu widersprechen und einzuordnen, wenn etwas gegen meine Werte geht. Meine rote Linie sind menschenverachtende Aussagen.

Viele Menschen denken, sie könnten nicht mehr offen sagen, was sie denken. Nur 48 Prozent der Deutschen glauben, ihre politische Meinung frei sagen zu können, 37 Prozent denken, vorsichtig sein zu müssen, der Rest ist unentschieden (Quelle: Allensbach Institut 2022).

Eine Gesellschaft entwickelt sich immer weiter. Bis zu einem gewissen Grad verstehe ich, dass das Leben in einer zunehmend komplexen Welt für Unsicherheit sorgt, aber ich sage auch sehr klar, dass antiprogressiver Backlash, wie er sich für mich gerade anfühlt, sehr viele Menschen und unsere Gesellschaft real gefährdet. Weil viele Menschen Angst haben müssen, wenn eine rechtspopulistische Partei an die Macht kommt, weil es da ganz konkret um Freiheiten, Rechte und klare Bedrohung geht. Diese Themen müssen wir genauso bedenken, wenn wir in Debatten alle mitnehmen wollen.

Politische Meinungsverschiedenheiten können Familien zerrütten. Wie wichtig ist Dir Harmonie?

Es ist fürchterlich, wenn sich Familien zerstreiten. Solche Entscheidungen sind aber immer individuell und schwer zu verallgemeinern. Was ich sagen kann, ist, dass man durch enge Bande, Vertrauensverhältnisse, soweit vorhanden, manchmal auch noch jemanden für andere Meinungen erreichen kann. Gleichzeitig kann und sollte niemand künstliche Harmonie aufrechterhalten, wenn es immer auf die eigenen Kosten geht.

Kürzlich wurde die Expat-Insider-Studie veröffentlicht, die besagt, dass Expats sich in Deutschland nicht wohlfühlen. Was können wir uns hier von anderen Ländern abschauen?

Eine mögliche Lösung lässt sich nicht auf wenige Zeilen herunterbrechen. Natürlich spielen Organisationen eine wichtige Rolle, mit ihren Maßnahmen, mit Anti-Diskriminierungsarbeit in allen betrieblichen Abläufen, mit einer nachhaltig gestalteten DEI-Strategie. Aber dass sich alle Menschen hier wohlfühlen, geht über den Arbeitsplatz hinaus, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen uns alle fragen, was wir dazu beitragen können, dass sich Menschen in Deutschland willkommen fühlen. Denn dass sie nicht hierbleiben wollen, sich hier nicht erwünscht fühlen, das betrifft ja nicht nur den Job, sondern auch alle anderen Lebensbereiche.

„Je mehr wir uns zurückziehen, umso mehr überlassen wir denjenigen das Feld, die es für andere, undemokratische Zwecke nutzen.“

Für Dein Engagement bist Du auch heftig angegriffen worden. Warum engagierst Du Dich trotzdem?

Ich habe über die Jahre sehr viel über Hass und über mich gelernt. Was ich aushalten muss, was ich nicht aushalten muss, also gar nicht erst lese. Und dabei weiß ich, dass ich nur einen Hauch dessen aushalten muss, was andere Menschen aushalten müssen. Einen kompletten Rückzug – online wie offline – kann man von mir jedoch nicht erwarten. Denn je mehr wir uns zurückziehen, umso mehr überlassen wir denjenigen das Feld, die es für andere, undemokratische Zwecke nutzen. Es lohnt sich, zu widersprechen. Und wir sollten nie aufhören, miteinander zu sprechen.

Das Interview führte Julia Hägele.


Über die Person:

Franzi von Kempis ist Journalistin, Autorin und seit 2022 Geschäftsführerin der Charta der Vielfalt e.V. “Überzeugungstäterin” nannte sie der Tagesspiegel in einem Porträt 2022. Ihr beruflicher Weg führt sie dorthin, wo sie Teams und Themen mit aufbauen und Wirkung erzeugen kann. So war sie als Chefin vom Dienst für t-online.de zuständig, bevor sie 2020 bei der Daimler AG den Aufbau des Daimler Mobility Labs übernahm. In der Tat macht die Kommunikationsexpertin alles, was sie anfasst, mit Leidenschaft und aus Überzeugung. Ihre vielleicht ungewöhnlichste berufliche Entscheidung: Im Pandemiewinter 2021 ihren Job zu kündigen und in Berlin ein Impfzentrum mit aufzubauen und zu leiten. Seit 2022 setzt sie sich jeden Tag als Co-Geschäftsführerin des Charta der Vielfalt e.V. für Diversität und Inklusion in der Arbeitswelt ein, damit diese Themen die Bedeutung bekommen, die sie verdienen. Bekannt ist sie auch als Meinungsmacherin: Als „Besorgte Bürgerin“ kommentierte die Journalistin mit viralen Videos das politische Geschehen und setzte sich gegen Hass im Netz ein. In ihrem Buch „Anleitung zum Widerspruch“ liefert sie Argumente gegen Vorurteile und Populismus. Außerdem berät sie Organisationen zu den Themen Leadership, Demokratie, KI und Kommunikation/Social Media.

Am 12. Oktober ist Franzi von Kempis zu Gast beim Authors-MeetUp auf der herCAREER Expo.

Der Beitrag ist Teil einer Content Kooperation von Sheconomy & herCAREER und wurde zuvor bereits auf www.her-career.com veröffentlicht.