Unser Nervensystem, die Grundlage unseres Bewusstseins, ist die wichtigste Variable jeder Sekunde unseres Lebens. Es entscheidet, wie wir die Welt wahrnehmen, wie gesund wir sind, wie verbunden wir uns fühlen und wie gut wir mit Herausforderungen umgehen können. Und dabei geht es nicht nur um das Gehirn, unsere Schaltzentrale, sondern vor allem um das autonome Nervensystem, das tief in unserem Körper verankert ist.
Und genau hier sind Frauen oft im Vorteil. Denn das Thema Körperbewusstsein – manchmal sogar überbetont, wenn wir etwa an die Verteilung von Essstörungen denken – ist nach wie vor weiblich geprägt. Auch wenn sich das langsam ändert (immerhin steigen die Männerzahlen in Yoga- oder Achtsamkeitskursen): Viele Frauen sind weniger auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtet, können besser mit sich selbst sein und sind geübter darin, sich im Sinne von Selfcare etwas Gutes zu tun.
Was wir brauchen, um uns zu regulieren, wissen wir meist sehr genau: ein Bad, ein Waldspaziergang, ein Gespräch mit der besten Freundin. Und doch greifen wir – wenn der Druck steigt – oft lieber zum Schokoriegel oder zum zweiten Glas Wein. Wir betäuben emotionale Bedürfnisse, überschreiben körperliche Grenzen, bleiben hart, weil wir glauben, den Anforderungen der Welt sonst nicht standhalten zu können. Wir rotieren auf fünf Espressi, leben unsere feminine Seite, sind empathisch und souverän, authentisch – und gleichzeitig Freundin, Partnerin, Mutter, Tochter, Chefin.
Stress? Ja, klar – gehört dazu.
Bis zu einem gewissen Punkt ist Stress sogar positiv – Eustress kann uns kreativer und fokussierter machen. Aber wenn er dauerhaft wird, ohne Phasen der Erholung, sprechen wir von Distress. Und der ist nachweislich krankmachend: Schlaf- und Verdauungsstörungen, Hormonungleichgewicht, Verspannungen, Hautreaktionen oder Bluthochdruck – alles Symptome, deren Zusammenhang mit Stress wissenschaftlich belegt ist.
Trotzdem beugen wir uns noch dem zwölften To-do des Tages. Sich gebraucht fühlen, viel auf dem Zettel haben, Engagement zeigen – das fühlt sich richtig an in einer Welt, in der Leistung die Hauptwährung ist. Erholung wird zur Belohnung, Lob gibt es für Effizienz. Und Selfcare? Rutscht schnell in die nächste Aufgabe, die es irgendwie zu bewältigen gilt.
Das Nervensystem: unser inneres Navigationssystem
Unser Nervensystem ist viel mehr als ein Reiz-Reaktions-Mechanismus. Es ist Kontrollinstanz, Gefahrenscanner, emotionaler Kompass und Wartungsteam in einem. Früher war es der Säbelzahntiger, heute sind es E-Mails, Stau, Termindruck. Sobald unser Nervensystem eine Bedrohung wahrnimmt, schaltet es auf Kampf oder Flucht – das Herz schlägt schneller, Sauerstoff wird in die Muskeln gepumpt, wir sind bereit für Aktion.
Und dann? Dann sitzen wir trotzdem weiter im Meeting. Oder im Auto. Oder vor dem Bildschirm. Wir halten aus, obwohl alles in uns Alarm schlägt. Die Natur hat nicht vorgesehen, dass wir Tag für Tag wiederholen, was uns offensichtlich nicht guttut.
Warum tun wir es trotzdem?
Weil wir es so gelernt haben. Weil wir es gewohnt sind. Weil es sicherer erscheint, sich anzupassen, zu funktionieren, weiterzumachen. Und weil es an Ressourcen mangelt, die uns Alternativen zeigen würden.
Viele von uns haben früh verinnerlicht, dass Leistung Zuneigung bringt. Dass gute Noten oder gesellschaftlich „passende“ Hobbys mehr zählen als persönliche Neigung. Und so lernen wir nicht, in uns hinein zu spüren, sondern möglichst gut nach außen zu wirken. Später fehlt dann der innere Radar für echte Bedürfnisse.
Hinzu kommt: Wer sich aufrichtig mit sich selbst beschäftigt, begegnet nicht nur Authentizität, sondern auch alten Verletzungen, ungeliebten Mustern, tiefer Angst. Und das kann herausfordernd sein. Also lieber funktionieren.
Und dann gibt es da noch die äußeren Faktoren: strukturelle Benachteiligung, finanzielle Unsicherheit, ein „Nein“, das als Schwäche ausgelegt wird. Der Mangel an Selbstwirksamkeit ist enorm – obwohl wir innerlich längst spüren, dass etwas nicht mehr stimmt.
Kleine Ablenkungen, große Wirkung
Wir reagieren – bewusst oder unbewusst – mit kurzfristigen Kompensationsstrategien: Frustessen, exzessiver Sport, rigide Diäten, übermäßiger Medienkonsum, Streitlust. Alles, was uns kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle oder Entlastung gibt. Und langfristig in die Erschöpfung führt.
Was es bräuchte, ist keine radikale Wende, sondern eine andere Haltung: neugierige Offenheit. Die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen, ohne gleich etwas zu ändern. Sich wahrzunehmen, ohne Urteil. Sich zu beruhigen, ohne sich zu betäuben.
Denn: Selbstregulation ist lernbar. Achtsamkeit, Atemtechniken, Bewegung, Berührung – alles einfache Tools, deren Wirkung neurobiologisch nachweisbar ist. Und die uns helfen können, in einem Moment des inneren Chaos wieder in Verbindung zu kommen: mit uns selbst.
Fight, Flight… und dann?
Viele Frauen lieben – bewusst oder unbewusst – den aktivierten Zustand. Der Sympathikus feuert, Adrenalin fließt, wir sind wach, aktiv, produktiv. Nur: In diesem Modus ist auch unsere Amygdala besonders aktiv – das Zentrum für Angst und Alarm. Und die hemmt unseren präfrontalen Kortex – den Teil des Gehirns, der für Logik und Besonnenheit zuständig ist.
Wir treffen dann schlechtere Entscheidungen, sagen Dinge, die wir später bereuen, fühlen uns schnell angegriffen. Was kurzfristig hilft: körperliche Entladung. Sich ausschütteln. Bewegen – nicht bis zur Erschöpfung, sondern gezielt. Tanzen. Dehnen. Laut Musik hören. Auch sensorische Reize wie kaltes Wasser an den Händen oder der Duft einer Frühlingsblume regulieren messbar unsere Stressreaktion.
Denn: Der Körper ist immer im Jetzt. Und er ist ehrlich. Während Gedanken endlos kreisen können, kennt der Körper nur drei Grundreaktionen: hin zu, weg von oder bleiben. Zumindest den Fluchtreflex können wir ausagieren – etwa indem wir kurz den Raum verlassen, durchatmen, uns die Hände waschen.
Was das Nervensystem alles weiß (und wir nicht)
Unser Nervensystem überwacht permanent unseren inneren Zustand: Blutzucker, Hormone, Mikronährstoffe, Darmflora – ununterbrochen werden Daten erfasst und ausgewertet. Was am Ende bei uns ankommt, ist oft ein diffuses „Ich bin nicht gut drauf“. Die Gründe dafür sind vielfältig – biografisch, systemisch, aktuell.
Und das Ergebnis ist immer das Gleiche: Dysregulation.
Was dann hilft, ist erstaunlich einfach – und erstaunlich wirksam:
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Neugier statt Urteil: Spüren, wo im Körper etwas wahrnehmbar ist – ein Ziehen, ein Druck, ein Kribbeln. Und einfach nur hinschauen.
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Benennen statt Wegdrücken: In der Fachliteratur nennt man es „Name it to tame it“. Wenn wir benennen, was wir fühlen, reguliert sich unser Nervensystem. „Ich spüre Wut. Ich nehme Enttäuschung wahr.“ Schon das macht einen Unterschied.
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Schreiben: Journaling – also freies Schreiben über ein Thema, das uns beschäftigt – senkt nachweislich Stress. Schon 15 Minuten täglich über vier Tage bringen mehr Klarheit, emotionale Entlastung, mehr Gelassenheit.
Das alles braucht keine Perfektion, sondern Praxis.
Denn unser Nervensystem lässt sich nicht überlisten – aber es lässt sich trainieren. Und je mehr wir verstehen, wie es funktioniert, desto besser können wir mit ihm statt gegen es leben. Unser Regulationsgrad – also wie gut wir uns selbst beruhigen und in Balance bringen können – steht in direktem Zusammenhang mit Gesundheit, Zufriedenheit, Beziehungsqualität und Selbstwert. Es ist eine Superkraft, die wir aktivieren können.
Und Frauen? Sind hier oft einen Schritt weiter.
Nicht, weil sie „besser“ wären, sondern weil sie sich eher trauen, hinzusehen. Empathie, Flexibilität, Selbsterkenntnis – all das sind Fähigkeiten, die auch für die innere Regulation entscheidend sind. Gerade unter Druck.
Zur Autorin:
Julia Rathjen ist Therapeutin für angewandte Neurowissenschaften und arbeitet in privater, traumasensibler Praxis in Berlin und online. Ihr Fokus liegt auf interpersoneller Neurowissenschaft und körperorientierter Begleitung bei Selbstzweifeln, Ängsten und emotionaler Überlastung. Mit Triggers With Attitude (TWA) berät sie Unternehmen, Start-ups und Organisationen dabei, wie mentale Gesundheit, Potenzialentfaltung und gelingende Teamdynamik gehirngerecht und nachhaltig gestaltet werden können.