Konflikte gehören zum Arbeitsalltag, aber sie anzusprechen, fällt oft schwer. Wann lohnt sich ein Gespräch wirklich? Wird das eskalieren? Oder interpretiere ich gerade etwas über? Viele Menschen zögern – aus Unsicherheit, aus Gewohnheit oder weil es an klaren Kommunikationsstrukturen fehlt. Dabei wären viele Konflikte halb so wild, wenn man sie frühzeitig und offen ansprechen würde.
Julia Tolson, Business Coachin und People & Culture-Expertin, weiß aus ihrer Arbeit: „Oft macht erst unsere Zurückhaltung eine Kleinigkeit zu einem echten Problem. Viele Konflikte erledigen sich fast von selbst, wenn wir den Mut finden, sie in einem sicheren Rahmen offen anzusprechen.“
Im Interview spricht sie darüber, was eine gesunde Streitkultur ausmacht, warum emotionale Intelligenz trainierbar ist – und welche konkreten Tools und Haltungen Teams helfen, Konflikte als echte Chance für Entwicklung zu nutzen.
Frau Tolson, in Ihrer Arbeit mit Teams und Führungskräften: Was sind typische Konfliktherde, die Ihnen immer wieder begegnen?
Typische Themen sind unklare Verantwortlichkeiten, Jobüberschneidungen oder Ressourcenverteilung – also ganz praktische Fragen wie: Wer macht was, und wie teilen wir das auf? Gleichzeitig geht es oft um zwischenmenschliche Aspekte: „Ich fühle mich nicht gehört“, „Entscheidungen werden über meinen Kopf hinweg getroffen“. Auch im Umgang mit Kunden, etwa im Außendienst, entstehen immer wieder Spannungen. Und innerhalb von Teams treffen unterschiedliche Persönlichkeiten, Kommunikationsstile und Arbeitsweisen aufeinander – da kommt schnell einiges zusammen.
„Konflikte verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.“
Warum tun sich viele Teams schwer, Konflikte offen anzusprechen?
Weil wir es nie wirklich gelernt haben. Wir sind soziale Wesen und suchen Harmonie und Zugehörigkeit. Konflikte fühlen sich bedrohlich an. Deshalb ist die erste Reaktion oft: ausweichen, runterspielen oder „schnell vom Tisch haben“. Aber Konflikte verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert. Sie schwelen weiter und können langfristig eskalieren – bis sie Zusammenarbeit blockieren oder wirtschaftliche Folgen haben.
Sie sagen, Konflikte können auch eine Chance für bessere Zusammenarbeit sein. Wie meinen Sie das?
Wenn es im Team eine gesunde Streitkultur gibt, ist das ein Zeichen für psychologische Sicherheit: Menschen trauen sich, ihre Meinung zu sagen, sich einzubringen, Verantwortung zu übernehmen. Das fördert Beteiligung, Innovation, Kreativität – und letztlich auch die Zufriedenheit und das Wachstum jedes Einzelnen. Konflikte sind in diesem Sinne kein Problem, sondern ein wichtiger Entwicklungsmotor.
Was braucht es, damit Teams Konflikte nicht als Störung, sondern als Chance begreifen?
Es beginnt mit einem Perspektivwechsel und der Bereitschaft zur Selbstreflexion: Wie gehe ich selbst mit Konflikten um? Was sind meine Muster? Dahinter stehen oft tiefe Bedürfnisse wie Anerkennung oder Zugehörigkeit. Wenn diese verletzt werden, reagiert unser Nervensystem mit Stress – wir gehen in den Modus „Kampf, Flucht oder Erstarren“. Wenn Teams lernen, Emotionen besser einzuordnen und mit ihnen umzugehen, können sie Konflikte differenzierter betrachten und bewusster reagieren.
„Wenn Frauen in Führung gehen, entsteht oft ein anderes Miteinander.“
Und emotionale Intelligenz spielt dabei eine zentrale Rolle?
Absolut. Und das Gute ist: Sie ist trainierbar. Ich bin ein großer Fan davon, sogenannte „Human Skills“ wie Selbstwahrnehmung, Empathie oder bewusste Kommunikation proaktiv zu trainieren – bevor Konflikte eskalieren. Das kann über Workshops, Tools oder kleine Routinen im Alltag geschehen. Entscheidend ist, dass diese Fähigkeiten nicht als Soft Skills am Rand laufen, sondern integraler Bestandteil der Unternehmenskultur werden.
Emotionale Intelligenz gilt oft als besondere Stärke vieler Frauen. Welche Rolle spielt das in der Streitkultur?
Wenn Frauen in Führung gehen, entsteht oft ein anderes Miteinander. Empathie, Fürsorge, der Umgang mit Emotionen – das sind Qualitäten, die vielen Frauen gesellschaftlich zugeschrieben werden. Wichtig ist aber: Frauen dürfen und sollen auch klar, deutlich und direkt kommunizieren dürfen. Eine gesunde Streitkultur braucht beides: Klarheit und Empathie. Frauen können hier eine wichtige Vorbildrolle übernehmen und zeigen, dass Konfliktfähigkeit nichts mit „zu hart“ oder „zu weich“ zu tun hat. Es geht darum, ehrlich anzusprechen, was ist – und gemeinsam Lösungen zu finden.
Welche konkreten Strategien oder Tools empfehlen Sie für den Alltag?
Ein einfacher Start ist ein gemeinsames Gespräch im Team: „Wie wollen wir mit Konflikten umgehen?“ Und zwar nicht erst, wenn es schon kracht, sondern präventiv. Daraus können Guidelines entstehen: etwa, dass Konflikte möglichst zeitnah angesprochen werden, oder welche Eskalationsstufen es gibt.
Hilfreich ist auch die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg: in Ich-Botschaften sprechen, Bedürfnisse benennen, nicht bewerten. Und: Regelmäßige Check-ins im Team, z. B. einmal im Monat die Frage: „Wie geht’s uns gerade?“ Das wirkt oft Wunder.
Was hilft in akuten Situationen, um den ersten Druck rauszunehmen?
Zuerst: das Nervensystem beruhigen. Atemübungen, ein kurzer Spaziergang, Bewegung – all das hilft, aus der Stressreaktion rauszukommen. Auch das Aussprechen der eigenen Gefühle kann helfen. Im Englischen sagt man: „You name it to tame it“. Wenn wir benennen, was in uns los ist, wird es greifbarer – und weniger überwältigend. Danach kann man mit Abstand entscheiden, wie und wann man das Gespräch sucht.
Was raten Sie, wenn jemand im Team Konflikte komplett vermeidet?
Das ist oft ein Muster, das schon lange besteht. Da braucht es Geduld und kleine Schritte. Führungskräfte spielen hier eine zentrale Rolle: Sie müssen einen sicheren Raum schaffen, in dem Gespräche überhaupt möglich sind. Aktives Zuhören, ehrliches Interesse, Fragen stellen: „Wie geht’s dir damit?“ Das hilft, Vertrauen aufzubauen. Und ganz wichtig: Konflikte müssen nicht sofort gelöst werden, aber sie sollten angesprochen werden dürfen.
Was können Führungskräfte tun, um eine gesunde Streitkultur vorzuleben?
Indem sie es sichtbar machen. Also nicht nur reagieren, wenn’s kritisch wird, sondern auch im Alltag über Zusammenarbeit, Spannungen oder Bedürfnisse sprechen. Genau da ist noch viel Entwicklungsmöglichkeit in vielen Unternehmen. Wenn eine Führungskraft zeigt: „Ich nehme mir die Zeit, zuzuhören und offen zu kommunizieren“, dann setzt das den Ton für die gesamte Kultur.
Und was sind No-Gos im Umgang mit Konflikten?
Persönliche Angriffe. Wenn Kritik nicht an Verhalten oder Situation, sondern an der Person ansetzt, wird es schnell destruktiv. Genauso problematisch: Konflikte ignorieren oder sie eskalieren lassen. Wer im Hitzemoment weiter Druck macht statt kurz rauszugehen, verschärft die Lage oft unnötig. Es braucht Ruhe, Reflexion und einen klaren Rahmen.
Ihr wichtigster Tipp für Menschen, die Konflikte eher vermeiden:
Starte im Kleinen. Fang an, deine eigenen Bedürfnisse zu benennen und ein Vokabular dafür zu finden. Viele Menschen haben nie gelernt, überhaupt auszusprechen, was ihnen wichtig ist. Üb das zuerst im sicheren Umfeld, mit Kolleg*innen oder privat. Und hol dir gegebenenfalls Unterstützung – ob durch Coaching, Training oder Gespräche. Es geht nicht um Konfrontation, sondern um Klarheit, Verbindung und Entwicklung.
Zur Person:
Julia Joy Tolson ist ICF-zertifizierter Business Coach, Expertin für People & Culture sowie Trainerin für emotionale Intelligenz, Achtsamkeit und stressbewusstes Arbeiten. Aufgewachsen in Großbritannien und Österreich, mit Stationen in internationalen Konzernen und Agenturen, bringt sie über 12 Jahre Berufserfahrung mit – davon acht im Bereich People & Culture, zuletzt in europäischer Leitungsfunktion bei einer führenden Outdoor-Sportmarke. Ihr Fokus liegt heute auf der Verbindung von persönlicher Weiterentwicklung und unternehmerischem Wachstum. Tolson vereint fundiertes Wissen aus Neurowissenschaft, Business, Coaching und Mindfulness mit gelebter internationaler Erfahrung – und steht für eine moderne, menschenzentrierte Arbeitskultur.