Das Gegenstück zum im ersten Teil beschriebenen Sympathikus ist der Parasympathikus,
unser beruhigender Teil des Nervensystems, der zum Hauptteil aus dem sogenannten Vagusnerv besteht – unserem längsten Nerv überhaupt. Der Vagus, wie der Vagabund, ist der „wandernde Nerv“, da er, ausgehend vom Hirnstamm (einem sehr alten Teil unseres
Gehirns, den schon Reptilien besaßen), an den Halsseiten entlang Richtung Lunge, Herz und weiter bis in den Bauchraum zieht – die Organe enervierend bis zum Darm.
Seine Erforschung revolutioniert aktuell zahlreiche Bereiche der Medizin: von Psychosomatik über Autoimmunerkrankungen, Demenz und Traumatherapie bis hin zu den Neurowissenschaften hinter Wohlbefinden, Heilung und Verbundenheit – jene Ressource, die wir für ein langes, gesundes Leben am meisten brauchen, wie eine über 85 Jahre laufende Studie der Harvard-Universität belegt.
Soziale Verbindung statt Kampf und Flucht
Ist der Vagus aktiv, sagt er uns: Du bist sicher. Du kannst vertrauen, dich öffnen, durchatmen. Das sogenannte social engagement system, das es uns erlaubt, Mimik, nonverbale Signale und Zuneigung – zum Beispiel über unsere besonders weiche Stimme – zu übermitteln, ist aus neurologischer Sicht unser Zielzustand. Das erklärt auch die hohe Stimme im Streit oder das ausdruckslose Gesicht bei Burnout: In solchen Momenten sind wir unverbunden – von anderen und von uns selbst entfernt.
Wie also zurück ins Wohlbefinden? Über den Körper. Denn der Vagus (mehr Netzwerk als einzelner Nerv) besteht zu 80 Prozent aus sogenannten afferenten Fasern – sie transportieren Informationen vom Körper zum Gehirn, nicht umgekehrt. Das bedeutet: Wie wir atmen, stehen, wie sich unser Herzrhythmus verändert – all das beeinflusst, was unser Gehirn über unsere Lage denkt. Verändern wir diese Signale bewusst, verändert sich unser Stresserleben. Denn Sicherheit ist kein rein kognitiver Zustand à la „Da ist kein Tiger, also bin ich ruhig“. Nein, bist du nicht. Sicherheit ist immer verkörpert.
Unser Nervensystem lässt sich nicht überreden. Es will Erfahrungen. Es will spüren – und dann ermöglicht es uns Leichtigkeit, Heilung, Verbundenheit, Kreativität. Unsere Regulationsfähigkeit korreliert direkt mit Immunsystem, Hormonhaushalt, Herz Kreislaufsystem – und damit mit unserer allgemeinen Leistungsfähigkeit.
Gerade für Frauen* ist dieses Thema nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich aufgeladen. Viele von uns haben früh gelernt zu deeskalieren. Zu lächeln, obwohl innerlich alles schreit. Beziehungen zu regulieren, Systeme zu stützen, Grenzen zu verhandeln, die nie als solche respektiert wurden. Der Vagus ist dabei nicht neutral – er passt sich an. Wer gelernt hat, dass Sicherheit durch Anpassung entsteht, hat oft ein Nervensystem, das in ständiger Habachtstellung bleibt.
Das ist keine persönliche Schwäche, sondern gelernte Biologie. Eine Anpassungsleistung.
Aber: Alles, was gelernt wurde, kann auch neu verkörpert werden. Der Vagusnerv ist plastisch. Wir können ihn stimulieren, stärken, pflegen – nicht mit Optimierungsdruck, sondern mit sanfter Wiederverbindung. Mit Übungen, die nicht auf Leistung, sondern auf Lebendigkeit zielen.
Was der Vagus liebt
Der Vagus liebt: langsame Ausatmung, Summen, Singen, Schlucken, Berührung, warmes Essen, aufrechte Haltung, Augenkontakt mit Menschen, die uns wohlgesonnen sind.
All das sendet die Botschaft: Ich bin sicher. Ich darf sein.
Diese Praktiken sind keine Esoterik, sondern neurobiologische Selbstfürsorge. Sie helfen, zwischen Erregung und Entspannung zu pendeln – statt im einen oder anderen Zustand stecken zu bleiben. Die Polyvagale Theorie nennt das „neurozeptive Sicherheit“ – die Fähigkeit unseres Nervensystems, unterschwellig zu erkennen: Hier ist ein Ort, an dem ich loslassen kann.
Was bedeutet das konkret?
- Wenn du nach einem anstrengenden Meeting leise summend durch die Wohnung gehst, unterstützt du deinen Vagus.
- Wenn du nach einem Konflikt deinen Blick weich werden lässt und langsam ausatmest, veränderst du deine innere Chemie.
- Wenn du dich liebevoll berührst – mit einer Hand auf dem Herzen, einer auf dem Bauch –, gibst du deinem Körper ein Signal, das er verstehen kann: Du bist nicht allein.
Neurobiologische Tools für den Alltag
Mikrogesten zur Selbstverhandlung, die die Geschichte neu schreiben. Nicht, indem sie das Erlebte löschen – sondern indem sie neue Kapitel aufschlagen. Und diese drei Übungen sind so unscheinbar, dass sie selbst in Meetings kaum auffallen – bei gleichzeitig spürbarer Wirkung.
- Die 4-7-8-Atmung klingt simpel, ist aber ein neurophysiologisches Wunderwerk: Einatmen durch die Nase für 4 Sekunden, Atem anhalten für 7, ausatmen durch leicht geöffnete Lippen für 8 Sekunden – drei Durchgänge reichen aus. Das verlängerte Ausatmen aktiviert direkt den Vagusnerv. Studien der Stanford Medical School zeigen: Schon nach wenigen Minuten steigt der Vagustonus messbar an.
- Mikro-Bewegungen für Makro-Veränderungen – inspiriert von Studien aus der Somatic-Experiencing-Praxis: Bewege ganz bewusst deine Zehen – winzig, kaum sichtbar – während du scheinbar aufmerksam zuhörst (was du ja auch wirklich tust). Sanft nach vorne, zur Seite, kreisend. Diese Mikroaktivierung des Bewegungsapparats signalisiert dem Gehirn: „Es ist sicher, sich zu bewegen.“ Das System versteht: „Wir müssen nicht erstarren. Wir haben Handlungsfähigkeit.“
Dazu kommt: Während du diese winzigen Bewegungen machst, verändert sich auch deine Mimik – fast unmerklich. Dein Gesicht entspannt sich, deine Augen öffnen sich. Andere nehmen das unterbewusst wahr – und reagieren positiver auf dich. Ein neurobiologischer Bonus für deine Executive Presence.
- Die 30-Sekunden-Kältedusche fürs Gesicht (oder die diskrete Variante): Einer der stärksten Vagus-Stimulatoren ist der Tauchreflex – kaltes Wasser im Gesicht aktiviert sofort den Vagusnerv. Im Büro schwer umsetzbar? Kein Problem: Halte für 30 Sekunden den Boden einer kalten Wasserflasche an dein Handgelenk oder in den Nacken. Oder lege unauffällig kalte Hände an deine Wangen, während du „nachdenklich“ wirkst. Der Kältereiz löst eine sofortige Vagusreaktion aus – Herzfrequenz sinkt, Atmung vertieft sich, der Körper registriert: „Wir sind nicht in Gefahr.“ (Pro-Tipp: Im Sommer Coolpacks in den Kühlschrank legen.)
Der Körper lernt – langsam, aber nachhaltig
Wer ständig funktioniert, Dinge runterschluckt, im Hamsterrad rennt, wird das Training des Vagusnervs zunächst als ungewohnt oder sogar unangenehm empfinden. Wir lernen eine neue Sprache – die unseres Bewusstseins, Fühlens, Denkens, Körpers – und beginnen, unsere Grenzen früher zu spüren. Wir sagen eher Nein. Wir suchen Resonanz statt Anpassung – und hören auf, das Nervensystem als reine Privatbaustelle zu betrachten.
Kollektives Trauma, strukturelle Ungerechtigkeit, Reibungsverluste in starren Hierarchien – all das trägt zu unserer Dysregulation bei. Dieses Wissen kann wiederum Unternehmenskulturen verändern: Strukturen aufbrechen, neue Paradigmen leben – aufblühen, ankommen. Gerade in weiblich sozialisierten Biografien liegt darin eine stille Revolution: die Rückeroberung des inneren Raums. Das Aufrichten. Nicht als Pose – als Praxis.
Der Vagus ist kein reiner Entspannungsnerv – und schon gar kein Heilsversprechen. Aber er ist ein Möglichmacher. Eine Einladung, vielfach in Studien belegt. Eine, die sagt: Du bist nicht defekt. Du bist geformt worden. Und du darfst dich neu formen. Mit Mitgefühl. Mit Praxis. Mit Wissen.
Ein gut trainierter Vagusnerv hilft uns, emotional flexibel und sozial engagiert zu bleiben – selbst unter Druck. Wir nennen das die „vagale Bremse“ – die Fähigkeit, den Sympathikus (unser Gaspedal) bewusst herunterzuregulieren. Wir werden charismatischer, weniger reaktiv, authentischer. Wir hören besser zu. Herausforderungen wirken weniger bedrohlich. Teams unter einer Führungskraft mit vagaler Stärke berichten von mehr Zufriedenheit – und geringerer Fluktuation.
Raus aus dem Abgestumpften. Der gespielten Härte. Abends nur noch fähig zu Netflix, Wein oder Schokolade – das ist Freeze und Shutdown, die Zustände des ältesten Teils unseres Vagus – vergleichbar mit dem Totstellreflex bei Reptilien. Die Batterie ist leer. Und perfiderweise wird dieses Nichtfühlen in unserer toughen Welt oft noch belohnt. Bloß keine Unsicherheit zeigen. Ellenbogen raus.
Was es jetzt braucht, ist ein Reset für unser Nervensystem – und die Arbeit an unserer mentalen und körperlichen Gesundheit. (Deren Trennung ist ein Irrtum des 20. Jahrhunderts – mehr dazu in den nächsten Kolumnen.) Nicht härter werden. Sondern weicher. Nicht anpassen. Sondern antworten. Uns besinnen – auf den Moment – in einer Welt, die oft zu viel ist. Denn das ist keine weitere Optimierung. Kein neues Leistungsziel. Sondern ein tiefes Verständnis unseres autonomen Nervensystems. Es zeigt: Wir können nicht dauerhaft auf dem Gas bleiben. Wir brauchen den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Zwischen Sympathikus und Parasympathikus. Das ist kein Luxus. Das ist normal. Und biologisch alternativlos.
Statt 27 neuer Wellness-Praktiken im ohnehin vollen Kalender: Einfach nur Bewusstheit. Wir verbinden uns mit Körpersignalen, statt sie zu unterdrücken. Wir hören dem Körper zu, wenn er spricht – und erinnern uns im Alltag regelmäßig, kurz nachzufragen: Wie geht’s mir gerade? Wo spüre ich was? Interozeption – also die Fähigkeit, uns selbst differenziert zu spüren – ist trainierbar. Wie alles, was wir regelmäßig tun.
Zur Autorin:
Julia Rathjen arbeitet in privater, traumasensibler Praxis in Berlin und online an Symptomen von Burnout und ADHS. Bei www.athinline.berlin liegt der Fokus auf Stress, Selbstzweifeln und -sabotage, unliebsamen Coping-Mechanismen und emotionaler Belastung. Sie berät außerdem Unternehmen, Verbände und Start-ups zur Frage, wie wir in uns selbst, ins Team, in Arbeitsabläufen, Identität und Organisationskultur zu mehr Gesundheit und Potentialentfaltung gelangen. Für gehirngerechten Change und effiziente, radikal menschliche Führung.