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„Es krankt an der Kommunikation in unserem Gesundheitssystem“

Die Expertin für Long-Covid-Erkrankungen Dr. Jördis Frommhold im Gespräch mit „SHEconomy“-Herausgeberin Yvonne Molek: Sie fordert spezifische Lehrstühle für medizinische Rehabilitation an den Universitäten sowie die Förderung von transsektoraler Arbeit mit der Verknüpfung von Reha- und Akutmedizin.

In einer Phase, in der wir uns das „normale“ Leben wieder erwartet hätten, bereiten alarmierende Zahlen Grund zur Sorge. Auf ein offensichtlich unzureichend vorbereitetes Gesundheitssystem rollt eine Lawine an Patienten zu, die mit Long COVID Erkrankungen zu kämpfen haben. Zahlreiche offene Fragen warten darauf, beantwortet zu werden: nach der eindeutigen Diagnose und der passenden Therapie. Aber vor allem: wie steht es um die notwendigen REHA-Einrichtungen.

Dr. Jördis Frommhold gilt als eine der Kapazitäten für Long COVID. Die Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien der MEDIAN Klinik in Heiligendamm und „Frau des Jahres 2021“ des Landes Mecklenburg-Vorpommern wurde für ihr herausragendes Engagement zur Aufklärung über die Langzeitfolgen einer COVID 19 Erkrankung und die Möglichkeiten der Rehabilitationsmedizin ausgezeichnet.

Frau Dr. Jördis Frommhold, allein in Deutschland wurden bis dato rund 4,2 Millionen Menschen registriert, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Davon gelten rund vier Millionen Menschen als genesen. Wie groß ist Ihrer Schätzung zufolge der Anteil derer, die mit Langzeit- und Spätfolgen zu kämpfen haben?

Neueste Studien gehen davon aus, dass wir – wenn nur die minimale Zahl angenommen wird – von zehn Prozent der Infizierten auszugehen haben, die gegen Long COVID zu kämpfen haben. Das wären dann 400.000 Patienten. Allerdings gibt es kein offizielles Register und zehn Prozent bilden eher die „untere Kante“ ab. Andere ernstzunehmenden Studien gehen von bis zu 20 Prozent der Infizierten aus. Fakt ist, dass die Tendenz steigend ist, weil es letztendlich nicht nur die Patienten trifft, die stationär im Krankenhaus behandelt wurden, sondern auch die betroffen sind, die ambulant vermeintlich leichte und mittelschwere Verläufe hatten und erst dann im weiteren Verlauf der Erkrankung weitere Einschränkungen beklagen.

Deutschland steckt derzeit in der vierten Corona-Welle und führende Mediziner und Epidemiologen gehen davon aus, dass die Zahl der Patienten im November weiter steigen werden. Lässt sich heute schon sagen, welche Patienten von Long COVID betroffen sein werden? Sind es eher die jüngeren Patienten, sind es eher Frauen als Männer?

Es ist derzeit noch zu früh abzuschätzen, wer von Long COVID betroffen sein wird. Allerdings sehen wir ganz deutlich eine Zunahme der Patienten in der Altersgruppe zwischen 20 und 50 Jahren. Und es sind mehr Frauen als Männer, die erkranken. Wir behandeln mittlerweile auch Jugendliche, der jüngste ist gerade einmal 14 Jahre jung.

„Unsere Leistungsgesellschaft kann damit nicht umgehen und nimmt den Patienten und seine Krankheit oftmals nicht ernst.“

Das sogenannte Fatigue-Syndrom oder eine bleierne Müdigkeit, Schwierigkeiten beim Atmen oderStörungen geistiger Leistungen wie Gedächtnis und Sprache gehören derzeit zu den häufigsten Symptomen bei Long COVID Patienten. Ihrer Erfahrung nach: wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass die betroffen Patienten wieder ganz geheilt werden? 

Es gibt bekanntlich derzeit weder eine kausale noch eine medikamentöse Therapie. Es lässt sich gegenwärtig noch keine Prognose erheben, ob und wann ein Patient wieder vollständig geheilt sein wird. Long COVID Patienten dürfen zunächst auf keinen Fall in eine Überbelastung reinfallen. Die Gefahr in eine Negativspirale zu geraten, die dann im schlimmsten Fall bis zur kompletten Bettlägerigkeit führen kann, ist zu groß.

Die Patienten müssen vor allem lernen, den Alltag mit Long COVID anders zu gestalten als vor der Erkrankung. Der Patient muss seine neuen Grenzen akzeptieren. Nach guten Phasen kommt bei Überforderung schnell wieder eine Situation, in dem der Patient in ein Loch fällt, aus dem er sich erst einmal wieder hocharbeiten muss. Der Erkrankte muss sich daher zwingend auch an guten Tagen seine Grenzen verinnerlichen und Erholungsphasen einbauen. Hier liegt die große Herausforderung, denn wir kommen doch alle aus einer Leistungsgesellschaft und haben verinnerlicht: „Wenn mein Körper nicht funktioniert, dann muss ich noch härter an ihm arbeiten, damit er wieder funktioniert“. Aber genau dieser Ansatz funktioniert bei Long COVID eben nicht. Jetzt heißt es aber: ich muss Abstriche machen und mein Leben umstrukturieren. Das ist für viele Patienten sehr, sehr mühselig. Und teilweise sehr anstrengend, dem Patienten zu vermitteln, dass er anders leben muss. Zumal unsere Leistungsgesellschaft damit nicht umgehen kann und den Patienten und seine Krankheit oftmals nicht ernst nimmt. Dazu kommt, dass der Patient bereits selbst ein schlechtes Gewissen hat, früher an seine Grenzen zu kommen und bestimmte Dinge nicht mehr zu können.

In einer Rekordzeit wurde ein Impfstoff gegen Corona entwickelt. Wie sehen Sie die Möglichkeit, dass Patienten eines Tages auch medikamentös geholfen werden kann, ihre Long COVID Erkrankung zu besiegen?

Das hoffen wir alle sehr. Es ist essenziell, dass die Forschung vorangetrieben wird und Gelder investiert werden. Es gibt ja bereits einige Studien. Aber – im Moment gibt es leider nicht die Pille und auch nicht den Marker, woran man Long COVID diagnostizieren kann. Es ist immer eine Ausschluss Diagnostik und deswegen ist diese Behandlung und die Diagnostik müßig und aufwendig. Aber ja, es ist meine große Hoffnung, dass wir da auch eine Lösung finden werden.

Schützt eine Impfung auch vor den Folgen einer Long COVID Erkrankung? Oder behandeln Sie auch Patienten, die einen vollen Impfschutz hatten?

Da muss man ganz klar sagen: Die Impfung schützt vor der akuten Infektion und sie schützt vor Long COVID. Natürlich gibt es mittlerweile durchaus Durchbrüche, aber die sind sehr selten. Das ist auch ein Argument gegenüber Impfgegnern. Denn Long COVID bedeutet dauerhafte Einschränkung und das kann mitunter belastender sein als ein schwerer Akutverlauf der Krankheit, der anschließend gut rehabilitativ behandelt werden kann.

Es ist immer wieder von Menschen zu hören, die infiziert wurden, ihre Krankheit zunächst ambulant kuriert und erst später mit Symptomen einer Long COVID Erkrankung konfrontiert wurden. Und die dann nur mühsam einen sachkundigen Arzt finden, der letztendlich die richtigen Diagnosen stellt und eine Reha einleitet.

Exakt. Wir unterteilen klinisch in drei Gruppen der Genesenen:  die Gruppe 1, die leichten Verläufe hatten und dann auch wirklich gesund sind und dann keine Probleme haben. Dann gibt es die Gruppe 2. Das sind Patienten, die sehr schwere Verläufe hatten – auch mit Aufenthalten auf der Intensivstation. Und die dann Post COVID Symptome entwickeln, die sozusagen kausal zum Erkrankungsbild dazu gehören. Diese Patienten lassen sich in der REHA sehr gut behandeln. Zur dritten Gruppe zählen die Patienten, die eigentlich nur milde bis moderate Verläufe hatten, die nicht in der Klinik waren. Die dann aber erneut Symptome wie kognitive Einschränkungen oder Atembeschwerden entwickeln. Diese lassen sich aber teilweise viel schlechter behandelt als die Patienten mit schweren Akutverläufen.

„es krankt an der Kommunikation – die transsektorale Kommunikation muss verbessert werden. Akutmedizin und REHA müssen näher zusammenwachsen. Wir brauchen Lehrstühle für physikalische und angewandte Rehabilitation in Deutschland. Und wir haben ein Problem in der Lehre.“

Unser Gesundheitssystem wurde und wird nach wie vor durch Corona vor allem in den Kliniken oftmals an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht.  Allerdings besteht offensichtlich auch Grund zur Annahme, dass wir die Pandemie im kommenden Jahr in den Griff bekommen werden. Doch die Frage stellt sich: wie sind wir aufgestellt, wenn es um die Therapie von Long COVID geht? Ist unser Gesundheitssystem darauf eingestellt, Patienten mit Langzeit- und Spätfolgen zu behandeln? Oder müssen wir für diese „neue“ Krankheit auch neue Strukturen schaffen?

Also das ist mir ein ganz wichtiger Fokus. Ich komme ja eigentlich aus der Akutmedizin und dort denkt man einfach anders als jetzt im REHA-Bereich. Und das ist eben der sehr große Anspruch an das Gesundheitssystem, an die Politik in der jetzigen Zeit. Wir haben in Deutschland ein exzellentes Gesundheitssystem, wir haben die Akutmedizin, die REHA, wir haben die niedergelassenen Bereiche wie Hausärzte, Fachärzte und viele, viele Möglichkeiten der Hilfsmittel. Aber die Kommunikation unter den ganzen Akteuren klappt nicht und wir haben noch keine ordentliche transsektorale Zusammenarbeit.

Uns wird das jetzt bei der Versorgung von Patienten extrem bewusst, weil es sich um ein interdisziplinäres Krankheitsbild handelt und die einzelnen Sektoren untereinander agieren müssen. Die Grundstrukturen in Deutschland sind schon da. Aber es krankt an der Kommunikation – die transsektorale Kommunikation muss verbessert werden. Akutmedizin und REHA müssen näher zusammenwachsen. Wir brauchen Lehrstühle für physikalische und angewandte Rehabilitation in Deutschland. Und wir haben ein Problem in der Lehre. Gerade diese Effekte kommen in der universitären Lehre viel zu kurz. In anderen Länder, etwa in Italien oder Frankreich, haben 95 Prozent der Universität einen Lehrstuhl für angewandte oder für medizinische Rehabilitation. Es ist einfach extrem schade, dass wir die einzelnen Strukturen haben, aber die Kommunikation nicht passt. Hier besteht echter Optimierungsbedarf!

In Ihrem speziellen Fall in Heiligendamm: wie lange müssen Patienten aktuell warten, um bei Ihnen behandelt zu werden? Wie viele REHA-Zentren müssen bei uns geschaffen werden, um dem Bedarf gerecht zu werden?

Es gibt total viele, auch ärztliche Kollegen, die mir sagen „Ich weiß ja gar nicht, wie ich den Patienten in die REHA kriege, was macht ihr denn da?“ Und da geht es um das Imageproblem der REHA, die mitunter immer noch als zweitklassige Medizin tituliert wird. Also gerade dieser Bereich wird im Sinne des demografischen Wandels immer wichtiger werden. Bei uns herrscht gegenwärtig eine Sondersituation. Ich habe bei uns in der Klinik mittlerweile weit über 2.000 Long COVID Patienten gesehen. Und das ist natürlich eine Zahl, die deutschlandweit und vielleicht sogar international seinesgleichen sucht. Bei uns betragen die Wartezeiten teilweise bis zu zwölf Monate.

Und deswegen ist es umso wichtiger, dass wir Lehrstühle etablieren. Wir brauchen weitere Forschung im medikamentösen Bereich, aber natürlich auch im Versorgungsmedizinischen Bereich. Wir müssen zudem Schulungen anbieten. Da wird sehr viel konzeptionell zu tun sein. Die Hardware, sage ich mal, die haben wir. Darauf können und müssen wir die noch fehlende Software was den Bereich Long COVID anbelangt aufbauen.

Frau Dr. Frommhold – vielen Dank für das Gespräch.

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