Computerspiele spielen und damit Geld verdienen – davon träumen viele junge Zocker:innen. Frau Pirker, für Sie ist das tägliche Realität: Sie forschen als Informatikerin im Gamingbereich. Ist Ihr Job wirklich so cool, wie man sich das als Teenager vorstellt?
J. P. Obwohl ich früh Zugang zu einem Computer und zu Videospielen hatte und mich schon in jungen Jahren durch das Erstellen kleiner Programme und Homepages kreativ ausdrücken konnte, wusste ich lange nicht genau, was Informatik wirklich ist oder welche Möglichkeiten sie bietet. Erst im Studium erkannte ich, wie vielfältig dieser Bereich ist. Statt Jugendliche zu fragen, was sie sein möchten, sollten wir sie eher fragen, was sie gerne tun. Für mich wäre das gewesen: Rätsel lösen, kreativ arbeiten und Neues entdecken. Das ist die Informatik.
Frau Schuller, wie war das bei Ihnen? Was hat Ihr Interesse an der Informatik geweckt?
D. S. Ausschlaggebend für meine Faszination war die Fiction aus Hollywood – besonders Arnold Schwarzenegger als Terminator und die Serie Knight Rider. Ein Fahrzeug, das intelligent war, das mit dem Fahrer kommunizieren und auf dessen Bedürfnisse eingehen konnte – das war einfach klasse! Deshalb bin ich an eine Höhere Technische Lehranstalt für Informatik in Wien gegangen. Dort hatte ich meine ersten Erfahrungen mit Künstlicher Intelligenz. Einer meiner Lehrer war gleichzeitig Professor am Institut für Experimentalphysik und hat sich mit Robotik und maschinellem Lernen befasst. Er war für uns Schüler:innen mit seiner Freude für die KI eine Inspiration. Diese Freude ist mir bis heute geblieben, und ich bin sehr stolz, dass unsere Technologie mittlerweile unter anderem auch im Automobilbereich eingesetzt wird.
Sollte man kleine Mädchen öfter vor den Computer setzen, damit sich endlich mehr Frauen für Technik interessieren? Machen Eltern, die ihren Töchtern die Bildschirmzeiten einschränken, einen Denkfehler?
J. P. Es ist wichtig, Interessen unabhängig vom Geschlecht zu fördern und vielfältige Erfahrungen anzubieten. Es sollte nicht so sein, dass der Sohn Minecraft spielen darf, die Tochter aber nicht. Dieser Zugang sollte bewusst und informiert in einem ausgewogenen Rahmen erfolgen. Schön wäre es, wenn Eltern mit ihren Kindern solche Erfahrungen teilen.
D. S. Eine bewusste Herangehensweise an Computer und ein gewisses technologisches Grundwissen sollten alle Kinder mitbekommen. Es gibt verschiedene Initiativen, um mehr Mädchen für MINT-Berufe zu begeistern. 2022 waren 35 Prozent der deutschen Studienanfänger:innen im MINT-Bereich weiblich, der Trend geht also in die richtige Richtung. Als Unternehmerin im KI-Bereich bin ich besonders darauf bedacht, dass sich mehr Frauen mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen. Das hat auch pragmatische Gründe: um sogenannte Biases, also Verzerrungen, im Bereich der KI zu minimieren, bedarf es unter anderem Heterogenität – bei den Teams, den Daten, der Ergebnisinterpretation oder der Interaktion.
Computerspiele sollen in der Lage sein, uns zu besseren Menschen zu machen, indem sie uns Empathie lehren. Auf welche Weise passiert das?
J. P. In Videospielen kann ich Dinge aus einer anderen Perspektive sehen. Zum Beispiel sehe ich in der österreichischen Produktion „Path Out“ die Welt durch die Augen des syrischen Flüchtlings Abdullah Karam. Es gibt Virtual-Reality-Erfahrungen, die zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob ich als Mann oder als Frau abends durch eine Straße gehe. In der Virtual Reality(VR)-Erfahrung „Traveling While Black“ erlebe ich die Herausforderungen, denen schwarze Amerikaner:innen beim Reisen begegnen. Solche Erfahrungen sind viel intensiver als das bloße Anschauen einer Dokumentation. Besonders, wenn wir schwierige Entscheidungen treffen müssen, denken wir stärker über die Situationen nach und lernen dadurch. Das ist das enorme Potenzial dieser „Empathie-Maschinen“.
Frau Schuller, Ihr Unternehmen audEERING will diesen Lernprozess sogar noch verbessern. Sie integrieren zu diesem Zweck Emotions-KI in Computerspiele. Was bewirkt das und wie funktioniert diese KI?
D. S. Unsere Technologie umfasst die KI-basierte Analyse des stimmlichen Audiosignals. Das bedeutet, wir erkennen Merkmale und Zustände über den stimmlichen Ausdruck. Im Gaming-Bereich liefern wir Entwickler:innen Feedback über den stimmlichen Ausdruck der Spieler:innen oder können die aus den Stimmdimensionen gezogenen Informationen als Spielkomponente selbst integrieren. Damit können sowohl das Spieledesign als auch das Produkt selbst verbessert werden. Beispielsweise wird unsere KI-Technologie bereits im Bereich Serious Gaming eingesetzt, indem sie Training für verbesserte empathische Kommunikation für Pflegepersonal in einer VR-Umgebung bietet.
Wie stark ist der Einfluss von Computerspielen auf die Gesellschaft? Und wie können Spiele inklusiver und sicherer gestaltet werden?
J. P. Der Einfluss ist enorm, weil immer mehr Menschen spielen und potenzielle Stereotypen durch Spiele geprägt werden. Durch inklusive Gestaltung können wir ein inklusiveres Umfeld schaffen. Dazu kommt, dass ein Großteil der Gamer gerne gemeinsam mit anderen spielt. Das ergibt eine wunderbare Möglichkeit, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder anderen Unterschieden, Menschen mit ähnlichen Interessen zu treffen und online schöne Erlebnisse zu teilen. Leider ist die gesamte Online-Welt von Diskriminierung wie Sexismus, Ableismus und Rassismus geprägt. Aber wir forschen intensiv daran, potenzielles toxisches Verhalten frühzeitig zu erkennen und, wenn möglich, zu verhindern.
Wie wichtig wäre es, dass mehr Spiele von Frauen programmiert werden?
J. P. Wir haben oft gesehen, dass Frauen in Entwicklungsteams positiv dazu beitragen, Charaktere und Geschichten diverser und realistischer darzustellen.
D. S. Gerade jungen Mädchen hilft es, zu sehen, dass die Lieblingsspiele nicht nur von Männern entwickelt wurden und dass es für sie eine Möglichkeit gibt, selbst an Spielen zu arbeiten. Damit ändern sich langfristig auch Klischees. Auch die weiblichen Spielfiguren in den Genres haben einen Wandel durchlaufen, mittlerweile gibt es viele starke, selbstbewusste Frauenbilder in populären Spielen.
Laut einer europaweiten Microsoft-Studie ist vielen Frauen der MINT-Bereich zu wenig kreativ. Wie kann man dieses Klischee aufbrechen?
J. P. Ich kann mir nichts Bunteres vorstellen als die Informatik. Ich wollte immer kreativ arbeiten und verrückte und spannende Geschichten erschaffen, konnte aber weder besonders gut schreiben noch zeichnen. Erst im Studium entdeckte ich, dass ich mit Coding all die bunten Welten, die in meinem Kopf existieren, bauen – und andere einladen kann, darin herumzuspazieren. Viele wissen nicht, wie breit die Jobchancen in Feldern wie Medizin, Klimaforschung oder Bildung sein können. Hier brauchen wir sehr früh Förderung, Aufklärung und positive Anreize im Arbeitsumfeld, mehr Vorbilder und vor allem strukturelle und politische Veränderungen.
D. S. Gerade Künstliche Intelligenz ist ein unglaublich kreatives Feld. Statt Arbeit mit Technologie kategorisch als routiniert und unkreativ abzutun, sollte man jungen Menschen gegenüber betonen, wie weit das Feld an Forschungsmöglichkeiten ist. Wir befinden uns gerade erst am Anfang der Arbeit mit KI, viele neue Entwicklungen werden erst in den nächsten Jahren aufkommen. Dafür muss man jedoch konkret in Deutschland und Europa mehr Geld in Wirtschaftszweige mit Entwicklungspotenzial stecken und kleine und mittelständische Unternehmen fördern.
Ein anderes Klischee ist das Bild des Informatikers selbst. Viele haben hier den stillen Nerd vor Augen, der Fast Food essend im Keller vorm Computer sitzt. Wie sieht die weibliche Variante aus? Wie würden Sie sich selbst beschreiben?
J. P. Ja, ich verbringe die Hälfte meiner Zeit vor dem Computer, aber die andere Hälfte bin ich auf einem Berg beim Klettern oder Mountainbiken, spiele ein Konzert mit unserer Band Coinflip Cutie oder halte Vorträge über meine Forschung in verschiedenen Städten weltweit. Wir müssen uns endlich davon entfernen, Menschen in Schubladen zu stecken – sei es aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder aufgrund von Klischees über Berufe und Tätigkeiten.
D. S. Dieses Klischee halte ich für komplett überholt. Die Mehrzahl der Kolleg:innen, mit denen ich zu tun habe, können sich damit nicht identifizieren. Ganz im Gegenteil: Viele sind Naturliebhaber:innen, Musikliebhaber:innen, äußerst sozial engagiert und kommunikativ. Ich selbst bin ein sehr neugieriger Mensch – ich liebe es, Dinge zu entdecken. Dementsprechend reise ich, so oft ich kann, kommuniziere gerne, höre und mache Musik, verbringe Zeit in der Natur. Die Spieleindustrie gilt als Vorreiter für zahlreiche Innovationen.
Was können die Wirtschaft oder andere Bereiche von der Gaming-Industrie lernen?
J. P. Für mich ist die Spieleindustrie ein Blick in die Zukunft. Game Engines – Tools zur Spieleentwicklung – kommen heute sowohl bei Hollywood-Produktionen als auch bei der Gestaltung von Simulationen in der Industrie zum Einsatz. Die Autoindustrie verwendet VR, um Produkte zu designen, Walmart für Mitarbeiter:innenschulung. Das Potenzial von Spielen und VR im Gesundheitssektor ist enorm, etwa bei ADHS, Demenz und Phobien, aber auch zur Übung von Operationen. Wir selbst haben ein Physiklabor entwickelt, in dem man oft teure oder schwer durchführbare Experimente beliebig oft wiederholen und dadurch besser lernen kann. Auch KI-Technologien werden oft mittels Spielen trainiert.
D. S. Die Spieleindustrie ist offen für technologische Neuerungen, gleichzeitig setzt sie auf bewährte Methoden – dabei können auch interdisziplinär großartige Entwicklungen entstehen. Gerade der Digitale Zwilling im Gesundheitsbereich ist spannend, hier kann der Gesundheitszustand von Patient:innen auf Basis von biophysiologischen Datenmodellen simuliert werden.
Welche Rolle spielen ethische Überlegungen in der Ausgestaltung von Regularien für KI?
J. P. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Ausgestaltung von Regularien für KI. Wir müssen sicherstellen, dass die Systeme fair, transparent und verantwortungsvoll eingesetzt werden, ohne dabei die Innovationsfähigkeit unnötig einzuschränken.
D. S. Der gerade in Kraft getretene EU AI Act schafft eher Unsicherheit, weil viele Definitionen zu breit und undynamisch sind. Den Chancen der Technologie wurde nicht ausreichend Rechnung getragen, was dazu führt, dass wir uns in Europa in wesentlichen Bereichen behindern. Nun geht es in der Umsetzung darum, transparente Kriterien zu entwickeln, die auch KMUs unterstützen. Ebenso dürfen wir uns den Entwicklungen der großen Player nicht verschließen, die vorwiegend nicht aus Europa stammen. Momentan geben wir in der Umsetzung der KI-Technologie in Europa nicht den Ton an. Unsere Grundlagenforschung ist exzellent, an der praktischen Implementierung im großen Stil hapert es.
Was braucht es, um eine positive Wahrnehmung von KI in der Gesellschaft zu stärken?
D. S. Das Vertrauen in KI kann nur durch Aufklärung, Transparenz und verantwortungsbewusste Nutzung gestärkt werden. Offene Kommunikation über die Mechanismen von KI-Systemen, ihre Anwendungsmöglichkeiten und ihre langfristigen Auswirkungen auf den Menschen sind unerlässlich. Das Thema muss auch stärker und früher in den Bildungsbereich integriert werden. KI ist zu einer grundlegenden Technologie geworden, die in nahezu jedem Berufsfeld eine Rolle spielt. Daher ist es die Aufgabe der Politik, sicherzustellen, dass alle von klein auf einen verantwortungsvollen und gut informierten Umgang mit KI erlernen.
Welche zukünftigen Trends sehen Sie in der menschenzentrierten Gestaltung der digitalen Welt?
J. P. Digitale Entwicklungen sollten für uns Menschen sein. Der Forschungsbereich HCI (Human-Computer Interaction) wird immer größer und relevanter. Hier geht es um die Schnittstelle zwischen Mensch und Computer. Trends umfassen vermehrt die Adaption, Kontextualisierung und Personalisierung von Systemen. Damit werden uns aber auch die Themen Ethik und Datenschutz sowie Vertrauen in die Technologie und Sicherheit weiter beschäftigen. Ich freue mich besonders, dass die Themen Barrierefreiheit und Inklusion immer sichtbarer werden. ITsoll unterstützen und die Welt verbessern und hat gerade hier so viel Potenzial, Menschen mitzunehmen und zu inkludieren, die sonst oft vergessen werden.
D. S. Menschenzentrierte Technologieentwicklung ist ein Thema, das die nächsten Jahre wesentlich prägen wird. Insbesondere wird wertebasierte Technologieentwicklung wesentlich an Bedeutung gewinnen. Durch die generative KI ist vieles möglich geworden, das bis vor Kurzem noch fiktiv erschien. Sie schreibt Artikel, entwirft Bilder und Designs, macht Musik und vieles mehr. Die zunehmende Verbreitung und Nutzung dieser Technologie werden dazu führen, dass die individuelle Anpassung und Gestaltung zunehmen. Dieser individualisierte, menschenzentrierte Fokus setzt eine optimierte Mensch-Maschine Kommunikation voraus, bei der es eben nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die emotionalen und kognitiven Komponenten geht. Und gerade da wird empathische KI eine wesentliche Rolle spielen.
Zu den Personen:
Dagmar M. Schuller ist CEO und Mitgründerin von audEERING. Mit über 20 Jahren Erfahrung in Digitalisierung und disruptiven Technologien ist Schuller eine anerkannte Expertin auf ihrem Gebiet. Sie ist Vizepräsidentin der IHK für München und Oberbayern und engagiert sich im Bereich Innovation und Technologietransfer. Darüber hinaus berät sie Unternehmen und öffentliche Stellen in Fragen der Künstlichen Intelligenz. audEERING wurde 2012 als Spin-off der Technischen Universität München gegründet und ist heute das führende europäische Unternehmen für intelligente Audioanalyse und KI-basierte Stimmtechnologien. Mit innovativer maschineller Intelligenz und Deep Learning analysieren die Produkte akustische Szenen, Sprecherzustände und Stimmungen. Zu den Kunden zählen weltweit agierende Unternehmen wie Huawei, BMW und Red Bull Media House.
Johanna Pirker ist Professorin für Medieninformatik an der Ludwig-Maximilians Universität München sowie Assistenzprofessorin, Software-Ingenieurin und Forscherin am Institut für Interaktive Systeme und Datenwissenschaft an der Technischen Universität Graz (TUG). Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Spieledesign und in der Entwicklung virtueller Welten und hat in der Videospielbranche bei Electronic Arts gearbeitet. Zu ihren Forschungsinteressen gehören KI, Datenanalyse, immersive Umgebungen, Spieleforschung, Gamification-Strategien, HCI, E-Learning, CSE und IR. Pirker ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikationen auf ihrem Fachgebiet und wurde 2021 mit dem Hedy-Lamarr-Preis ausgezeichnet. Seit 2024 ist sie Mitglied des Rats für Forschung, Wissenschaft, Innovation und Technologieentwicklung (FORWIT).