„Ihr habt mir eine gedankliche Brille aufgesetzt und jetzt fällt mir sofort auf, wenn wir in unseren Recruitingmaßnahmen und -prozessen Frauen nicht ansprechen oder im Blick haben“, so lautet eins von zahlreichen positiven Feedbacks von Teilnehmenden der Avanja Recruiting Challenge. In dieser Challenge bewerben sich weibliche Fachkräfte zu Test- und Feedbackzwecken auf reale Stellenausschreibungen von Unternehmen. Sie durchlaufen den Bewerbungsprozess und geben anschließend den HR-Verantwortlichen ein transparentes und offenes Feedback zum gesamten Bewerbungsprozess. Initiiert hat dieses Projekt der Branchenverband für Digital- und IT-Unternehmen bremen digitalmedia e.V. rund um die 2. Vorsitzende Franca Reitzenstein und Geschäftsstellenleiterin Eva Koball.
Frauen fühlen sich oft nicht von Stellenausschreibungen im IT-Bereich angesprochen. Gleichzeitig fehlt es in der Branche an Fachkräften. Der Fachkräftemangel in der IT-Branche in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren weiter verschärft. Im Jahr 2023 waren laut Bitkom rund 149.000 Stellen für IT-Expertinnen und -Experten unbesetzt, was einen Anstieg um 12.000 im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Ein nicht unwesentlicher Faktor für diesen Mangel ist der geringe Anteil weiblicher Fachkräfte in der IT. Frauen sind in technischen Berufen und Studiengängen nach wie vor unterrepräsentiert. Dieser Mangel an weiblichen Fachkräften trägt dazu bei, dass offene IT-Stellen nicht besetzt werden können. Unternehmen erkennen zunehmend die Notwendigkeit, mehr Frauen für IT-Berufe zu gewinnen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, wissen aber oft nicht genau wie.
Frauen in die IT
„Uns beschäftigt daher intensiv die Frage, wie IT-Unternehmen mehr Frauen für digitale Berufe gewinnen können. Die Branche ist nach wie vor von Männern dominiert und das ist schade, wissen wir doch aus Studien, dass diverse Team besser und erfolgreicher arbeiten sowie blinde Flecken reduzieren“, berichtet Franca Reitzenstein. So entstand 2020 mit finanzieller Unterstützung der Bremer Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation die Online-Plattform „Avanja – Frauen in die IT!“ Die Website liefert konkrete Tipps und Ideen in den Bereichen Führung, Nachwuchs, Recruiting und Mitarbeitendenbindung. Eva Koball: „Wir wollen Avanja konkret, greifbar und lebendig gestalten. Unser Ziel ist, ganz praktisch zu unterstützen mit Wissen und Erkenntnissen, die unmittelbar angewendet werden können.“ 2022 kam zur Plattform die erste Recruiting Challenge dazu, mit der das Projektteam des Verbands Unternehmen und weibliche Fachkräfte zusammenbringt. Für 2025 ist nun die dritte Challenge geplant.
Auf Undercover-Mission
„In unserer Challenge treffen die teilnehmenden Unternehmen auf Quersteinsteigerinnen, Expertinnen oder Berufseinsteigerinnen, die mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen und Erwartungen unterwegs sind. Damit sind wir nah an der Lebenswirklichkeit und nicht theoretisch unterwegs“, erklärt Franca Reitzenstein. „Unternehmen müssen sich für die Teilnahme anmelden. Wir matchen dann Undercover-Bewerberin und Unternehmen je nach Profil und vorhandenen Stellenausschreibungen. Die Teilnehmerinnen werden vorab durch uns gebrieft. Sie arbeiten wie bei einem Restauranttest – nur eben im Bewerbungsprozess. Sie durchlaufen alle Stationen eines Recruitingprozesses und bewerten jeden Abschnitt und jedes Detail ihrer Journey“.
Dafür bearbeiten die Bewerberinnen einen umfangreichen Fragebogen zu allen Phasen des Prozesses. Gestartet wird bei der Bewertung der Stellenausschreibung auf der Website und dem Auftritt auf Social Media. Es geht weiter über die Bewerbung, das Vorstellungsgespräch bis zur Zu-oder Absage. Die Bewerberinnen erhalten zudem ein Coaching für ihre Bewerbungsanschreiben und ihren CV.
Vorteile für alle Beteiligten
Immer an ihrer Seite ist Katrin Kärner, Expertin für Mixed Leadership und Gender Diversity. Sie ist Trainerin auf dem Gebiet Gender Bias bei der AllBright Stiftung und begleitet die Recruiting Challenge von Anfang an. „Aufgrund meiner intensiven Erfahrung als teils einzige Frau in der Geschäftsleitung in überwiegend männlich besetzten Teams, bin ich mir der Herausforderungen sehr klar bewusst“, sagt Katrin Kärner. „Es ist absolut inspirierend, wenn sich durch das Coaching, die Frauen ihres Potentials in der Digitalbranche deutlich bewusstwerden und ihr Selbstvertrauen stärken. Wir merken zudem, dass sie in dem Undercover-Bewerbungsverfahren authentischer auftreten und auch ein anderes Auftreten austesten, da es für sie um nichts geht. Sie gewinnen also neue Erfahrungen und entwickeln sich definitiv weiter.“ Gefragt, warum sich Frauen als Testbewerberin engagieren sollten, meint Franca Reitzenstein: „Die Bewerberinnen sammeln nicht nur wichtige Erfahrungen und können ihre Vita und ihre Skills auf die Probe stellen. Viele reizt auch die konkrete Möglichkeit, ihre Themen und Bedürfnisse in die Arbeitswelt einzubringen.“
Die Vorteile für alle Beteiligten der Challenge sind vielfältig. Eva Koball: „Unternehmen bekommen ein ehrliches und offenes Feedback auf ihren Recruiting-Prozess, werden mit ihren blinden Flecken konfrontiert und haben die Chance auf einen wertvollen Perspektivwechsel. Denn selbst wenn Unternehmen nach Feedback zu ihrem Bewerbungsprozess fragen, werden echte Bewerber:innen mit Sicherheit nie ein zu 100 ehrliches Feedback geben, weil sie immer Rücksicht auf einen potentiellen Arbeitgeber nehmen werden.“
Eine Umfrage unter den teilnehmenden Unternehmen 2024 ergab, dass alle die Teilnahme für sich als wertvoll und hilfreich erachtet haben. Mehr als 50 Prozent sind konkret ins Handeln gekommen. „So wurden beispielsweise Bilder und Videos auf Karriereseiten weggenommen, auf denen keine Frauen zu sehen oder diese in klischeehaften Settings abgebildet waren. Texte von Stellenanzeigen wurden überarbeitet und männlich konnotierte Begrifflichkeiten reduziert. Außerdem werden Frauen nun explizit zur Bewerbung aufgefordert. HR-Verantwortliche achten nach der absolvierten Challenge darauf, nicht nur mit Männern im Vorstellungsgespräch zu sitzen“, berichtet Katrin Kärner von Erfolgen der Challenge.
Ausblick: Recruiting-Challenge 2025
Auch 2025 soll es wieder eine Recruiting-Challenge geben. Dann werden in einem Auftaktworkshop die Bewerberinnen auf die Challenge vorbereitet, um anschließend den regulären Bewerbungsprozess des ihr zugeteilten Unternehmens zu durchlaufen und zu bewerten. Die Erfahrungen werden sowohl individuell besprochen als auch in einem gemeinsamen Ergebnisworkshop ausgewertet. Interessierte Unternehmen und Frauen können sich hier informieren und melden.