Meine Freundin Monika, eine erfolgreiche Scheidungsanwältin, ist frustriert. Eine Mandantin hat jahrelang ihre Karriere zurückgestellt – und der zukünftige Ex-Partner bietet eine unverschämt niedrige Zahlung an. „Ich weiß nicht, wie ich dem Gericht verdeutlichen kann, was ihre Leistung wert ist“, seufzt sie. Mit einem geeigneten Index des Statistischen Bundesamts rechne ich ihr vor, was das entgangene Gehalt, die nicht eingezahlten Rentenbeiträge und die verlorenen Karrieresprünge in Summe ergeben. Plötzlich wird aus einem abstrakten „finanziellen Nachteil“ eine konkrete Zahl. Und vor allem ein handfestes, unbestechliches Argument in einem emotionalen Chaos.
Wirtschaftszahlen sind Spiegelbilder unseres Lebens und unserer Entscheidungen. Für Frauen in Führung oder auf dem Weg dorthin ist es essenziell, sie zu verstehen und differenziert zu hinterfragen. Diese vier Skills helfen dir, souverän mit Daten zu argumentieren:
1. Kennzahlen bilden nur Teile der Wirklichkeit ab
Eine der am häufigsten zitierten Zahlen in Wirtschaft und Politik ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Für manche ist es das Synonym für Wohlfahrt – doch das stimmt nur bedingt. Das BIP misst den Wohlstand, also den Wert aller produzierten Güter und Dienstleistungen. Es sagt aber nichts darüber aus, wie gerecht oder fair er verteilt ist, ob er nachhaltig erwirtschaftet wurde oder ob er tatsächlich die Lebensqualität der Bevölkerung verbessert. Ein Land kann ein steigendes BIP haben, während die Mehrheit der Menschen real weniger in der Tasche hat. Mit BIP-Entwicklungen zu argumentieren, ohne die Grenzen dieser Kennzahl zu kennen, greift zu kurz. Der Kontext ist entscheidend.
2. Veränderungen sagen oft mehr als das absolute Niveau
Über Nacht „verschwanden“ in Deutschland rund eine Million armutsgefährdete Menschen. Der Grund war kein plötzlicher sozialpolitischer Erfolg, sondern eine geänderte Berechnungsmethode des Statistischen Bundesamts. Das neue, EU-weit vergleichbare Verfahren erfasst Einkommen präziser, insbesondere solche, die nicht aus Erwerbsarbeit stammen, etwa Kindergeld, Pflege- oder Wohngeld. Die Zahlen waren „schöner“, weil die Methode sachgerechter wurde.
Statistische Armut ist nicht hart messbar, sondern ein Ergebnis einer umstrittenen Definition: Wer weniger als 60 Prozent des Nettomedianeinkommens seiner Referenzgruppe hat, gilt als “armutsgefährdet”. Mit dem, was sich Menschen leisten können, hat das nichts zu tun. Wir wissen nicht, wie hoch die Armut wirklich ist – aber die Veränderung der Armutsstatistik über die Zeit sollte plausibel sein. Da liegt der Knackpunkt: Die alte Methode erweckt den Anschein, dass die Armut in Deutschland seit 2021 kontinuierlich gesunken sei. Das entspricht wohl kaum der Lebensrealität, die von Corona, Ukraine-Krieg und starker Inflation geprägt war. Die neue Methode hingegen zeigt einen leichten Anstieg der Armutsgefährdung.
3. Durchschnitte können völlig in die Irre führen
Arbeiten wir Deutschen zu wenig? Immer wieder kursiert diese Schlagzeile. Ihre Datengrundlage bilden die OECD-Zahlen zur durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit. Was dabei übersehen wird: Die Statistik umfasst „die regulären Arbeitsstunden von Vollzeit-, Teilzeit- und Saisonarbeitskräften, bezahlte und unbezahlte Überstunden sowie die in Nebentätigkeiten geleisteten Stunden“. Deren Anteile variieren von Land zu Land. Bei der Berechnung des Durchschnitts zählt aber ein Erwerbstätiger in Vollzeit genauso viel wie einer, der nur 15 Wochenstunden arbeitet. Die Zahlen sind deshalb nicht für Ländervergleiche geeignet, worauf die OECD auch deutlich hinweist.
Angenommen, ein Mann arbeitet 38,5 Wochenstunden an 45 Arbeitswochen, während seine Partnerin nicht erwerbstätig ist. Das ergibt mit 1.732,5 Stunden fast genau den OECD-Schnitt. Nun erhöht der Erwerbstätige seine Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden und seine Partnerin nimmt eine Teilzeitbeschäftigung mit 20 Wochenstunden auf. Im Schnitt werden 30 Stunden an 45 Wochen gearbeitet, also etwa die deutschen 1.350 Stunden. Statistisch gesehen ist das weniger, obwohl beide mehr arbeiten.
4. Korrelation ist nicht gleich Kausalität
Zwei Entwicklungen verlaufen parallel – und schnell wird eine Ursache-Wirkung-Beziehung unterstellt. Ein Beispiel: Oft wird behauptet, dass Frauen „freiwillig“ weniger arbeiten, weil sie Kinder bekommen. Doch die Korrelation zwischen Mutterschaft und geringerem Einkommen bedeutet nicht, dass das Kind die Ursache für die Einkommenslücke ist. Tatsächlich zeigen Studien: Die Lücke entsteht vor allem durch strukturelle Faktoren: fehlende Betreuungsangebote, stereotype Rollenerwartungen und die gläserne Decke, die Frauen nach einer Familienpause am Aufstieg hindert. Kausal ist also nicht das Kind, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wer diesen Unterschied erkennt, kann den immer wieder bemühten Mythos vom „individuellen Lebensstil“ als Erklärung für Ungleichheit fundiert entkräften.
Zahlen, Daten und Statistiken wirken objektiv, sind es aber selten. Daten sind Macht, weil sie Entscheidungen leiten – in Politik, Wirtschaft und im Privaten. Wer ihre Grenzen und Fallstricke kennt, kann im Zeitalter von KI kompetent entscheiden. Für Frauen in Führung heißt das: Statistik ist keine Nebensache, sondern eine Schlüsselkompetenz für beruflichen Erfolg.
Zur Person: Dr. Katharina Schüller ist akkreditierte Statistikerin (AEUStat) und zählt zu den führenden Expert:innen für Data Science, Künstliche Intelligenz und Statistik. Zu ihren Top-Themen gehören Datenstrategien, Data Literacy, Daten- & KI-Ethik und Diversity. Bereits 2003 gründete sie die Firma STAT-UP Statistical Consulting & Data Science, die sie bis heute als CEO leitet. Mit ihrem Team berät sie internationale Top-Konzerne sowie Bundesbehörden dabei, Datenstrategien und Modelle zu entwickeln, um datenbasierte Entscheidungen mit Hilfe von Statistik, KI und Machine Learning zu treffen. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen und gibt ihr Wissen über Daten und Statistik in Vorträgen und Workshops weiter. Darüber hinaus vermittelt sie ihre Kompetenz als Bestseller-Autorin, ihr neues Buch „Daten sind Macht: Kompetentes Entscheiden im Zeitalter von KI“, erscheint am 16.10.2025 im Campus Verlag.