Angesichts der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen unserer Zeit empfinden viele Menschen: „Früher war alles besser“. Stimmt das – war früher alles besser?
Stefan Sagmeister: Es stimmt, und es ist falsch, denn es gibt zwei Betrachtungsweisen – die kurzzeitige und die langzeitige. Beide sind richtig. Ich hielt mal einen Vortrag zu diesem Thema: Es gibt Jahresalmanachs und Monatszeitungen, die von ihrem System her Dinge langzeitig, und von dem her auch eher positiv, betrachten. Parallel dazu sieht man gut: Eine Tageszeitung ist negativer als eine Wochenzeitung. Und Twitter (jetzt X, Anm.) ist viel negativer als die Tageszeitung. Weil aber praktisch alle Printmedien einen Online-Auftritt haben, sind die Printmedien in den letzten 20 Jahren wissenschaftlich nachweisbar um vieles negativer geworden. Es lässt sich also eindeutig sagen: Je kurzzeitiger, desto negativer.
Ist es nicht auch so, dass sich Menschen einfach mehr für Negativnachrichten interessieren?
Es gibt Studien der New York Times, in denen die Reaktionen auf positive und negative Wörter gescannt wurden. Die Aufmerksamkeitskurve geht bei den positiven rasant nach unten. Aus einer anderen Untersuchung der New York Times wissen wir, dass die Artikel, die Menschen per E-Mail an ihre Freunde schicken – was ja bei der NYT ganz einfach geht: anklicken und weiterleiten –, nach Emotionen geordnet sind, und Hass ist das Thema Nummer eins. Es ist das, was uns interessiert. Entrüstung und Hass, das ist es, was wir unseren Freunden zeigen wollen.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Das kommt wahrscheinlich durch die Langsamkeit der Evolution. In der Steinzeit waren wir noch echten Gefahren ausgesetzt, und wenn wir diese nicht gesehen haben, waren wir tot. Haben wir hingegen das Positive nicht sofort entdeckt, etwa die Banane um die Ecke, war das kein großes Problem, denn wo es eine Banane gab, gab es meist noch andere Bananen. Deshalb gibt es in unserem Hirn die Amygdala als Abkürzung für negative Nachrichten, jedoch gibt es kein Äquivalent für positive Nachrichten. Darum sind auch positive Nachrichten wahnsinnig langweilig und negative Nachrichten unglaublich spannend. Da ticken wir alle gleich. Das führt aber zu einer interessanten Tatsache: Vergangenes Jahr wurde unter 100.000 16- bis 25-Jährigen weltweit eine Umfrage gemacht, bei der mehr als die Hälfte – 55 Prozent – denkt, dass die Menschheit noch zu ihren Lebzeiten zu Ende kommen wird. Deshalb sind sie depressiv, sitzen zuhause und tun erst mal gar nichts.
Und das hat damit zu tun, dass wir, die Älteren, ihnen unterschwellig vermitteln, dass früher alles besser war?
Es hat jedenfalls wahnsinnig viel mit diesen negativen Nachrichten zu tun. Ich glaube auch nicht, dass alles super ist, ganz im Gegenteil. Aber ich glaube, dass wir nur dann Dinge zum Guten verändern können, wenn wir auch Beispiele zeigen, die illustrieren, was wir schon alles zum Besseren verändert haben. Nur fällt das immer leicht durch das Sieb, weil sich gute Dinge ganz langsam verbessern, schlechte hingegen, wie Skandale und Katastrophen, unglaublich schnell passieren. Und sich dementsprechend rasch verbreiten.
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Das Negative ist auch meist schneller und leichter zu erklären. Es bedarf kürzerer Wege, oft weniger Recherche. Um das Gute zu durchleuchten und attraktiv zu präsentieren, braucht es mehr Zeit. Viele haben diese nicht – und sie wird auch kaum mehr bezahlt.
Das ist ganz eindeutig: Es ist die größere Herausforderung, das Positive interessanter zu machen als das Negative. Ich habe einmal einen Dokumentarfilm über mein bisheriges Leben gedreht. Wir hatten 350 Stunden Material, mussten auf 90 Minuten schneiden. Immer, wenn ich beschissen ausgeschaut habe, war es wahnsinnig interessant. Immer, wenn ich super dagestanden bin, war es absolut langweilig. Zum Beispiel haben wir das ganze Filmteam von New York nach Bregenz geschickt, um meine Brüder und Schwestern zu interviewen. Ich bin extra nicht dabei gewesen, um ihnen zu ermöglichen, dass sie auch schimpfen können. Jetzt haben die aber leider nur Positives berichtet. Nicht eine Sekunde war verwendbar. Hat uns 15.000 Dollar gekostet, dieser Spaß.
Zu Ihrem Buch „Heute ist besser“: Sind Sie bei den Daten, die Sie gesammelt haben, systematisch vorgegangen oder haben Sie einfach geschaut: Was bekomme ich, was 200 Jahre alt ist?
Ich bin systematisch vorgegangen. Meine Hauptquellen sind der Kognitionswissenschafter Steven Pinker in Harvard und der Data-Analytiker Max Roser in Oxford. Gerade Roser hat da an der Universität von Oxford ein relativ großes und gutes Team. Sie betreiben eine sehr schöne Website, die heißt „Our World in Data“. Dem kann ich vertrauen, das wird ordentlich überprüft und dauernd upgedatet.
Nach welchen Kriterien haben Sie nun die alten Meister in Ihrem Buch, die Sie auf einem Dachboden Ihrer Vorfahren gefunden haben, mit Ihren Grafiken verknüpft?
Beim Thema „Armut“ musste nicht unbedingt ein Stillleben mit Brot her. Aber da, wo es um die Verringerung der Luftverschmutzung in China ging, habe ich schon eine Landschaft verwendet. Dort ging es um relativ kurze Zeitspannen, weil sich die Luftverschmutzung in China von 1990 bis heute wahnsinnig verringert hat – und zwar ist sie auf ein knappes Drittel gesunken. 1989 bin ich zum Beispiel nach Shenzhen und Guangzhou gefahren. Da gab es einen Fluss, der hat ausgeschaut wie in Greenpeace-Commercials. Eine grüne, blubbernde, schwer fließende Soße, die so gestunken hat, dass man über die Brücke gerannt ist, weil man es nicht ausgehalten hat. Heute könnte man es einen Monat in Guangzhou aushalten. Hinziehen würde ich dennoch nicht. Aber als ich 1989 dort war, war das für jemanden, der bei uns aufgewachsen ist oder New York kennt, ein schlichtweg unmöglicher Ort.
In Ihrem Buch gibt es häufig frauenspezifische Themen – Frauen und Wahlrecht, Frauen hinterm Herd. Eignen sich Frauenthemen besonders gut, um zu illustrieren, dass die Welt früher eben nicht besser war?
Man kann es auf jedem Thema aufhängen, aber das Frauenthema ist ein internationales. 1990, ich kann mich noch sehr gut erinnern, dachte die Hälfte aller Amerikaner, dass die Frauen zurück an den Herd sollten. Die Hälfte! Heute sind das 20 Prozent, immer noch ziemlich heftig. Auch in der Demokratie hat sich unglaublich viel verbessert. In Österreich hat sich der große Sprung nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen. Würde ich dasselbe Thema in Portugal behandeln, wäre das anders – dort war man noch bis in die 1950er-Jahre hinein stolz faschistisch. Spanien hat er erst seit den späten 1970er Jahren die Demokratie in der Verfassung, das vergisst man gern. Oder die Hungersnot. Ist bei uns schon lange her, aber im Vorarlberg der 1930er Jahre existierte sie.
Ein Punkt, der mich persönlich sehr berührt hat: In einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard erzählten Sie, dass Sie vor Kurzem in der Ukraine waren und dass die Menschen dort sofort kapiert haben, worum es in Ihrem Buch geht.
Es gab einen unglaublich positiven Widerhall auf meinen Vortrag. So wie nirgendwo anders. Viel positiver als kürzlich in Helsinki. Es hat sich auch sofort ein ukrainischer Publisher gemeldet, der das Buch übersetzen will. Wir bringen nun meine Ausstellung dorthin.
Entwickelt eine Gesellschaft in Extremsituationen eher die Fähigkeit vorwärtsgewandt zu denken?
Weiß ich noch nicht. Aber vom Gefühl her ist es vielleicht schon so. Ich müsste noch mehrere Beispiele haben; ich kenne nämlich keine Umfrage, die das bestätigen würde. Vom eigenen Bauchgefühl her aber auf jeden Fall, ganz eindeutig.
„Wir leben viel sicherer. Mein Risiko, ermordet zu werden, war im Mittelalter 25mal so hoch wie heute.“
Wir haben vorher von den depressiven jungen Menschen gesprochen. Können Sie deren Gefühle und Sichtweisen nachvollziehen?
Auf jeden Fall. Das kommt aus den besprochenen Gründen.
Auch, weil Sicherheiten erodieren?
Weil das Negative viel mehr und schneller verbreitet wird. Gewohnte Sicherheiten – da sehe ich nicht, dass sie im Großen abnehmen.
Es heißt, die Leute könnten sich nicht mehr so viel aufbauen wie früher, sich immer weniger leisten.
Mag sein, aber die Welt ist viel sicherer geworden.
Das Gesundheitssystem sei schlechter geworden …
Es ist viel sicherer geworden. Die Kriminalität nimmt wahnsinnig ab. Mein Risiko, im Mittelalter von der Hand eines anderen Menschen ermordet zu werden, war 25mal so hoch wie heute. Die Gewalt, war viel, viel höher. Und zwar in allen Gesellschaftsschichten. Ich war eben in Helsinki, da schwärmte eine Vortragende davon, wie toll Bauchgefühl sei, eine Rückkehr zur Intuition sei das Um und Auf – offenbar nicht wissend, dass die berühmteste Person, die alles nur mit Bauchgefühl und ohne Zahlen macht, Donald Trump ist.
Können Sie dem Satz etwas abgewinnen: Früher war das politische Personal besser als heute?
Das weiß ich nicht sicher.
Es werden doch gern Churchill-Vergleiche gezogen, Adenauer, Willi Brandt …
Churchill hat einen großen Krieg gewonnen. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass Konrad Adenauer besser war als Angela Merkel. Allerdings glaube ich, dass die Deutschen als Wahlvolk wahnsinnig erwachsen sind und jetzt schon zum zweiten Mal eine uncharismatische Persönlichkeit zum Kanzler beziehungsweise Kanzlerin gewählt haben. Das finde ich unglaublich erwachsen. Denn es ist grundsätzlich ein großer Fehler vieler Demokratien, sich nur auf Charisma zu beziehen. Trump ist für einen Teil des amerikanischen Volkes charismatisch, Obama sicher für einen ganz anderen. Insgesamt glaube ich, dass Charisma natürlich für jemanden, der vorne steht, einen wichtigen Teil darstellt, aber auch völlig überbewertet wird.
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Gibt es einen Punkt, bei dem Sie sagen: Das war für Sie früher besser?
Es gibt Dinge, die früher schon schlecht, aber noch kein Problem waren. Die Klimakatastrophe ist so ein Beispiel. Wenn ich die CO2-Werte etwa kulminativ anschaue: Wer hat seit Beginn der industriellen Revolution pro Person das meiste CO2 in die Luft geblasen? Dann ist Europa eindeutig Nummer 1. Viel schlimmer als China und schlimmer als die USA. Weil wir unsere Industrien schon viel früher und extrem ineffektiv betrieben haben, dies hatte sich nur lange nicht ausgewirkt. Meine arme Großmutter zum Beispiel, die ihr ganzes Leben sparsam gelebt, nie ein Auto besessen hat und noch nie im Flieger war, hatte einen doppelt so schlechten CO2- Footprint wie ich. Der durchschnittliche Österreicher ihrer Generation hat zehn Tonnen im Jahr rausgeschleudert mit der ganzen Kohle und dem Holz; jetzt sind es fünf Tonnen.
„Meine sehr sparsame Großmutter, hatte einen doppelt so schlechten CO2- Footprint wie ich.“
Wäre die junge Generation weniger depressiv, wenn die Erzählung der Alten umgedreht würde – nach dem Motto: Früher war alles schlechter, und nicht besser?
Dies würde Veränderung bringen – auch wenn in den Schulen Sozialgeschichte unterrichtet würde: „Wie ging es den Leuten?“ anstatt „Welcher König hat wann regiert?“. Oder: Was haben wir vor 100 Jahren gegessen, als es keine Südfrüchte, nichts Frisches gab? Denn es gab keine Kühlschränke, alles ist sofort kaputtgegangen. Das ist doch super-interessant! Wie ging es denn dem Soldaten, der für den König in den Krieg ziehen musste? Wie war es, als ihm der Fuß weggerissen wurde, wie sah der Verband aus, wie hat man die Entzündung behandelt? Alles superinteressant – anstatt, eine Jahreszahl zu lesen, die ich genauso gut googeln könnte.
In Hinblick auf die Serviceleistungen von Google müsste das Narrativ tatsächlich verändert werden.
Es braucht eine neue Generation von Geschichte-Unterrichtenden und eine Beschäftigung damit, wie es den Menschen wirklich ergangen ist. Nicht nur vor 500 Jahren, sondern auch vor 100 oder 70 Jahren. 1930 war Vorarlberg ein Exportland für Schwabenkinder, weil man die Kinder nicht ernähren konnte. Heute steht dort vor jedem Stadel ein 7er-BMW. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Vorarlberg eine Abstimmung, bei der die Mehrheit der Vorarlberger zur Schweiz wollte. Aber das Land war so arm, die Schweizer wollten uns nicht, und wir mussten wieder zu Österreich zurückkriechen. Jetzt würden die Schweizer das anders sehen.
Zur Person:
Der Stardesigner und zweifache Grammy-Gewinner Stefan Sagmeister wurde in Bregenz (Vorarlberg) geboren und lebt und arbeitet die meiste Zeit in New York. Er gestaltete unter anderem CD-Covers für die Rolling Stones, Lou Reed, Aerosmith und David Byrne. Zuletzt waren seine Arbeiten bei Einzelausstellungen (beziehungsweise mit seiner damaligen Partnerin Jessica Walsh) zum Thema Glück („The Happy Show“) und Schönheit („Beauty“) zu sehen – beides im Wiener MAK und um Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Aktuell geht seine Schau zu „Heute ist besser“ um die Welt. Das Buch dazu ist im Hermann Schmidt Verlag erschienen und hat 264 Seiten.
Disclaimer: Dieses Interview wurde erstmals in der sheconomy Printausgabe Juli 2024 veröffentlicht.