StartBalanceHealthStaatsministerin Judith Gerlach: "Fortschrittliche Medizin ist ein Wirtschaftstreiber"

Staatsministerin Judith Gerlach: „Fortschrittliche Medizin ist ein Wirtschaftstreiber“

Fachkräftemangel, die Finanzierung des Gesundheitswesens und die digitale Transformation: Judith Gerlach, Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention in Bayern, steht vor großen Herausforderungen. Wie die Politikerin ihren Fokus auf Frauengesundheit legt, warum ihr Ministerium wie ein Unternehmen funktioniert und welche Rolle Auszeiten mit ihrer Familie in ihrem Leben spielen, verrät sie im Interview.

Früher waren Sie Staatsministerin für Digitales, heute für Gesundheit, Pflege und Prävention. Wie passt das zusammen?

JUDITH GERLACH Für mich ist das ein gutes Match. Der Gesundheitsbereich betrifft uns alle persönlich, und die Beschäftigten im Gesundheitsbereich sind für unsere Gesellschaft da. Daher ist meine politische Motivation in diesem Amt sehr hoch, für sie sehr gute Rahmenbedingungen zu schaffen und sie zu unterstützen – gut gemachte Digitalisierung kann dabei helfen.

2024 liegt der Fokus im Gesundheitsministerium auf Frauengesundheit. Warum?

J . G . Wir wollen dieses Thema stärker ins Bewusstsein rücken. Frauen sind teilweise von Krankheiten betroffen, die Männer nicht haben. Zum Beispiel Gebärmutterhalskrebs und Endometriose. Bestimmte Krankheiten, wie Essstörungen und Demenz, treten bei Frauen häufiger auf als bei Männern. Frauen haben seltener einen Herzinfarkt – aber wenn, dann verläuft er öfter tödlich. Wir wollen Diskussionen zu diesem Thema ins Rollen bringen, unter anderem mit Runden Tischen und Kampagnen.

Wie gelingt es, diese Themen in die Wirtschaft zu bringen?

J . G . Auf jeden Fall mit guten Beispielen. Ich glaube, dass bereits viel im Bereich betrieblicher Gesundheitsförderung getan wird, aber jede schöne Liste an Vorsorgeprogrammen bleibt nur ein PDF auf dem Computer, wenn es nicht auch Vorreiter in einem Unternehmen gibt, die diese aktiv nutzen. Im besten Fall schreibt sich die Führungsetage das Thema Vorsorge selbst auf die Fahnen und lebt es den Mitarbeitenden vor. Übrigens hört es bei Vorsorge- und Präventionsmaßnahmen oder einem gesunden Lebensstil nicht auf, sondern geht weiter bis hin zum Thema gesundes Führen eines Unternehmens beispielsweise.

Ein sehr wichtiger Punkt …

J . G . … der sich nicht nur körperlich auswirkt, sondern auch zu mehr mentaler Stabilität führen kann – nicht nur bei Frauen, sondern bei der gesamten Belegschaft. Dafür braucht es eine große Offenheit in der Führungsebene von Unternehmen oder Behörden. Wir haben das bereits zum Thema gemacht: Was bedeutet eigentlich gesundes Führen? Und wie offen sind wir dafür, das auch zu leben?

Zu Besuch bei der Ministerin: Herausgeberin Yvonne Molek (l.) und Dagmar Zimmermann, Redaktionsleitung Deutschland (r.), trafen Judith Gerlach.

Kann fortschrittliche Medizin ein Wirtschaftstreiber sein?

J . G . Ich bin der festen Überzeugung, dass fortschrittliche Medizin heute bereits ein Treiber für die Wirtschaft ist und sich beides gegenseitig positiv beeinflusst. Durch innovative medizinische Forschung und Technologien entwickeln wir kontinuierlich verbesserte Methoden und Therapien, die nicht nur die Gesundheit der Menschen fördern, sondern auch wirtschaftlich relevant sind. Dies führt zu einer Steigerung der Heilungschancen und trägt zur Verbesserung der Lebensqualität bei. Aus diesem Grund ist es meiner Ansicht nach wichtig, auch auf politischer Ebene geeignete Rahmenbedingungen für die medizinische Forschung zu schaffen. In Bayern setzen wir uns intensiv dafür ein, indem wir Projekte an Universitätskliniken unterstützen und innovative Forschungsansätze fördern.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

J . G . Das Projekt digiOnko, das wir fördern, nutzt KI, um die Früherkennung von Brustkrebs zu verbessern, Rückfälle zu vermeiden und die Heilungschancen zu erhöhen. Das sind genau die Projekte, die nicht nur positive Auswirkungen auf die Patient:innen haben, sondern auch auf unser Wirtschaftssystem. Dabei ist es auch Aufgabe der Politik, Akzente für die Forschung zu setzen – zum Beispiel über Fördermaßnahmen, mit dem Ziel, dass solche Maßnahmen später auch von den Krankenkassen finanziert werden. Auf diese Weise können wir Ergebnisse generieren, die möglicherweise sonst nicht erzielt worden wären.

Also besser Vor- als Nachsorge?

J . G . Ich bin der Überzeugung, dass unser Gesundheitssystem einen größeren Fokus auf die Prävention legen sollte, das wird mir noch zu sehr als schmückendes Beiwerk gesehen. Menschen müssen stärker dazu motiviert werden, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen.

„Ein Ministerium funktioniert ähnlich wie ein Unternehmen: Die Mitarbeiter:innen sind zuständig für eine große Vision, in diesem Fall eine gesundheitspolitische.“

Fehlt uns das Bewusstsein dafür?

J . G . Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Es gibt sicherlich viele Menschen, die regelmäßig zur Vorsorge gehen. Dennoch besteht noch Potenzial für eine verstärkte Aufklärung über die verschiedenen Vorsorgemaßnahmen und die empfohlenen Untersuchungsintervalle je nach Alter. Als Politik und Ministerium sollten wir verstärkt daran arbeiten, diese Informationen niederschwelliger zugänglich zu machen und die Menschen über die Bedeutung der Vorsorge zu informieren.

Stichwort Fachkräftemangel im Gesundheitswesen: Wo sehen Sie hier Lösungen?

J . G . Sehr relevant und deutlich erkennbar ist dieses Thema bereits jetzt im Pflegebereich. Das liegt auch daran, dass die Bevölkerung – glücklicherweise – immer älter wird, was jedoch zu einer Zunahme von Multimorbidität (gleichzeitiges Bestehen mehrerer Krankheiten, d. Red.) und Pflegebedürftigkeit führt. Wir müssen an verschiedenen Stellen ansetzen.

Wo genau?

J . G . Junge Menschen müssen begeistert werden, den Pflegeberuf zu ergreifen. Dazu müssen die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung stimmen. Hier war die Lohnentwicklung in den letzten Jahren sehr erfreulich. Um die Attraktivität des Berufsfeldes zu steigern, bieten wir neben der generalistischen Ausbildung auch die Möglichkeit eines Studiums an, was zu einem Kompetenzzuwachs im Pflegebereich führt. Außerdem wird es immer wichtiger, die Menschen im Beruf zu halten und ihre Zufriedenheit zu gewährleisten.

Wie kann das gelingen?

J . G . Derzeit testen wir Springerkonzepte, die vom Ministerium finanziert werden und prüfen sollen, wie mehr Verlässlichkeit im Dienstplan erreicht werden kann, um das ständige Einspringen zu reduzieren. Des Weiteren stellen wir die Frage, wie wir die Resilienz von Pflegekräften stärken können, damit sie den Beruf langfristig ausüben können. Zu diesem Zweck investieren wir 18 Millionen Euro, um präventiv sicherzustellen, dass Pflegekräfte körperlich und mental stabil bleiben.

Welche Future Skills braucht es im Gesundheitswesen?

J . G . Technologie muss in Zukunft so eingesetzt werden, dass sie in Gesundheitsberufen Sinn ergibt. Aktuell habe ich oftmals das Gefühl, dass Digitalisierung ein nerviges Anhängsel ist, das man abhaken muss. Das soll es nicht sein. Digitalisierung soll unterstützen, Arbeit abnehmen. Wir können das Gesundheitssystem sehr gut unterstützen, indem wir Tools und Geräte so einsetzen, dass sie den Alltag von Pflegefachkräften oder Ärztinnen und Ärzten erleichtern. Mir geht es darum, administrative Dinge sinnvoll digital abzuwickeln, Sprachassistenzsysteme einzusetzen und mehr Automatismus zu ermöglichen.

Wie kann die Wirtschaft dazu beitragen?

J . G . Sie kann noch mehr daran arbeiten, dem Gesundheitssektor Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, die von der Systematik her besser ineinandergreifen. Grundsätzlich sollten wir im Gesundheitssystem nicht mehr so sehr in Säulen denken, sondern sektorübergreifend. Dazu muss auch die Digitalisierung sektorübergreifend funktionieren. Schnittstellen und Datenübertragung – zum Beispiel zwischen Krankenhaus, ambulanter Versorgung und Pflege – müssen möglich sein.

Wenn Sie zehn bis 15 Jahre in die Zukunft blicken: Was wäre für Sie der Idealzustand im Gesundheitswesen?

J . G . Wenn man auf jeden Menschen mit Beschwerden individuell eingehen könnte –  medizinisch, psychisch, menschlich. Diese Fähigkeit darf uns nicht abhandenkommen. Das passiert allerdings, wenn man zu wenig Personal hat, die Digitalisierung nicht sinnvoll einsetzt und nicht auf dem neuesten Stand der Technik ist. Alles Dinge, an denen man arbeiten kann – das ist nicht nur Aufgabe der Politik, aber vor allem auch.

Muss man als Ministerin Managerinnen-Qualitäten mitbringen?

J . G . Das schadet nicht. Ein Ministerium funktioniert ähnlich wie ein Unternehmen: Die Mitarbeiter:innen sind zuständig für eine große Vision, in diesem Fall eine gesundheitspolitische. Dabei ist bei einem Ministerium der öffentliche Fokus natürlich besonders groß – und wir befinden uns in einem parlamentarischen, demokratischen System. Dabei müssen auch mal Kompromisse eingegangen werden, um einen gemeinsamen Weg für die nächsten Jahre zu finden. Man braucht immer etwas Verbindendes. Genauso wichtig ist eine intrinsische Motivation, jeden Tag an der eigenen Vision zu arbeiten, die wir gesellschaftlich weiterentwickeln wollen. Es ist eine schöne Aufgabe, aber auch eine, die jeden Tag fordert.

Sie sind in den sozialen Medien aktiv und nehmen die Bürger:innen mit …

J . G . Ja, das gehört mittlerweile dazu. Wobei ich mir genau überlege, auf welcher Plattform ich mich zeige. Ich bin zum Beispiel nicht auf TikTok, dafür auf LinkedIn. Das macht mir total Spaß und ist ein Kanal, über den ich wichtige Sachen kommunizieren kann. Ich profitiere, wenn Diskussionen entstehen oder Rückmeldungen kommen. Dennoch ist es schwierig, die Zeit dafür zu finden. Es muss auch gut überlegt sein, was ich schreibe und wie ich antworte – am Ende des Tages werde ich daran gemessen.

Was Sie aber nicht daran hindert, sehr persönliche Momente zu teilen…

J . G . Oh ja, zuletzt habe ich ein Foto von meiner Tochter und mir beim Lesen im Grünen gepostet. Als Ministerin muss ich nicht nur ein gutes Zeitmanagement haben, sondern auch gut darin sein, solche Momente zu genießen und abzuschalten. Arbeit ist nicht alles; man braucht Zeit, um seine Batterien aufzuladen. Auch das ist Vorsorge.

Welche Vorhaben wollen Sie als Ministerin während Ihrer Amtszeit umsetzen?

J . G . Wir arbeiten an einem Masterplan zum Thema Prävention: Wo haben wir Nachholbedarf? Wo benötigen wir zusätzliche Maßnahmen? Der zweite Schwerpunkt liegt auf den Menschen in unserem Gesundheitswesen, ohne die unser Gesundheitssystem nicht funktionieren würde. Hier werden wir viel Energie investieren. Genau wie in die Digitalisierung.

Im Digitalministerium haben Sie 2020 das Programm „BayFiD – Bayerns Frauen in Digitalberufen“ gestartet, um mehr junge Frauen für digitale Berufe zu begeistern. Warum?

J . G . Ich habe es geliebt und glaube einfach daran, dass wir Frauen uns gegenseitig die Räuberleiter halten müssen. Wir können uns Einblicke in den Alltag geben und dürfen sagen, dass etwas anstrengend ist. Schließlich kämpfen wir oft mit ähnlichen Problemen. Umso wichtiger ist es, Vorbilder zu haben – nicht nur in der Politik und in der Wirtschaft, sondern in der gesamten Gesellschaft. Sich an guten Beispielen zu orientieren, die nicht dem traditionellen Frauenbild entsprechen, ist wichtig. Auch heute noch.


Zur Person

Judith Gerlach (geboren 1985) ist seit 8. November 2023 Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention, führte vorher das Bayerische Staatsministerium für Digitales (2018–2023). Sie studierte Rechtswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg und ist seit 2002 Mitglied der CSU. Judith Gerlach ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.

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