StartInnovationSilicon Valley Report: Die Bucht, die niemals schläft

Silicon Valley Report: Die Bucht, die niemals schläft

Das Silicon Valley – Inbegriff für Innovation und Fortschritt – blickt auf ein hartes Jahr zurück: Lieferengpässe, Kündigungswellen und kollabierende Banken. In Europa sahen das viele als das Ende der technologischen Dominanz und innovativen Schlagkraft aus der San Francisco Bay Area. Hatten sie recht?

Wer vor der Meta-Zentrale (ehemals Facebook) am Hacker Way 1 steht, sieht zuerst das meterhohe Firmenschild mit dem Logo des Tech-Giganten: Eine liegende Acht. Symbol für Unendlichkeit. Passend für das Silicon Valley mit scheinbar unendlichen Wachstumsraten, unendlichen Visionen, unendlicher Innovation. 2020 fegte das Coronavirus global die Städte leer. Im Silicon Valley hingegen herrschte Aufschwung. Zoom, Amazon, Microsoft, Netflix machten das Geschäft ihres Lebens. Viele neu gegründete Start-ups aus der Softwarebranche profitierten von der Traction der Tech-Giganten und heimsten unverschämt hohe Bewertungen ein. Auf gute Bewertungen folgten noch bessere Finanzierungen. Anfangs. Dann kippte das System.

Das Ende endlosen Wachstums

2022 schien sich die Euphorie für die Visionäre und Trendsetter aus der Bay Area südlich von San Francisco einzutrüben. Die Krypto-Plattform FTX kollabierte – ganze 8 Milliarden Dollar fehlten in der Bilanz. Börsenkurse crashten, Massenkündigungen wurden ausgesprochen, Investor:innen behielten ihr Geld für sich, und viele Start-ups schafften den Sprung in die nächste Entwicklungsphase nicht.

Dann ging auch noch die Silicon Valley Bank baden – eine Institution, die gemeinhin als „too big to fail“ galt. Und deutschsprachige Medien vom ZDF über die Zeit und den Spiegel abwärts begannen zu fragen: War’s das mit dem Silicon Valley? Wird es seine Vormachtstellung bei Innovation und Technologie verlieren? Und was war eigentlich schiefgelaufen?

Zu viel Geld kommt teuer

Rund die Hälfte des Risikokapitals (Venture Capital) werden in den USA in der San Francisco Bay Area investiert. Durch den Investment-Boom der ersten beiden Corona-Jahre verdoppelte sich das Venture Capital im Silicon Valley auch noch. Zu viel Kapital zur falschen Zeit kann jedoch mehr schaden, als es hilft. Auf hohe Inflationsraten folgten drastische Zinserhöhungen: Amerikas Zentralbank hat seit März 2022 ganze elf Mal den Leitzins auf einen Rekordwert von 5,5 Prozent angehoben – der höchste Zinssatz seit 22 Jahren. Das ließ die Silicon Valley Bank mit 209 Milliarden Dollar Einlagevermögen in die Pleite rutschen: Ihr stand um ein Vielfaches mehr Venture Capital zur Verfügung, als sie auf die Schnelle veranlagen konnte. Managementfehler führten dazu, dass Investor:innen und Fonds begannen, ihre Einlagen abzuziehen. „Wenn du für dein Sparbuch mehr Zinsen bekommst als für Venture Capital, das sehr risikoreich ist, überlegst du dir zweimal, wo du dein Geld anlegst“, sagt der Wiener Trendforscher und Silicon Valley-Kenner Mario Herger. Seit 22 Jahren lebt er in der Bay Area, hat für Tech-Riesen wie SAP gearbeitet und bringt mit Büchern und Vorträgen auch der deutschsprachigen Bubble das „Silicon Valley Mindset“ näher.

„Wir fürchten uns zu Tode.“
Mario Herger,
Publizist und Trendforscher, über die europäische Einstellung gegenüber Innovationen

Mario Herger ist der Autor von „Future Angst“, „Cyber F*ucked“ und „Das Silicon Valley Mindset“ und lebt seit über 20 Jahren in der San Francisco Bay Area.

Sterbende Stadt?

San Francisco ist heute auf den ersten Blick nicht mehr das, was es einmal war. Anstelle des einst geschäftigen „hustle and bustle“ sieht man immer öfter verbretterte Shopfenster und geschlossene Malls. Über 120.000 Kündigungen gab es allein im vierten Quartal 2022. Handydaten zeigen, dass sich 2022 im Vergleich zu 2019 nur mehr etwa ein Drittel der Menschen in der Stadt aufhielten. Tech-Unternehmen legen Homeoffice-Regelungen besonders großzügig aus. Talente treffen sich heute nicht mehr in Co-Working-Spaces oder in Cafés, die Meet-ups finden in so- genannten Hacker-Häusern im „Cerebral Valley“, zu Deutsch dem Tal der (rauchenden) Gehirne statt. Wer jetzt ins Silicon Valley kommt, folgt keinem sichtbaren Boom wie vor fünf Jahren. Am Boden liegt die Innovationsschmiede deshalb nicht. Silicon Valley-Skeptiker:innen aus Europa hätten sich zu früh die Hände gerieben, meint Herger. Denn ein Megatrend wird hier visionär vorangetrieben wie nirgends sonst auf der Welt: die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz.

80 bis 85 Prozent der weltweiten Top-Talente im Bereich der Künstlichen Intelligenz leben und arbeiten im Silicon Valley, schätzt Herger. Gerade arbeiten tausende Firmen und Start-ups an Schnittstellen, um etwa ChatGPT mit Maschinensoftware zu verknüpfen, um Befehle oder Fehlermeldungen in menschliche Sprache zu übersetzen oder prädiktive KI für die Krebsforschung Proteinsequenzen vorhersagen zu lassen, um neue Heilmethoden zu entwickeln. Was einmal Wochen bis Monate dauerte, schafft die KI innerhalb weniger Stunden. Textverarbeitende Branchen sind sowieso betroffen, bildverarbeitende Industrien wie die Werbung kommen als nächstes. Der Einsatzbereich solcher Programme kennt kaum Grenzen. Statt zu fragen, welche Probleme mit Künstlicher Intelligenz gelöst werden können, stürze man sich in Europa aber lieber in den regulativen Wahn, findet Herger. Das weise neue Hochtechnologie in die Schranken, bevor sie Fuß fassen kann.

Mehr ,Pippi‘, weniger Vorsicht

„Das Existierende sträubt sich grundsätzlich gegen Veränderung“, sagt Ilija Trojanows Protagonistin Cya in seinem neuen Roman „Tausend und ein Morgen“. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen die „Status Quo Bias“: Was ist, hat einen Vorteil gegenüber dem, was sein könnte. „Wir fürchten uns zu Tode“, nennt es Mario Herger und meint damit die europäische Mentalität des Bremsens statt des Innovierens. Im Silicon Valley scheint die Status Quo Bias nicht zu existieren, Konventionen haben keine Bedeutung, Neugier zählt mehr als Vorsicht. Frei nach Pippi Langstrumpfs „Das haben wir noch nie probiert – also geht es sicher gut“, fällt innovatives Denken auf fruchtbareren Boden als in Europa. Und sticht die europäische Wirtschaft damit oft aus. „Technologisch hat Europa das Rennen verloren“, diagnostiziert etwa Niki Skene. Skene ist Österreicher, Silicon Valley-Insider und bietet Führungen zu den Innovations-Hotspots der Bay Area, von New York, Hongkong oder Tel Aviv an. Das verlorene Rennen macht er an zwei Dingen fest: dem europäischen Sträuben und Fürchten vor KI. Und dem drohenden Untergang der europäischen Automobilindustrie.

KI-Regulierungen und Jobverluste

„Nicht die KI wird uns Jobs wegnehmen, sondern 14-Jährige.“
Niki Skene, Innovations-Guide

Niki Skene ist Gründer der Innovations- agentur IACy und führt auf Innovations- und Inspirationstouren durch Städte wie San Francisco, New York und Dubai.

Innovations-Guide Skene stört sich am spröden Selbstverständnis der Europäer: Man wolle nicht innovieren, aber alles regulieren, pflichtet er Mario Herger bei. So wundert er sich etwa über Passagen im „AI Act“ der EU zur Künstlichen Intelligenz. Darin soll Social Scoring, also das Bewerten von Sozialverhalten, verboten werden. Was Skene zur Frage führt, ob deswegen Uber oder AirBnb, die solche Scorings ausweisen, künftig verboten werden sollen. „Das ist nicht zu Ende gedacht“, sagt er – und wünscht sich stattdessen, dass Social Ratings, zu denen auch Credit Scores zählen, die über die individuelle Kreditwürdigkeit entscheiden, transparent gemacht werden. Diese existieren bereits heute, aber niemand wisse, was sie eigentlich beinhalten. Die ständige Angst, KI könnte Jobs vernichten, kann Skene nachvollziehen – jedoch aus anderen Gründen: Nicht KI werde den Menschen künftig ihre Jobs stehlen, „sondern heute 14-Jährige, die sich schon jetzt der Technologie mit mehr Offenheit nähern.“

Aussterben auf vier Rädern

Und die Sache mit der Automobilität? Niki Skene seufzt ins Mikrofon seines Laptops. Kurz friert der Bildschirm ein, sein Gesicht bleibt für einige Sekunden halb irritiert, halb gelangweilt stehen. Während man in Europa die Elektromobilität verschlafen habe und noch diskutiere, ob Autos jemals autonom fahren dürften, gehören fahrerlose Vehikel seit neun Jahren zum Stadtbild in San Francisco, erzählt er. Rund 70 Unternehmen testeten hier autonom fahrende Autos, bevor mit Waymo (Tochter von Google-Mutter Alphabet) und Cruise (General Motors) schließlich zwei Robotaxi-Flotten auf den Markt kamen, die seit August 2023 Passagiere selbstständig durch die Stadt chauffieren.

Auch dass immer noch diskutiert werde, ob Elektroautos die Zukunft seien, lässt Skene den Kopf schütteln. Bei einem Verbrenner können rund 2.000 Teile kaputtgehen, bei einem E-Auto 270. Der Verbrenner ist wartungsintensiver, ineffizienter und stößt im Betrieb Schadstoffe aus: „Ende der Diskussion“, sagt Skene. „Im Silicon Valley tut man Dinge, weil sie Sinn machen. Nicht weil es seit 100 Jahren die immergleiche Regel gibt.“ In Europa stelle man die falschen Fragen, ist er überzeugt. Jetzt, wo selbst- fahrende Autos keine Utopie mehr sind, müsse man sich eigentlich fragen, wie man das Auto wieder in Bewegung bringen kann und welche Aufgaben es – wenn es sich autonom bewegen darf – noch erfüllen soll. Im Silicon Valley zerbricht man sich darüber bereits den Kopf. Die Ersten mit brauchbaren Ideen können sich hoher Investments sicher sein.

„Hier macht dich niemand für eine Idee lächerlich“

Visionen und Innovationen werden im Silicon Valley zweifelsohne mutiger gedacht als in Europa. Wollen die Europäer:innen mit den Entwicklungen im Silicon Valley mithalten, müsse sich das Mindset ändern, ist sich Niki Skene sicher. Natasha Chatlein schließt sich seiner Aussage an. Sie ist Programmverantwortliche der Außendelegation der WKO in San Francisco und organisiert mehrwöchige Bootcamps für österreichische Start-ups im Silicon Valley. Über 150 Start-ups haben bereits das Programm durchlaufen. Beispiele erfolgreicher Unternehmen, die Fuß fassen konnten, sind etwa Patricia Bubners Cultivated Meat Start-up Orbillion oder das Salzburger Augmented Reality Start-up Wikitude, das vom Halbleiterriesen Qualcomm gekauft wurde.

Der ganze Zauber der Gegend, all das innovative Potenzial komme aus der hier vorherrschenden Grundhaltung: „Gründer:innen arbeiten hart – sie arbeiten rund um die Uhr. Jeder zweite Uber-Fahrer tüftelt an seinem eigenen Projekt. Und sie arbeiten in dem Selbstverständnis, dass sie die Welt verändern können. Hier macht dich niemand für eine Idee lächerlich, egal wie groß du sie denkst“, sagt Chatlein. Konkret lässt sich der Unterschied im Mindset in zwei Fragen herunterbrechen: Pitchen europäische Start-ups ihre Idee zu Hause, heißt es oft: „Warum tust du dir das an?“ Im Silicon Valley lautet die Frage „Wie willst du es machen?“.

„Wenn dein Start-up im Silicon Valley scheitert, schreckt das Investor:innen nicht ab“
Natasha Chatlein WKO-Programmdirektorin für San Francisco

Natasha Chatlein arbeitet für die Außendelegation der WKO in San Francisco und ist Programm-Managerin für Start-ups, Technologie und Innovation im Silicon Valley.

Fail fast

Chatlein sieht ein Problem europäischer Start-ups in ihrem Fokus: Man sei zu produktorientiert, zu verbissen darauf, bloß keine Fehler zu machen. „Fail fast“ ist eine der Devisen aus dem Silicon Valley: Schnelle Prototypisierung, zu hundert Prozent an Kund:innen orientiert, und wenn etwas schiefgeht, merkt man es schnell. In Europa werde alles zu Ende getüftelt, ohne es jemals an die relevante Zielgruppe zu bringen, analysiert Chatlein die unterschiedlichen Zugänge und Entwicklungsgeschwindigkeiten. Und: Auch Fehler sind erlaubt. Dass europäische Start-ups nicht rechtzeitig aussteigen, wenn ihre Idee floppt, habe auch mit der Fehlerkultur zu tun, sagt die Programmdirektorin: „Wenn dein Start-up im Silicon Valley scheitert, schreckt das Investor:innen nicht ab. Die wollen nur wissen, ob du aus deinen Fehlern gelernt hast. Wenn du in Europa scheiterst, bist du erledigt.“ In einer Kultur, die Fehler zulässt, erholen sich Gründer:innen schneller vom Gefühl des Scheiterns – dieses gehört eben dazu.

Pull-Effekt reißt nicht ab

Dass San Francisco heute zwar ruhiger denn je scheint, es Investor:innen aber immer noch ins Silicon Valley zieht, hat bei aller Innovationskraft auch rechtliche Gründe. Zwar hat die EU mit 450 Millionen Menschen deutlich mehr Einwohner:innen als die USA mit 330 Millionen. Allerdings kann Europa kaum als homogener Markt betrachtet werden. Abweichende rechtliche Rahmenbedingungen, 24 Amtssprachen in der EU und höchst unterschiedliche bürokratische Hürden erschweren die Internationalisierung von Geschäftstätigkeiten auf europäischer Seite – obwohl ein gemeinsamer Wirtschaftsraum existiert. Das gilt sowohl für Investor:innen als auch Start-ups, egal ob sie aus der EU oder den USA stammen. Geschäfte mit und in Europa haben weiterhin das Label: „It’s complicated.“

Und – vielleicht noch entscheidender: Belief sich das BIP pro Kopf in der EU in den 2000er-Jahren auf etwas über 70 Prozent des BIPs der USA, sind es heute nicht einmal mehr 66 Prozent. Gleichzeitig sind die USA der mit Abstand größte ausländische Investor in der EU. Wirtschaftlich holt China währenddessen kontinuierlich auf. Zuletzt „nur“ mehr mit acht statt wie noch vor nicht allzu langer Zeit 15 oder 20 Prozent Wachstum – gegenüber der rückläufigen Entwicklung in Österreich und Deutschland immer noch ein ordentlicher Zuwachs. Diese Sandwichposition kann der EU wirtschaftlich nicht gefallen.

Das Silicon Valley-Mindset

Wettbewerbsvorteile der Tech-affinen, unternehmerischen Bubble rund um die Universitäten Stanford und Berkely sind kaum mehr aufzuholen (c) Dawei Lu | Unsplash

Was ist es konkret, das Silicon Valley-Mindset, das die Bay Area so besonders macht, das alle Inerviewten so hervorstreichen, das derart viele Innovationen hervorbringt? „Es ist von einem generellen Optimismus geprägt“, sagt Trendforscher Mario Herger. Im Silicon Valley muss keine Idee ausgereift und perfekt sein, wenn sie geboren oder das erste Mal vorgetragen wird. Ihr wird Raum und Zeit gegeben und vielleicht auch einige Fehlversuche, um zu wachsen. Das Gegenteil des Silicon Valley-Mindset sehen Herger und Skene im Verhaftet-Sein in dystopischen „Was wäre wenn-Fragen“: Lieber einmal Angst vor dem Neuen haben, statt Ausgedientes gehen zu lassen. Das bringe eine Gesellschaft nicht weiter, sagen beide

Also alles Eitel-Wonne im Silicon Valley? Nicht wirklich: „Leben möchte ich hier nicht“, sagt Niki Skene. Unter 150 Dollar pro Tag lässt es sich in der Bay Area nicht gut aushalten. Das Einstiegsgehalt eines Data Scientist im Silicon Valley beträgt 120.000 Dollar pro Jahr. Reguläre Preise müssen mit dem Faktor Vier multipliziert werden. Dementsprechend hoch sind die Mieten – Downturn hin oder her. Im Silicon Valley fürchte man sich nicht vor Künstlicher Intelligenz, sondern davor, die horrenden Mieten nicht bezahlen zu können, sagt Natasha Chatlein. Auf der Straße kämpft San Francisco mit hohen Obdachlosenzahlen und einem massiven Drogenproblem.

Die Innovationsfähigkeit des Silicon Valley scheint jedoch ungebrochen. Denn es ist immer noch die Heimat der/des weltweit größten: Suchmaschine, Onlineversandunternehmens, Streaminganbieters, Computersoftwareherstellers, Sozialen Netzwerks. Über Jahrzehnte ist hier eine Welt rund um die hochangesehenen Universitäten Stanford und Berkely entstanden, die sich in Kombination mit einem starken, unternehmerischen Mindset und Tech-affinen Investor:innen zu einem Hub entwickelt hat, den es so nirgends auf der Welt gibt. Das schafft Wettbewerbsvorteile, die vor allem im Tech- und KI-Bereich kaum mehr aufzuholen sind. Die Frage aus Europa darf also nicht lauten: Dürfen die eigentlich so weiterspielen, wenn sie immer die größte Schaufel haben? – sondern: Wollen wir mitspielen?

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