Das Gerechtigkeitsgefühl der Verbraucher:innen ist verletzt, die Erwartung des geteilten Leids in der Not zwischen Unternehmen, Kund:innen und Konsument:innen, wurde enttäuscht. Haben Unternehmen etwa nicht nur ihre erhöhten Kosten weitergegeben, sondern aus der zusätzlichen Belastung der Endverbraucher:innen Vorteile gezogen? Sind sie zu gierig gewesen?
Kostenexplosion durch Gierflation?
Wie berechtigt ist die Einschätzung? Wie stellt sich diese Situation aus der Sicht der Unternehmen oder aus größerer Distanz dar?
Als langjährige Geschäftsführerin im Controlling weiß ich: Preise werden nicht ex post, sondern ex ante, mit Blick nach vorn gebildet und vereinbart. Dabei bewegen sie sich immer zwischen zwei Bahnen. Sie sollen die in ihrem zukünftigen Geltungszeitraum entstehenden Kosten decken und gute Gewinne ermöglichen.
Daher wird die Preishöhe durch die Kaufbereitschaft der Kund:innen bei bestimmten Produkten oder Dienstleistungen begrenzt. Diese Gewinne dienen dann unter anderem der Kompensation vergangener Verluste.
In den meisten Industrien werden diese Preise jährlich oder während großer Projekte verhandelt, sie müssen also die Erwartungen zu Kostenentwicklungen und Kaufverhalten über einen längeren Zeitraum abdecken. Im Normalfall sind diese Kosten zu großen Teilen von Unternehmen planbar.
Gasmangellage und große Unsicherheit
Doch im vergangenen Jahr 2022 war alles anders. Lieferkettenprobleme und Ukraine-Krieg führten zu ungeahnten Preisanstiegen. Diese übertrafen nicht nur alle vorherigen Kalkulationen massiv, sondern waren sogar von weiteren Steigerungen und einer Dauerhaftigkeit der Situation gefolgt.
Nach- und Neuverhandlungen von Preisen wurden als große Ausnahme notwendig und deren Geltungsdauer blieb unklar. Wieder bildeten die Erwartungen für die nächsten Monate die Basis der Kalkulationen.
Es stellt sich die Frage: Welche Entwicklungen schienen für Markt-Analyst:innen im Sommer und Herbst 2022 wahrscheinlich? Die Dauer des Krieges, die Preise für Energie und sogar deren Verfügbarkeit wurden zunehmend pessimistischer beurteilt.
Im Oktober stand in Deutschland und Österreich sogar eine Gasmangellage im Raum.Unternehmen kämpften um Priorisierung im Fall einer Energie-Rationierung, um im gegebenen Fall weiterhin produzieren zu können. Die Inflationsrate stieg Monat für Monat. Zukünftig weiter steigende Einstandspreise, sowie deutlich höhere Lohnforderungen waren zu vermuten. Und zu berücksichtigen.
Gleichzeitig waren die ersten Monate der Inflation in Deutschland und Europa von extremer Konsumzurückhaltung geprägt. Ende August liefen in Deutschland populäre Maßnahmen wie das 9-Euro-Ticket und der Tankrabatt aus, welche die Konsument:innen noch entlastet hatten. Die Wahrscheinlichkeit weiterer deutlicher Nachfragerückgänge war hoch, die von Verlusten damit auch.
In einer derartigen Konstellation, maximal mögliche Preise zu etablieren, lag im Interesse vieler Unternehmen. Unabhängig von deren Größe, von der Bäckerei bis zum Konzern. Und natürlich sahen viele darin auch die seltene Chance, Preise stärker als üblich anzuheben. Besonders gut gelang das jenen Unternehmen, die auch schon vor der Krise erfolgreich waren.
Drei Effekte waren in dem Zusammenhang hilfreich:
- Das Wissen der Kund:innen um die enormen Kostensteigerungen, sowie eine ähnliche Betroffenheit und Einschätzung der zukünftigen Marktentwicklung.
- Geschlossenheit innerhalb der Branchen wegen des gleichen gemeinsamen Kostendrucks.
- Die Preissetzungsmacht aufgrund von Marktführerschaft und/oder der Begrenztheit des Angebots.
Wie hat sich die Lage 2022 tatsächlich entwickelt?
Deutlich positiver als erwartet. Die Befürchtungen sind nicht eingetreten. Ein Boykott durch Putin erfolgte nicht, der Winter war mild, der Verbrauch an Gas und Energie moderat, der Gasmangel blieb aus, die Preise für Energie sanken.
Trotz steigender Preise der Unternehmen blieben die Absatzmengen relativ stabil. Hohe Sparquoten aus der Coronazeit, ausgeprägtes Energiesparverhalten, aber auch staatliche Unterstützungsleistungen waren hilfreich. Viele Unternehmen konnten von ihren hohen Exportquoten und ihrer Präsenz im Ausland profitieren.
Mit den prognostizierten, deutlich höheren Energiepreisen oder gar einer Gasmangellage wären die Gewinne allerdings nicht entstanden. Diese basieren also entscheidend auf glücklichen Umständen und den überraschend positiven Entwicklungen bezüglich Kosten und Absatzmengen. Die Kombination aus geringerer Kostensteigerung und überraschend stabilen Absatzmengen trotz stark gestiegener Preise bildete die Basis für die Übergewinne, die nun in den Bilanzen zu Buche schlagen
Fakt ist allerdings: Für viele Unternehmen bilden sie eine wichtige Rücklage für die weiter anhaltende Inflation und die folgende Rezession. Auch die Auszahlung der Dividenden an Aktionär:innen ist richtig.
So bleiben die Aktien der betroffenen Unternehmen für Anleger:innen trotz steigender Zinsen für Spareinlagen weiterhin attraktiv. Gleichzeitig werden viele Aktien auch von Kleinaktionär:innen gehalten, für die diese Zahlungen gerade in der Inflation wichtige Einkommen sind.
Übergewinne kein Zeichen von Gierflation
Aus dieser Perspektive sind die aktuell besonders hohen Gewinne kein Ausdruck von Gier, oder Gierflation, sondern Ergebnis der bestehenden großen Krisen und deren Unvorhersehbarkeit.
Lieferkettenprobleme durch Corona, Krieg und Inflation schaffen schwierige Bedingungen für Unternehmen und Endkund:innen. Die Inflation steigt weiter, eine Rezession scheint wahrscheinlich, Ende 2023 kann die Situation für viele Unternehmen noch deutlich schwieriger werden. Das Ausmaß an Insolvenzen bei Schuh- und Bekleidungshändlern in den vergangenen Monaten liefert schon mal einen Vorgeschmack.
Trotzdem ist die Diskussion eine wichtige. Positiv: Für alle Gewinne gilt, je höher sie sind, desto mehr Steuereinnahmen fließen in die Staatshaushalte und damit an die Allgemeinheit.
Über die Autorin:
Heike Adam ist als selbständige Unternehmensberaterin Expertin für Finanzen, Krise & Inflation, Associate Partner der Theron Advisory Group sowie Lehrbeauftragte der Euro-FH Hamburg. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin BWL studiert und ist anschließend mit Schwerpunkt Finanzen über 20 Jahre für die Dax-Konzerne Henkel und Beiersdorf international tätig gewesen.
Als Mitglied der Geschäftsführung Südeuropa steuerte sie die dortigen Beiersdorf-Firmen durch die griechische Finanzkrise und Turnarounds. Bei Henkel war sie u.a. für die Hochinflationsländer und das Global Inflation Accounting verantwortlich. Sie hat die praktischen Implikationen einer Inflation direkt erlebt.
Sie weiß, wie intensiv Inflation Wirtschaft und Unternehmen beeinflusst und wie Unternehmen gegensteuern können. Mit dem „Inflation-Märkte-Modell“ hat sie das erste mikroökonomische Modell zur Inflation entwickelt, das Teil des Lehrangebots der Euro-FH Hamburg ist. Sie hält erfolgreich Vorträge, veröffentlicht Fachartikel und ist zu Gast in Podcasts.