Was brauchen Menschen, um ein erfülltes Leben zu führen? Welche Fähigkeiten sind für Individuen und Organisationen wichtig, um sich in der Arbeitswelt der kommenden Jahrzehnte behaupten zu können? Und wie kann in Zeiten von wachsenden gesellschaftlichen wie ökologischen und ökonomischen Herausforderungen ein Umdenken und positiver Wandel gelingen? Allesamt Fragen, mit denen sich die Positive Psychologie beschäftigt.
Bekannt wurde der Forschungszweig Anfang der 90er Jahre vor allem durch den Amerikaner Martin Seligman, ehemals Vorsitzender der einflussreichen American Psychological Association (APA). Der mittlerweile 82-jährige Psychologe hat im Laufe seiner Karriere mehrere Bestseller geschrieben und einflussreiche Studien, unter anderem für das US-Militär, geleitet. Darunter eine, die sich mit der Steigerung der psychologischen Resilienz des gesamten US-Militärs auseinandersetze und der Frage, wie Posttraumatische Belastungsstörungen vermieden werden können. Ausgangspunkt der Studie waren die hohen Suizidraten und die Frage, wie Menschen einen Umgang mit den schwersten Erfahrungen des eigenen Lebens finden können.
Im deutschsprachigen Raum stand man Seligmans Theorien lange kritisch gegenüber – nicht zuletzt, weil er sich, im Gegensatz zur meist defizitorientierten, klinischen Psychologie europäischer Ausprägung, auf die und zwar an der privaten Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) in Berlin. Judith Mangelsdorf leitet dort den Masterstudiengang in Positiver Psychologie und ist als Mitbegründerin und Vorsitzende des Dachverbands eine der zentralen Gestalter*innen der Fachdisziplin in Deutschland und Österreich.
Nach ihrer berührenden Keynote zum Thema „In die Sonne schauen: Wie existentielle Erfahrungen den Weg in eine bessere Zukunft weisen“, beim von Philip Streit organisiertem Tomorrowmind Kongress 2023 in Wien, wurde die 40-jährige Deutsche von rund 1.300 Besucher*innen mit Standing Ovations beklatscht. Wir haben die Chance genutzt, sie im Nachgang des Auftritts zu fragen, welchen Beitrag die Positive Psychologie ihrer Meinung nach für eine Überwindung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen leisten kann, was wir vom World Happiness Index lernen können und warum der Vorwurf, die Positive Psychologie propagiere uneingeschränkten Optimismus, schlicht falsch ist.
„Toxic Positivity“ ist aktuell ein stark boomender Begriff, durch den sich die Kritiker*innen der Positiven Psychologie erneut bestärkt fühlen. Können Sie das Missverständnis ausräumen?
JUDITH MANGELSDORF Die Positive Psychologie beschäftigt sich mit den psychologischen Grundlagen eines gelingenden Lebens. Hierzu gehören die Facetten positiver Identität wie Werte, Stärken oder Lebenssinn, aber auch konstruktive Perspektiven des Denkens wie beispielsweise Optimismus oder Dankbarkeit. Generell wissen wir, dass diese Perspektiven hilfreich sind. Wer optimistisch in die Welt schaut, ist beispielsweise gesünder, sozial mehr eingebunden, erfolgreicher und lebt sogar länger.
Was hierbei oft ungesagt bleibt, ist, dass es nicht um eine Generalisierung geht, sondern um Passung. Nicht immer ist unumschränkter Optimismus gut. Schon gar nicht, wenn ich ihn jemand anderem oktroyiere. Wenn jemand in Not ist, dann ist der Satz: „Wird schon wieder!“, oft eher schädlich als hilfreich. Dieses Zuviel-des-Guten kann Beziehungen vergiften. Deswegen der Begriff Toxic Positivity. Ein Zuviel-des-Guten gleichzusetzen mit der Positiven Psychologie wäre allerdings grundlegend falsch. Denn niemand von uns Forschenden im Fach würde jemals sagen: „Good vibes only“. In der Ganzheit wird der Mensch zum Ich.
Sie haben in Ihrer Keynote Viktor Frankl, den Gründer der Logotherapie, zitiert. Wo sehen Sie die stärksten Überschneidungen und was fasziniert Sie persönlich an Frankl?
J . M . Frankl hat wie kein anderer das Thema Lebenssinn in die Welt der Psychologie geholt. Sowohl den Menschen als grundsätzlich sinnorientiertes Wesen zu verstehen, aber auch die Bedeutsamkeit für Sinn, um Krisen zu überwinden, waren zu seiner Zeit revolutionär. Viel von dem, was Viktor Frankl als Holocaustüberlebender vorgedacht hat, ist heute Grundlage unserer wissenschaftlichen Forschung im Feld. Als Forschende im Bereich des posttraumatischen Wachstums fasziniert mich Frankl als Person genauso wie sein Denken. Er ist selbst ein eindrückliches Beispiel dafür, wie uns die schwersten Herausforderungen unseres Lebens dazu bringen können, über uns hinauszuwachsen.
Sie befassen sich mit posttraumatischem und postekstatischem Wachstum: Was hat Sie bei der Analyse der Auswirkungen einschneidender Lebensereignisse auf die Psyche besonders überrascht?
J . M . Am meisten bewegt hat mich die Erkenntnis, dass unsere besten Erfahrungen uns ebenso stark prägen wie unsere schlimmsten. Nietzsches berühmter Satz „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“ ist ja tief in unserer deutschen Kultur verankert. Lange Zeit ging man davon aus, dass es gerade die schweren Lebensereignisse sind, die in Wachstum münden können. Dass positive Ereignisse mindestens genauso stark wirken, war neu. Für mich ist das ein mutspendender Appell an das menschliche Leben.
Vom Sinn und Unsinn des World Happiness Index: Die Ergebnisse werden oft falsch interpretiert. Welche Deutung drängt sich aus der Sicht der Positiven Psychologie auf, wenn man skandinavische Länder und die Letztplatzierten vergleicht?
J.M. Der World Happiness Index erscheint jedes Jahr mit einer langen wissenschaftlichen Stellungnahme darüber, wie Länderunterschiede zu erklären sind. Viel zu oft werden diese aber nicht medial berichtet. Interessant ist hier vor allem eines: Die politische Situation im Land – also die Frage, ob man in einer Demokratie und einem Sozialstaat lebt – oder auch das Vertrauen der Gesellschaft in staatliche Institutionen hat nach allem, was wir wissen, einen mindestens genauso großen Einfluss auf das Glück der Bevölkerung wie die individuelle Lebensgestaltung
Sie sprechen von der vierten Welle der Positiven Psychologie. Was verstehen Sie darunter und was hat das mit dem kollektiven Wohlbefinden zu tun?
J. M. Die Positive Psychologie hat in den 25 Jahren ihres Bestehens immer wieder neue Forschungsschwerpunkte entwickelt. Ging es am Anfang primär darum, das Gute im Menschen zu verstehen, schloss die zweite Welle menschliche Polaritäten wie Schwächen und Stärken mit ein. Die dritte Welle forderte eine Erweiterung weg von individuellem Wohlbefinden hin zu systemischen Fragestellungen. Mittlerweile sind wir in der vierten Welle angekommen. Hier steht die Frage, was das Fach zu den großen globalen Fragen beitragen kann, im Mittelpunkt. Und an dieser Stelle wird das kollektive Wohlbefinden entscheidend. Also: Was braucht eine Gemeinschaft oder auch eine ganze Gesellschaft, damit es allen möglichst gut gehen kann?
Solange wir Glück individuell denken, werden wir kein kollektives Wohlbefinden erreichen. Weil das Glück Einzelner immer noch auf das Wohl anderer geht. Und je privilegierter wir sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir Ressourcen teilen müssen. Als Gesellschaft sprechen wir gerne von Wachstum und von Entwicklung. Vom Mehr. Aber wir sprechen so selten vom Weniger – vom Ruhigerwerden und vom Teilen. Kollektive Herausforderungen können niemals auf individueller Ebene gelöst werden. Es braucht den gemeinsamen Einsatz aller, damit eine bessere Zukunft entstehen kann.
Über Judith Mangelsdorf
Judith Mangelsdorf hat an der Alma Mater für Positive Psychologie, der Penn University, studiert und beim Begründer dieses Forschungszweigs, Martin Seligman, ihren Abschluss gemacht. Heute leitet sie den einzigen Masterstudiengang für Positive Psychologie im deutschsprachigen Raum und ist Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie. www.dgpp-online.de