SHEconomy: Es gibt den schönen Satz: Mit Bildung von gestern können wir morgen nicht gewinnen. In den letzten Monaten hat sich durch Homeschooling die Digitalisierung als Riesenherausforderung für unser Bildungssystem entpuppt, die von Politik, Institutionen und Gesellschaft in Angriff genommen werden muss. Oder haben wir den Anschluss schon verpasst?

Nina Von Gayl: Jahrelang lag die Digitalisierungsstrategie im Bildungsministerium in der Schublade und wurde nicht umgesetzt. Jetzt zeigt sich, wie fahrlässig das war. In vielen Schulen mussten sich die SchülerInnen über fünf unterschiedliche Plattformen Lern- unterlagen besorgen, weil jede Lehrkraft ein anderes System verwendet. Das ist unzumutbar. Es sollte jede Schule eine Plattform haben, die genutzt wird.

Doris Steindl: Dieses Problem hängt in Schulen auch damit zusammen, dass jeder für sich selbst unterrichtet und das Netzwerken überhaupt nicht funktioniert hat. Dieses fehlende Zusammenspiel hat jeder mitbekommen, der Kinder zu Hause hat. Viele Lehrer hatten auch Probleme mit dem digitalen Unterrichten. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben den Schulen angeboten, ihnen gratis Software zur Verfügung zu stellen und Einschulungen zu geben. Es wurde alles abgelehnt oder es kam keine Antwort.

Antje Roland: Wenn dieses Digitalisierungskonzept exekutiert worden wäre, dann wäre auch nicht so viel Unsicherheit bei den Schulstandorten entstanden. Sie hätten gewusst, was sie machen sollen und hätten sich zum Beispiel Experten holen können. Da hatten viele Lehrer den Angstschweiß auf der Stirn, ob sie das hinbekommen, weil sie ihr Leben lang face to face unterrichtet haben. Wir waren von diesem Thema unmittelbar betroffen, haben aber innerhalb von drei Tagen reagiert. Unsere Schüler hatten nach wenigen Tagen wieder Unterricht nach Stundenplan. Wir haben die Anwesenheit erfasst und die Klassenbücher weitergeführt.

Nina von Gayl: Es ist als private Institution leichter, zu reagieren – das öffentliche Schulsystem ist da schwerfälliger. Es fehlt an Autonomie und an einer Befehlskette, die klar sagt, wie vorgegangen wird. Jetzt muss massiv daran gearbeitet werden, dass die Lehrpläne auch in Richtung Digitalisierung gehen, damit die Kinder solche Anwendungen lernen.

Victoria Devecsai: Das Bildungssystem muss auch den Willen vermitteln, Probleme lösen zu wollen. Wir sind in einer Ausnahmesituation, für jeden schaut der Alltag plötzlich anders aus. Und hier hat das Bildungssystem zum Teil schwer versagt.

»Die Digitalisierung ist im Augenblick noch sehr akademisch, aber sie ist dennoch bereits in ganz vielen Berufsschichten und Branchen ein großes Thema.« – Victoria Devecsai

Victoria Devecsai

Wie sieht es auf der anderen Seite mit dem Lehren der Digitalisierung aus?

Nina von Gayl: Alles geht in Richtung Digitalisierung, jeder sollte daher am Ende der Schulzeit einfache, grundlegende Sachen programmieren können. Das bisschen Informatik in der Schule reicht nicht. Wir müssen die Kinder dahin entwickeln, was wirklich gebraucht wird, wo die Zukunft liegt. Und sie liegt mit Sicherheit nicht dort, wo wir momentan stehen.

Victoria Devecsai: Die Digitalisierung ist im Augenblick noch sehr akademisch, aber sie ist dennoch bereits in ganz vielen Berufsschichten und Branchen ein großes Thema.

Doris Steindl: Man muss den Leuten auch die Angst nehmen. Wir können die beste Lösung im Digitalisierungs-bereich anbieten. Wenn diese niemand anwenden möchte und niemand bereit ist, die Prozesse umzustellen, dann bringt sie nichts.

Wie differenziert muss ein modernes Bildungssystem sein, um den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden?

Antje Roland: Der österreichische Lehrplan ist weit davon entfernt, abzubilden, was sich gesellschaftspolitisch getan hat. Und die Zentralmatura hat der Sache endgültig den Deckel aufgesetzt, weil die LehrerInnen ihre SchülerInnen nur noch auf diesen Termin hin trimmen. Wo bleibt da die Flexibilität?

Nina von Gayl: Für das Bildungssystem ist es leichter, wenn ich alle über einen Kamm scheren kann. Nur, das funktioniert nicht, die Kinder sind viel zu unterschiedlich. Das Bildungssystem ist aber nicht bereit, diesem Umstand Rechnung zu tragen.

Neben der Digitalisierung gilt als zweite große Herausforderung, wie man es schaffen kann, dass die Schüler beginnen, MINT-Fächer nicht mehr zu fürchten.

Victoria Devecsai: Man muss zuerst hinterfragen, warum Mathematik ein derartiges Angstfach ist und die Vermittlung der MINT-Fächer so aufbauen, dass sich die Kinder nicht vor ihnen fürchten. Diese ganze Materie gehört im Schulsystem anders aufgesetzt, denn wir brauchen so dringend Fachkräfte auf diesem Gebiet.

Doris Steindl: Aus neurobiologischer Sicht ist es so, dass man sein Gehirn nur mit Sachen füttern kann, die einem auch Spaß machen. Im technischen und mathematischen Bereich muss man gerade am An- fang sehr viel auswendig lernen. Dieses Spielerische kommt hier nicht zum Tragen, darum ist es schwieriger als in anderen Bereichen.

Nina von Gayl

Nina von Gayl: Auch diese strikte Fächeraufteilung ist meiner Meinung nach überholt. Man sollte jeden Fachbereich in einem größeren Kontext sehen. In Geschichte kann man sich beispielsweise anschauen, was in dieser Zeit passiert ist, im Deutschunterricht behandelt man parallel zur Literatur die sozialen Thematiken. Man muss das Lernen netzwerkartig verknüpfen, um die Themen besser und umfassender zu verstehen.

Antja Roland: Auch das Thema Finanzbildung könnte man super in Geschichte oder in Geografie integrieren. Es gibt überall Anknüpfungspunkte.

Victoria Devecsai: Vieles in den Lehrplänen ist auch nicht im Alltag anwendbar. Es muss ein Gedicht interpretiert werden, aber Gesetzestexte werden nicht verstanden oder es kann auch keiner eine Steuererklärung ausfüllen. Laut Statistik kann fast jeder vierte Schüler aus der Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen. Das ist ein Armutszeugnis.

Antje Roland: Bis zu einem gewissen Alter sollte Allgemeinwissen vermittelt werden, um dann den Jugendlichen zu einem Zeitpunkt, zu dem sie wirklich damit umgehen können, die Entscheidung zu lassen, in welche Richtung sie sich spezialisieren möchten. Aber heute sollen schon 14-Jährige wissen, was sie einmal werden wollen.

»Ein wichtiger Punkt im Bildungsauftrag ist auch, dass Lernen Spaß machen soll. Ich finde, das geht immer mehr verloren, es wird immer mehr Druck aufgebaut.« – Doris Steindl

Worauf müssen wir unser Wissen und unsere Fähigkeiten ausrichten, damit wir „wettbewerbsfähig“ bleiben?

Nina von Gayl: Derzeit heißt es: »Du gehst aufs Gymnasium und hast eine gute Zukunft. Du gehst leider nur auf die NMS, schauen wir, ob aus dir etwas wird«. Diese Teilung vernichtet wahnsinnig viel Potenzial. Warum lässt man die SchülerInnen nicht bis zum Ende der Schulpflicht zusammen? Warum entwickeln wir nicht ein System, in dem wir eine neunjährige Gemeinschaftsschule haben, und wer danach weitermachen will, macht weiter. Dann hätten wir diese Stigmatisierung nicht.

Victoria Devecsai: Es ist richtig, dass schon oft bei den Eltern das richtige Bewusstsein fehlt, denn Bildung wird weitervererbt, vor allem in Österreich. Genau diese Kinder müsste man auffangen, aber da kommt kein Impuls.

Doris Steindl: Ein wichtiger Punkt im Bildungsauftrag ist auch, dass Lernen Spaß machen soll. Ich finde, das geht immer mehr verloren, es wird immer mehr Druck aufgebaut. Es gibt schon im Kindergarten Übungsblätter, die ausgefüllt werden müssen. Das ist total schade, weil jeder ein Leben lang lernen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Mit diesem System wird die Freude daran zerstört. Es braucht MitarbeiterInnen, die sich weiterbilden und weiterentwickeln wollen, aber man muss sie erst dahin bringen.

Ich möchte hier auch die Finanzbildung ins Spiel bringen. Wie wichtig ist dieses Wissen?

Nina von Gayl: Finanzbildung gehört zu den essenziellen Dingen wie Lesen, Schreiben und die Grundrechnungsarten. Die muss jeder beherrschen. Wenn ich meine Finanzen nicht im Griff habe und nicht weiß, wofür ich wieviel bezahle, fehlt mir eine Grundlage, und ich habe keine Chance auf soziale Teilhabe.

Victoria Devecsai: Man muss auch lernen und begreifen, was es heißt, Kreditraten zurückzubezahlen. Dass hier Zinsen anfallen und man mehr zurückzahlt als den ursprünglichen Kaufpreis. Es gibt auch kein Handy um null Euro. Dieses Verständnis brauche ich für den Alltag – aber es fehlt.

Nina von Gayl: Wir machen den Schulen das Ange- bot: Kommt zu uns, und in zwei Stunden versteht ihr wirtschaftliche Zusammenhänge und warum man ein Budget planen muss. Und ihr habt auch noch Spaß dabei. Mehr kann man im Moment nicht machen. Wir haben auch gesehen, dass die Anmeldungszahlen für unser Online-Angebot plötzlich extrem nach oben gegangen sind. Und so sehr ich meinen Job liebe, dürfte es ihn eigentlich gar nicht geben. Der Staat verlässt sich hier aber sehr stark auf Private.

Antje Roland

Ist das Schlagwort »lebenslanges Lernen« schon im Bewusstsein der Leute angekommen?

Antje Roland: Lebenslanges Lernen ist eine Bereicherung! Im Grunde ist der Gedanke super, wenn ein Unternehmen damit beginnt, Mitarbeiter zu fördern, aber auch zu fordern. Es muss eine Win-win-Situation entstehen. Die Leute verbessern sich, weil sie sich mehr Wissen aneignen, und die Unternehmen haben dadurch qualitativ besser ausgebildete Mitarbeiter. Ich glaube es wäre überhaupt nicht schwer, dieses Thema von staatlicher Seite zu stützen, wenn man so etwas wie Bildungsschecks erfinden würde.

Victoria Devecsai: Oft sieht man bei Jobausschreibungen, dass erst ab einer gewissen Hierarchiestufe Weiterbildungen angeboten und diese Programme bezahlt werden. Dabei sind es die jungen Menschen, die sich weiterentwickeln sollten. Hier muss man schauen, dass die Schere im Ausbildungslevel nicht zu weit auseinandergeht. In unserer Innovation School, so nennen wir unser Institut, schauen wir schon bei der Konzeption der Lerninhalte die Jobausschreibungen an: Was wird benötigt, welchen Trend kann man erkennen – bei den Tools und bei den Skills? Wir können dann schnell reagieren und das in unseren Lehrplan aufnehmen. Diese Flexibilität fehlt im öffentlichen Schulsystem. Wenn es fünf Jahre dauert, bis ein neues Schulbuch gedruckt wird, dann ist das zu lange. Wenn es digital wäre, könnte man es ganz anders und innovativer gestalten.

Doris Steindl

Doris Steindl: Wir leben in einer VUCA-Welt (Anm. VUCA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität), die durch die digitale Transformation schnelllebiger und komplexer wird. Neue Lernmethoden, Tools, Technologien entstehen und entwickeln sich laufend weiter. Das richtige Mindset und ein kontinuierlicher Wissensaustausch und -transfer helfen, diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Weiterbildung sollte aber in jedem Fall Spaß machen und kein aufgezwungenes Pflichtprogramm sein. Die Mission unserer hauseigenen Zühlke Academy ist es, Wissen aus der Praxis für die Praxis bereit zu stellen. Unser Konzept steht für die eigenen MitarbeiterInnen genauso wie für interessierte Externe zur Verfügung und wird auch auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten. Vom IoT-Starter oder Mixed Reality Workshop über Scrum-Kurse bis hin zu Design Thinking Workshop werden Know-how und Soft-Skills trainiert und zertifiziert. Unsere TrainerInnen sind ausgebildete ReferentInnen, die hauptberuflich als ProjektleiterInnen, Software-ArchitektInnen, Coaches oder Technologie-ExpertInnen arbeiten. Wissen mit Praxisbezug ist insofern wichtig, da der Wissenserwerb erleichtert werden sollte. Für Erfolg in der digitalen Transformation, muss verstärkt in die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern investiert werden, denn diese müssen die Veränderung verstehen und mittragen.

Wäre jetzt nicht der ideale Zeitpunkt für die Politik, aktiv zu werden?

Victoria Devecsai: Ein System aufzubrechen, dauert lange. Auch, wenn ich jetzt etwas ändern würde, sehe ich die Effekte erst eine Generation später.

Nina von Gayl: Hoffen wir, dass die Chancen, die sich durch die Krise aufgetan haben, nicht leichtfertig vergeben werden. Jetzt wäre für eine Offensive in der Bildungsdigitalisierung der richtige Zeitpunkt. Wir haben gesehen, was funktioniert und was nicht. Der Weg ist vorgezeichnet, man müsste ihn nur gehen, aber das kostet Geld, und es kostet Mut.

Fotos © Maximilian Lottmann