StartBalanceHealthBelastete Psyche, kippende Produktivität

Belastete Psyche, kippende Produktivität

Um die mentale Gesundheit deutscher und österreichischer Arbeitnehmer*innen steht es nicht gut. Unternehmen investieren zu wenig in Prävention und Verbesserung und übersehen dabei: Nicht nur die Krankenkassen bezahlen dafür – sondern in erster Linie sie selbst. Ein Einblick in neueste Studien und die Silberstreifen am Horizont.

Ich konnte nicht mehr schlafen. Wenn doch, habe ich von der Arbeit geträumt; und an die Arbeit gedacht, sobald ich wach war. Ich hatte Herzrasen und war gefühlt ständig an der Grenze zum Überkochen. Eine E-Mail reichte, um mich aus der Bahn zu werfen.“ Was die heute 36-jährige Digitalmanagerin Christina L. erzählt, kennen viele Arbeitnehmer*innen aus eigener Erfahrung. Wird die psychische Belastung am Arbeitsplatz zu hoch, leidet auch die körperliche Gesundheit. Deutsche Krankenkassen zeigen Höchststände bei psychisch bedingten Fehlzeiten auf. Diese stiegen innerhalb von nur zehn Jahren um 48 Prozent. Auch Österreich kämpft mit immer mehr Ausfällen aufgrund psychischer Fehlbeanspruchung im Job. Zwischen 1994 und 2022 verdreifachten sich die psychisch bedingten Krankenstandstage. Und das kostet Geld. Viel Geld. Psychische Erkrankungen verursachten der Bundesrepublik Deutschland 2022 Verluste von über 30 Milliarden Euro an Bruttowertschöpfung und erreichten nach Erkrankungen des Atmungs- und des Muskel-Skelett-Systems den dritthöchsten Wert aller krankheitsbedingten Produktionsausfallkosten. 

Zahlen lügen nicht

Das Arbeitnehmerschutzgesetz sieht seit 2013 in Deutschland und Österreich verpflichtende Erhebungen der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz vor. Zwischen 20 und 40 Prozent, so gering sei der Anteil deutscher Unternehmen, die diese Erhebungen auch durchführen, sagt Benedikt Graf, Arbeits- und Organisationspsychologe in einer Vertretungsprofessur an der Universität Göttingen. Johanna Baumgardt sieht das ähnlich. Sie ist Forschungsbereichsleiterin des Wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskasse (WIdO) und erhebt jene Zahlen, die jährlich im Fehlzeitenreport den Arbeitspsycholog*innen die Haare zu Berge stehen lassen. „Bei Arbeitgebern ist das Bewusstsein um die Wichtigkeit des Themas noch nicht angekommen“, sagt sie. Rund 15 Prozent aller Krankenstandstage in Deutschland entfielen auf psychische Erkrankungen, und das, obwohl offiziell nur 5,9 Prozent aller Krankmeldungen der Psyche zugeschrieben werden. Denn diese führen zu enorm langen Ausfallzeiten. Sind die Deutschen im Durchschnitt 15 Tage im Jahr krankgeschrieben, klettert die Zahl der Fehlzeiten bei Menschen mit psychischen Erkrankungen auf 37 Tage im Jahr. Für Arbeitspsychologe Graf kein Wunder: „Psychische Erkrankungen sind gekommen, um zu bleiben.“ Wer einmal wegen andauernder psychischer Fehlbelastung am Arbeitsplatz eine psychische Erkrankung entwickelt hat, fällt in der Statistik auch in Zukunft öfter aus. Dabei sind Fehlzeiten nur die Spitze des Eisbergs, rechnet Graf vor: 9,2 Millionen Euro. Das ist der konservativ hochgerechnete Verlust eines Unternehmens mit 3.000 Beschäftigten, wenn Fehlzeiten und verlorene Produktivität aufgrund von psychischen Fehlbelastungen wie Störungen und Konflikten am Arbeitsplatz entstehen. 

Angebot und Nachfrage

Fragebögen oder Arbeitsanalysen vor Ort ermöglichen die Erhebung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz. Die Ableitung von Maßnahmen bleibt dabei häufig auf der Strecke. Studienergebnisse weisen auf ein Stagnieren der Angebote zur betrieblichen Gesundheitsförderung hin. Dabei hielte der Markt einiges parat: Wie das Schulungsprogramm „Mental Health First Aid“. In Australien entwickelt, vermittelt es Menschen die Fähigkeiten, anderen in psychischen Krisensituationen Erste Hilfe zu leisten. Auch sogenannte Employee Assistance Programs (EAPs), in denen Unternehmen externe Expert*innen hinzuziehen, um Angestellte zu entlasten, stellen Unterstützungsoptionen dar. Das hätte sich auch Christina L. gewünscht, als sie wegen Überlastungserscheinungen wochenlang krankgeschrieben war und schlussendlich kündigte: „Eine externe Anlaufstelle wäre definitiv hilfreich gewesen. Zum Beispiel in der Form einer Sprechstunde mit einer Arbeitspsychologin.“

Wie Zahlen der AOK belegen, werden Angebote zur betrieblichen Gesundheitsvorsorge nicht immer angenommen. Sozialwissenschaftlerin Baumgardt rät Unternehmen zu regelmäßigen, passgenauen Angeboten, statt auf punktuellen Aktionismus zu setzen: „Finden Trainings und Coachings nur einmal statt, werden nie alle Betroffenen den Termin wahrnehmen können.“ Baumgardt verweist außerdem auf die Vorbildwirkung und Verantwortung von Führungskräften, Mitarbeiter*innen freizuspielen: „Müssen Mitarbeitende das auch noch ‚on top‘ zur ohnehin hohen Arbeitslast stemmen, werden viele das nicht schaffen.“

Der steinige Weg

Veränderungen in Unternehmen zielen größtenteils auf die Arbeitnehmer*innen ab, nicht auf die Arbeitgeber. Das ärgert Arbeitspsychologen Graf: „Die Geschwindigkeit und der Druck bei der Arbeit steigen kontinuierlich an, und ein Anti-Stresstraining für Mitarbeitende soll dann all diese Fehlbelastungen auflösen.“ Dieser Ansatz führe aber zu Ärger und Frust bei den Mitarbeitenden, da die ursächlichen Probleme und Prozesse sich nicht ändern. Dazu habe sich der Mensch seit rund 300.000 Jahren kaum verändert, so Graf, die Rahmenbedingungen der Arbeit und die Technologie von heute seien mit jenen von vor 30 Jahren aber nicht ansatzweise vergleichbar. Dass Anpassung 2024 zu einem Großteil von den Angestellten verlangt wird, ohne am starren Gerüst des Arbeitsplatzes zu rütteln, sieht er nicht mehr als zeitgemäß.

Melanie Müller will diese Diskrepanz verringern. Als Spezialistin für Unternehmensentwicklung und -kultur bei TGW, einem österreichischen Intralogistik-Unternehmen, arbeitet sie auch an der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Bevor die mentale Gesundheit in einem Unternehmen zum Thema werden kann, müssen sich zuerst das Mindset der Führung und die Kultur ändern, erklärt sie: „Wir haben lange in einer Hustle-Gesellschaft gelebt, in der es als erstrebenswert galt, zu den Letzten zu zählen, die abends das Gebäude verlassen. Für eine gesündere Arbeitskultur sind aktives Umdenken und eine Neubewertung notwendig. Dann müssen die Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen.“ Und das stößt auf Gegenwind – denn es erfordert Zeit und Energie im Arbeitsalltag. Dabei kennt und nennt auch Müller die Zahlen, wonach Mitarbeiterbindung günstiger kommt als ständiges Recruiting und Einschulen, wenn einer Firma die Leute davonlaufen. Trotzdem gelten Arbeit an einer positiven Kultur und Workshops für mehr Achtsamkeit und bewussten Umgang miteinander immer noch als Bonus. Ist das Wirtschaftsumfeld schwierig, fallen Persönlichkeitsentwicklung und kulturfördernde Maßnahmen als erstes dem Rotstift zum Opfer. Obwohl es gerade dann guten Zusammenhalt, ein starkes Team und Commitment zum Unternehmen brauche, damit Menschen bleiben, so Müller. Das Bedürfnis nach Wertschätzung und sinnstiftender Arbeit ist schließlich nicht der Konjunktur unterworfen. Wer diese Bedürfnisse erfüllen will, muss auch für psychologische Sicherheit sorgen, denn sie ermöglicht Austausch auf Augenhöhe und nimmt die Angst vor Verurteilungen. Damit sei sie nicht zuletzt im Bereich der Innovationen „ein Produktivitätsboost“, sagt Müller. „Ja, es kostet Geld, Führungskräfte zu schulen und die Kultur umzubauen. Und ja, es dauert Monate, wenn nicht Jahre. Aber unterm Strich ist es ein Investment, das sich mehrfach lohnt, wenn Produktivität, Zufriedenheit und Zugehörigkeitsgefühl steigen – und dadurch auch die Mitarbeiterbindung.“ Ein Commitment, das Sitzfleisch braucht. Und Empowerment von ganz oben.

Best Practice

Beim deutschen Fensterprofilhersteller VEKA steht das Thema mentale Gesundheit mittlerweile auf der Agenda des Top-Managements. Das Unternehmen schult seine Führungskräfte und nimmt die psychische Gesundheit der Belegschaft unter die Lupe. In Coachings tragen Mitarbeitende überdimensionale Helme oder „Beuger“, die das Schweregefühl einer Depression nachempfinden lassen. Entwickelt hat sie die Berliner Beratungsagentur Shitshow, die mehr Bewusstsein für psychische Probleme im Arbeitskontext schaffen will. Die Mitarbeitenden von Shitshow haben selbst Erfahrung mit psychischen Erkrankungen gemacht. Bei VEKA finden Trainings und Aufklärungsarbeit heute an allen Standorten statt. Denn es steht viel auf dem Spiel: 1,6 Milliarden Euro Umsatz macht das Unternehmen im Jahr. An 46 Standorten arbeiten beinahe 7.000 Mitarbeiter*innen. In einem wirtschaftlichen Umfeld, das von hoher Wechselbereitschaft der Belegschaft geprägt ist, gilt es, jeden Mann und jede Frau zu halten.

Die Zahlen sprechen für sich: Fast jede*r Fünfte erkrankt im Laufe des Lebens mindestens einmal an einer Depression. Für VEKA bedeutet das den potenziellen Ausfall von 300 der 1.500 Beschäftigten alleine am Firmensitz in Sendenhorst. Um für betroffene Angestellte jederzeit Akuthilfe zu bekommen, unterstützt VEKA die Krisenhilfe Münster finanziell. Mit dem Leitspruch „Ask twice“ wollen Personalvorständin Elke Hartleif und ihr Team psychische Probleme im Arbeitsumfeld von ihrem Stigma befreien. Darüber zu sprechen, soll Normalität werden: „Depression ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche. Wir wollen nicht, dass sich Betroffene verstecken müssen, sondern ihnen den Rücken stärken“, sagt Hartleif. Bleibt zu hoffen, dass ihrem Beispiel viele andere Unternehmer*innen folgen.

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