Europa droht politisch, wirtschaftlich und technologisch ins Hintertreffen zu geraten. Kann das European Forum Alpbach ein „Wake-up Call“ sein – und wenn ja, wie konkret?
Marie Ringler: Natürlich ist es der Kernauftrag des European Forum Alpbach, Menschen zusammenzubringen in einem Rahmen, der es ermöglicht, auch außerhalb des Day-to-Day, des Alltagsgeschäfts, Europa neu zu denken. Eine Sache, die mir dabei schon sehr auffällt, ist, dass wir als Europäer Weltmeister:innen darin sind, uns schlecht zu reden.
Gleichzeitig ist völlig klar, dass wir uns in einer ganz außergewöhnlichen weltpolitischen Lage und Situation befinden, weil wir mit multiplen Krisen zu tun haben: die ganz existenzielle Krise der Klimakatastrophe dürfen wir ebenso wenig aus dem Blick verlieren wie die zunehmende Zurückdrängung demokratischer Strukturen; gleichzeitig haben wir erstmals seit Jahrzehnten Krieg auf dem europäischen Kontinent. Die große Herausforderung besteht darin, dass wir nicht mehr nur das eine, sondern all diese Dinge gleichzeitig im Auge haben und dabei besonders klug vorgehen müssen. Wir müssen uns dieser Komplexität stellen.
Die Tracks Economy, Climate, Security und Democracy bilden das inhaltliche Rückgrat des Forums. Welche Themen sind heute dringlicher als noch vor wenigen Jahren – und was ist heuer das brisanteste?
Wir versuchen immer diese vier Elemente miteinander zu denken. Und natürlich wissen wir, dass diese Themen keine Relevanz haben, wenn es uns nicht gelingt, die Klimakatastrophe aufzuhalten.
Welche Rolle kann da ein Think-Tank wie das EFA überhaupt noch spielen? Geht es eher um Dialog, um konkrete Projekte – oder beides?
Dazu fallen mir gleich zwei Projekte ein, die ich sehr symbolhaft finde. Das eine ist aus unserem FANC-Network entstanden. Dabei handelt es sich um mehr als 500 Stipendiat:innen aus aller Welt, die jedes Jahr das Forum besuchen. Es gibt keine zweite Konferenz, die so einen starken Schwerpunkt auf intergenerationellen Austausch legt. Aus diesem Netz heraus ist 2024, im Rahmen der Wahlen für das Europäische Parlament, eine App entstanden, die junge Menschen in ganz Europa mobilisiert hat, wählen zu gehen – Palumba.
Und dann haben wir vor mittlerweile vier Jahren die „Labs“ eingeführt, in denen unter anderem die Initiative „10×100“ entstanden ist: Hier werden unterschiedliche Akteure im Klimabereich zusammengebracht mit dem Ziel ganz konkrete Lösungen auszuarbeiten. So sind bereits Partnerschaften mit Mannheim oder Linz entstanden.
Nach dem Abgang von EFA-Präsident Andreas Treichl: Was ist von der neuen Führungsmannschaft unter Otmar Karas zu erwarten – wird sich das Forum spürbar verändern?
Natürlich verändert sich immer mit den Präsidenten – und hoffentlich auch bald mal einer Präsidentin – das Forum. Aber Otmar Karas, der neue Präsident, ist ein großer Fan des Konzepts der letzten Jahre, deshalb werden wir es konsequent weiterentwickeln. Mit seiner Vergangenheit als EU-Abgeordneter kann er viel beitragen in Richtung Internationalität, deshalb haben wird dieses Jahr besonders viele europäische Kommissare auf den Podien.
Die Zuspitzung auf noch mehr Wirksamkeit gelingt uns auch sehr gut mit der Initiative „EFA 365“, die zum Ziel hat, während des ganzen Jahres über eine Plattform für Diskussionen zu Europa zu bieten. Gerade im letzten Jahr hatten wir auch verstärkt Veranstaltungen in Wien, Brüssel, Den Haag und Berlin – immer mit dem Ziel, die Debatte, die in Alpbach stattfindet, auch in andere Communities hineinzutragen.
Mit „World of Women“ haben Sie 2023 ein neues Netzwerkprogramm gestartet. Was hat es bisher bewirkt, und wo sehen Sie die größten Erfolge?
Diese Initiative, die von mehreren Frauen im Vorstand gemeinsam gestartet wurde, ist mir ein ganz großes Anliegen. Unser Ziel war nicht nur, Genderparität auf den Panels herzustellen, sondern auch innerhalb des EFA, Frauen auf neue Weise zu vernetzen. Netzwerken ist ja eigentlich etwas, was sehr klassisch männerdominiert ist. Daher war es für uns besonders wichtig, diese Frauen-Stammtische zu machen, zu denen alle Teilnehmerinnen während der Europa-Tage jeden Mittag herzlichst eingeladen sind. Im vergangenen Jahr kamen zum ersten Stammtisch sechs Frauen; am Ende der Woche waren es 50. Das zeigt den Bedarf für diesen Austausch.
Alpbach gelingt, was viele andere nicht schaffen: eine ausgeglichene Gender-Balance auf Panels. Was machen Sie anders – und warum sagen Ihnen weniger Frauen ab als dies bei TV-Redaktionen oder anderen Konferenzveranstaltern der Fall ist?
An dieser Stelle konkrete die Zahlen: 2024 waren 51 Prozent der Mitwirkenden und Sprecher:innen weiblich sowie 43 Prozent der Teilnehmer:innen. Darüber hinaus sind 55 Prozent der Stipendiat:innen weiblich. Das war über Jahrzehnte hindurch bei weitem nicht so der Fall; da können wir schon richtig stolz drauf sein. Natürlich gibt es immer noch mehr zu machen. Aber ich finde wir laden die Männer sehr charmant dazu ein, etwas von ihrer Macht zu teilen.
Das Forum ist inzwischen weit mehr als eine jährliche Konferenz. Wohin soll sich Alpbach in den kommenden Jahren entwickeln – stärker Richtung globales Netzwerk, oder eher als Labor für konkrete europäische Lösungen?
Das ist kein Entweder-oder – wir wollen gern beides. In den Labs geht es immer um praxisnahen Ideen, ganz konkreten Initiativen. Gleichzeitig ist das Forum in den letzten Jahrzehnten, also schon bevor ich im Vorstand war, immer mehr zu so einem globalen Netzwerk geworden. Ein europäisches Netzwerk mit globaler Dimension. Deshalb gehört zu den Fragestellungen für die Zukunft: Wie können wir das noch intensivieren? Welche technologischen Wege gibt es, um das EFA noch stärker zu einem selbstorganisierten Netzwerk zu machen?
Gerade bei den jungen Menschen ist das Schöne der Tatendrang: Das FANC-Netzwerk macht mindestens 60 Veranstaltungen im Jahr, in Slowenien einen Fireside Chat oder in Belgrad eine Veranstaltung… Das finde ich besonders toll. Vielleicht ist das auch noch: Das European Forum Alpbach ist per se eine Aufforderung an uns alle ist, einen Beitrag zu leisten – everyone is a changemaker. Das ist der Kern des Forums und unsere Erwartung: Alle, die hier teilnehmen, sind dazu aufgefordert, etwas beizutragen.
Das ausführliche Gespräch mit Marie Ringler war Cover Story unseres Print-Magazins 02/2023.