Die aktuelle Kampagne von #WeAreAllUkrainians widmet sich der psychologischen Unterstützung von Kindern im Krieg. Kern ist ein KI-gestützter Chatbot, der spielerisch hilft, Angst und Panik zu lindern. Ziel ist, ihn mittelfristig auch für andere Krisensituationen verfügbar zu machen. Begleitet wird die Kampagne von KI-generierten Bildern – bewusst ohne reale Kinder zu zeigen. Denn das Leid dürfe nicht instrumentalisiert werden, sagt Initiatorin Tatjana Kiel im Interview.
Du engagierst dich seit Beginn des Angriffs-Krieges mit #WeAreAllUkrainians. Hast du das Gefühl, die Aufmerksamkeit für das Thema schwindet?
Ja, die Aufmerksamkeit nimmt ab – und gleichzeitig wird das Leid größer. Viele Menschen können es einfach nicht mehr ertragen, was verständlich ist. Aber es entsteht in den aktuellen Krisen auch ein „Wettkampf um Leid“: Wer zeigt die schlimmsten Bilder, wer bekommt mehr Klicks? Wir machen da mit #WeAreAllUkrainians bewusst nicht mit. Wir erzählen reale Geschichten, lassen Ukrainer*innen selbst sprechen, ohne sie bloßzustellen. Wir wollen Handeln auslösen, nicht Betroffenheit.
Eure jüngste Kampagne trägt den Titel „Kindheit endet, wenn Krieg beginnt“. Ihr habt einen KI-basierten Chatbot für Kinder entwickelt, als Ansprechpartner in der Not. Warum dieser Weg?
Krieg nimmt Kindern ihre Unbeschwertheit, ihre Kindheit. Und die Erlebnisse fressen sich in den Kopf der Kinder. Die schlimmen Erfahrungen bleiben nicht nur in der Erinnerung, sie hinterlassen nachweislich Spuren im Gehirn und Körper. Kinder, die über lange Zeit stressvollen Situationen oder extremen Erlebnissen ausgesetzt sind, besonders Kinder, die in Kriegsgebieten aufwachsen, altern dadurch schneller. Das belegen Studien der Charité. Deshalb müssen wir helfen, den permanenten Alarm im Kopf zu durchbrechen. Psychologische Hilfe ist teuer und oft gar nicht verfügbar. Also haben wir uns gefragt: Wie können wir möglichst viele Kinder in akuter Angstlage erreichen? Der Chatbot spricht mit ihnen, spielt mit ihnen, bietet kleine Übungen, um sie aus der Paniksituation zu befreien, bis sie sich Hilfe holen können. Zum Beispiel nutzt der Chatbot spielerische Aufgaben, ähnlich wie Tetris, die nachweislich helfen, traumatische Erinnerungen zu unterbrechen.
Wie entscheidest du, was gerade „dran“ ist?
Ich mache nichts, was aus Druck entsteht. Ich handle nur, wenn ich weiß, dass meine Lösung wirklich hilft. Wir hatten zum Beispiel eine Situation, in der in der Ukraine Fensterscheiben zerbrochen waren – und wir dazu gedrängt wurden, Glas zu schicken. Aber Glas ist schwer, teuer, bricht auf dem Weg. Wir haben stattdessen länger überlegt, wie die bessere Lösung aussehen könnte und Kunststoffplatten gefunden, die sich rollen und zuschneiden lassen. Das ist der Impact, den ich erreichen möchte.
Ihr arbeitet mit vielen Firmen zusammen. Wie hat sich das Engagement der Unternehmen verändert?
Die Spendenbereitschaft war in den ersten Monaten unglaublich, aber das ist kein Dauerzustand. Heute entwickeln wir thematische Kampagnen, um Aufmerksamkeit und Spendengelder zu mobilisieren. Das funktioniert glücklicherweise immer noch gut, vor allem weil wir ganz spezifische Hilfsprojekte dahintersetzen, so dass die Unternehmen erkennen und nachvollziehen können, was sie im Detail mit ihrer Spende bewirken.
Was können deutsche Unternehmen am Beispiel der Ukraine lernen?
In der Ukraine wird einfach gemacht. Wenn etwas fehlt, wird improvisiert, entwickelt, ausprobiert. Diese Mentalität der Selbstermächtigung ist unglaublich inspirierend. Wir in Deutschland zögern oft, suchen nach der perfekten Lösung, nach Genehmigungen, nach Rettern. Aber Retter sind gefährlich, denn sie nehmen uns die Eigenverantwortung.
Ihr beschäftigt euch auch mit der Wirtschaft bei eurem weiteren gemeinnützigen Unternehmen score4impact?
Wir unterstützen mit score4impact Firmen, die Engagement als Teil der Unternehmensstrategie sehen, so wie es bei vielen Familienunternehmen der Fall ist. Dabei agieren wir nicht wie eine klassische NGO, sondern schauen, wo ein konkreter Mehrwert für ein Unternehmen liegen könnte. Wir helfen ihnen, Projekte zu finden, die zu ihnen passen. Dann geht es nicht mehr um Spenden, sondern um Kooperation. Wenn ein Projekt den Werten des Unternehmens entspricht, entsteht eine echte Win-win-Situation und nicht nur PR-Washing.
Du arbeitest seit Jahren im Ausnahmezustand. Wie hältst du das durch?
Ich plane meinen Tag nach Energie, nicht nach Uhrzeit. Keine großen Meetings vor 11 oder nach 16 Uhr – so bleibe ich konzentriert. Ich habe gelernt, wie mein Körper auf Stress reagiert. Ich weiß, wann ich aufdrehe und wann ich runterfahren muss. Ich nehme aber auch psychologische Unterstützung in Anspruch, seit der Krieg begann. Denn natürlich sehe ich regelmäßig Bilder oder höre Geschichten, die mich völlig zerreißen. Dann müsste ich eigentlich heulend im Bad sitzen. Aber wenn ich mich selbst verliere, kann ich niemandem helfen. Also ziehe ich klare Grenzen und erinnere mich daran, dass ich nicht die ganze Welt retten kann. Vor allem habe ich mir selbst erlaubt, Freude zu erleben.
Nochmal zurück zu #WeAreAllUkrainians. Ihr nutzt eure Reichweite, um Geschichten von Ukrainer*innen zu teilen. Dein LinkedIn-Post über die Notfalltasche einer Mutter beispielsweise hat viele Menschen emotional getroffen. Was war Dein Impuls?
Mich hat in den Reaktionen ehrlich gesagt irritiert, wie stark Menschen das Leid noch immer externalisieren. „Das betrifft ja die Ukraine“ – diesen Satz höre ich ständig. Dabei zeigt die Notfalltasche symbolisch: Wir können Erfahrungen aus Krisen nutzen, um selbst resilienter zu werden. Ich habe mir überlegt, was ich einpacken würde – und gemerkt, dass dieses Nachdenken selbst schon ein Schritt ist. Es geht nicht um Panik, sondern um Bewusstsein. Wir müssen lernen, uns vorzubereiten, ohne erst selbst betroffen zu sein.
Über Tatjana Kiel:
Tatjana Kiel ist Unternehmerin und Transformationsstrategin und arbeitet seit vielen Jahren eng mit Wladimir Klitschko zusammen. Als CEO von Klitschko Ventures entwickelt sie Projekte an der Schnittstelle von Leadership, Wirtschaft und gesellschaftlicher Wirkung. Gemeinsam gründeten sie außerdem die #WeAreAllUkrainians gGmbH, die seit 2022 humanitäre Unterstützung, Wiederaufbau- und Bildungsinitiativen für die Ukraine koordiniert. Neben diesen beiden Organisationen ist sie in unterschiedlichen Transformations- und Leadership-Programmen für Unternehmen aktiv, bei denen der Fokus auf Handlungskompetenz, Resilienz und wirksamer Zusammenarbeit liegt. Kiel verbindet strategisches Denken mit konkreter Umsetzung und verfolgt das Ziel, wirtschaftliche Stärke und gesellschaftliche Verantwortung miteinander zu verbinden.