Die allermeisten Städte haben Männer geplant, weltweit. Und das ist spürbar. Feministische oder gendergerechte Stadtplanung setzt dort an, wo Planer ihr Zeichen-Werkzeug weglegen. Das Ziel: ein guter Blick auf die Diversität und eine lebenswerte Umgebung für alle Beteiligten. Viel zu lange sind die Bedürfnisse von Frauen vernachlässigt und nicht in den Bau moderner Städte oder Viertel mit einbezogen worden. Sicherheit ist ein zentrales Thema. Angsträume, dunkle Ecken also, können durch kluges Planen vermieden werden. Doch der Reihe nach.
„Bei vielen europäischen Städten haben wir es mit Orten zu tun, die im 20. Jahrhundert erbaut wurden. Männliche Perspektiven und Planer haben sich tief hineingeprägt, Männer waren die Entscheider bei nahezu allen Fragen.“ Das sagt Sabina Riss von der Technischen Universität (TU) Wien. Die Architektin, Architekturwissenschaftlerin und Universitätslehrende hat sich in ihrer Forschung mit Gender- und Frauenfragen auseinandergesetzt – und sie hat sechs Jahre lang mit ihrem Mann in London gelebt und gearbeitet. Zwischen den 1990ern bis zum Millennium hat Riss auch mitverfolgt, wie sich Canary Wharf entwickelte.
Großbritanniens Premierministerin Margareth Thatcher und ihre Regierung haben in den 1980er-Jahren begonnen, das Bankenviertel aus dem Zentrum Londons in die Docklands im Osten der Metropole zu verlagern. Abgeschlossen ist das Projekt nicht. Gebaut wird bis heute, Kräne und Baulärm gehören zum Alltag. Doch der Financial District wird mehr und mehr zu einem Lebensraum, den die Pendlerinnen und Pendler nach Büroschluss nicht mehr verlassen, sondern in dem sie Unterhaltung suchen, Kulinarik, Kultur – und Räume zum Wohnen. Diese neuen Bedürfnisse bekommen Tag für Tag mehr Platz.
Riss, die die Entwicklungen heute von Wien aus online verfolgt, gibt mit Blick auf die Neuplanung des Finanzdistrikts mit all seinen Banken und Headquarters internationaler Unternehmen zu bedenken: „Frauen haben ganz klar andere Alltage als Männer. Dieses Wissen muss in eine moderne Stadtplanung einfließen.“
Manhattan, Dubai – oder doch London?
Spaziert man durch das Londoner Viertel in einer Schlinge der Themse, so geht man gefühlt durch Manhattan oder Dubai. Schier endlos hohe Wolkenkratzer aus Stahl und Beton ragen in den Himmel. Architektonisch hat die Moderne alles kühn im Griff, nur hie und da wächst ein Baum in einem dafür vorgesehenen Areal. In der Mitte des schillernden Stadtteils 20 Metro-Minuten von der London Bridge entfernt befindet sich eine Freizeit-Oase mit viel Grün. Die Menschen in Canary Wharf sind selten älter als 50 Jahre. Somit sind sie im besten Alter, um an ihrer Karriere zu feilen.
Royales, altehrwürdiges Flair? Fehlanzeige. Geschäftsreisende aus nah und fern prägen das Straßenbild; sie steigen im „Tribe“ ab, dem ersten und hippen Hotel in der Umgebung. Der Bedarf, überhaupt Menschen außerhalb der Geschäftszeiten hier unterzubringen, steigt erst seit Kurzem. Bis 2020 pendelten rund 120.000 Menschen tagtäglich in den Osten der City, um zu arbeiten. Wohnraum gibt es erst seit ein paar Monaten. Kinder, ältere Menschen, gar Seniorinnen oder Senioren sowie Hunde sind nicht zu sehen.
Frauen haben ganz klar andere Alltage als Männer. Dieses Wissen muss in eine moderne Stadtplanung einfließen. Architekturwissenchaftlerin Sabina Riss
Frauen, Männer, unterschiedliche Wege
Zurück zu den unterschiedlichen Alltagen, mit denen Frauen und Männer konfrontiert sind. Sabina Riss erinnert: „Ob in Wien, New York oder London, Stand 2023 sind durchwegs Frauen für die Care-Arbeit in der Gesellschaft zuständig, auch wenn sie eigene Jobs oder Karrieren haben. Ihre Wege sind also Multi-Stop-Wege. Das bedeutet, dass sie morgens Kinder in den Kindergarten bringen, dann zur Arbeit gehen und danach noch den Einkauf erledigen.“
Was das für eine gendergerechte Stadtplanung heißt? „Idealerweise müsste sie von Grund auf aus der Perspektive der diversen Bevölkerungsgruppen denken. Wie schnell sind sie bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, wie weit ist es zu Schulen, in Parks, zum Sport, ins Kino oder zum Essen? Das zu sehen ist keine große Wissenschaft“, sagt die Architekturwissenschaftlerin. Die Idee der „Stadt der kurzen Wege“, die aus der Zeit der Frauenbewegung kommt, sei zentral.
Ein weiterer wichtiger Aspekt vorausschauender Stadtplanung für alle sei jener der Bewegungsfreiheit. Einerseits spielt dabei die Barrierefreiheit eine Rolle, andererseits geht es um Sicherheitsfragen, wenn ein neuer Stadtteil auf dem Bildschirm entsteht. Eine ausreichende Straßenbeleuchtung in der Nacht und das Vermeiden dunkler Ecken ist ein Ansatzpunkt. Riss: „Stadtplanerisch ist es gar nicht so leicht, alles perfekt vorherzusehen. Auch, weil vieles von den Menschen und deren Verhalten selbst abhängt.“ Wo immer heute ein neuer Stadtteil entsteht, „ist das Diversitätsdenken inhärent“, sagt sie.
Was eine moderne Stadtplanung braucht
In puncto Barrierefreiheit, ob für Rollstühle oder Kinderwägen, haben die Stadtplaner für Canary Wharf ihre Hausaufgaben offensichtlich gemacht: Bei jeder Ampel und vor jedem Eingang sind die Gehsteigkanten abgesenkt, sodass ein Darüberrollen gut möglich ist. Die Gehsteige sind breit, der Verkehr überschaubar – was auch daran liegt, dass zwar alle Menschen per Jubilee- oder Elizabeth-Line nach Canary Wharf kommen können, unbefugte Autos aber am Schranken zu dem bewachten Viertel umdrehen müssen. Damit ist das Areal jedenfalls ein Projekt, das erste feministische Sichtweisen einbezogen hat.
Sabina Riss‘ Wunsch an eine divers handelnde Stadtplanung? „Wenn ein neues Viertel errichtet wird, gilt es, eine öffentliche Verantwortung wahrzunehmen. Die Planungspolitik sollte ein großes Bewusstsein dafür entwickeln, in allen Hierarchien Akteurinnen und Akteure zu beschäftigen, welche die vielen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen. Dazu sollten Entscheiderinnen und Entscheider stets das Wissen von Expertinnen in ihr Projekt holen.“ Eine feministische und auch gendergerechte Stadtplanung in der österreichischen Ausbildung als Pflichtfach zu verankern, ist ihr ein zentrales Anliegen.
In Canary Wharf stehen die Kräne und Baumaschinen nicht still. Insider berichten, dass bald auch ein Zentrum für die neu angesiedelten Bürgerinnen und Bürger entstehen soll. Auf dem weiteren Plan stehen Kindergärten, Schulen und in fernerer Zukunft vielleicht auch eine Einrichtung für ältere Menschen. Ob eine gendergerechte Stadtplanung weiterhin greift, bleibt zu beobachten.
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