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Sozialarbeit als neue Leistungseinheit?

Corona, Folgen des Ukraine-Kriegs und steigende Belastungen für die Bürger rücken politische Diskussionen rund um das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – zuletzt etwa beim deutschen Vizekanzler Robert Habeck – in den Vordergrund. Ökonomen, IT- und Sozialwissenschafter beschäftigen sich allerdings schon länger, also auch in Vor-Krisenzeiten, mit der Frage: Woran soll sich künftig der Wohlstand unserer Länder bemessen, wenn nicht mehr Menschen sondern Maschinen die Arbeit erledigen?

„Worauf würden Sie lieber verzichten“, fragt der US-Ökonom Robert J. Gordon, der sich mit dem Thema „Wachstum“ beschäftigt in seinem TED Talk – „auf ein funktionierendes Kanalisationssystem oder auf Ihr Smartphone?“ Um seiner Frage zusätzliche Brisanz zu verleihen, spielt er auf der Videowall zwei Sujets ein: das Bild einer Toilette und das eines Handys.

Man ist sich nicht ganz sicher, was den Menschen bald wichtiger sein wird – aber ihrem heutigen Verhalten nach, scheint die Antwort noch recht klar. Was der amerikanische Wirtschaftsprofessor auf zugespitzte Art vermitteln will: Wir erleben ein Abflauen der Innovationswelt, denn hinter so einem Klo steckt mehr Fortschritt als in einem Smartphone. Immerhin setzt es ein leistungsfähiges Kanalisationssystem voraus, mit dem vor etwa 120 Jahren, das Ende der großen Epidemien und die Ära des Trinkwassers eingeleitet wurde. So viel Glück brachte das Smartphone tatsächlich noch nicht über die Menschheit.

Trotzdem wirkt der Vergleich im ersten Moment irritierend, weil wir alle von einem Umfeld umgeben sind, aus dem uns tagtäglich tausendfach das Wort „Innovation“ entgegenspringt. Aus der fluoridfreien Zahnpasta, der veganen Gesichtscreme, der triple A-superstromsparenden Kaffeemaschine, der ökofreundlichen Unterwäsche, dem glutenfreien Brotladen, dem e-mobilen Carsharing-Spot, und-so-weiter. Aber laut Gordon hat das alles nichts mit echtem Fortschritt zu tun: Er meint sogar, dass es sehr (!) unwahrscheinlich sei, dass es in den nächsten Jahrzehnten zu Innovationen komme, die uns die gleichen Wohlstandsgewinne bescheren wie einst Dampfmaschine, Kanalisation oder Elektrizität.

Gordons Prognose: Ende des Wachstums

Seinen Pessimismus kleidet er in Zahlen: In den Jahren 1891 bis 1972 stieg die Arbeitsproduktivität in den USA um durchschnittlich 2,3 Prozent, danach ging das Wachstum auf 1,5 Prozent zurück. Gordons Berechnungen nach werde es weiterhin sinken. Er behauptet: Nicht nur, dass Computer, Smartphones und das Internet keine fundamental gewinnbringenden Erfindungen einläuteten, würden auch die demographische Entwicklung (Überalterung) und die wachsende Ungleichheit (Verteilungsproblem) in den USA dämpfend wirken. Daher ist er überzeugt: „Erfindungen, die das Leben aller Menschen vergleichbar stark verbessern, werden seltener“.

Das würde bedeuten, dass es auch mit dem BIP, also dem Gesamtwert aller Endprodukte, die eine Volkswirtschaft während eines Jahres herstellt, künftig nicht mehr so gut ausschaut. Denn dieses steigt nur, wenn jeder Mensch mehr Arbeitsstunden leistet oder die Gesellschaft produktiver wird. Nachdem wir aber seit Mitte der 1990-er Jahre weniger Zeit mit Arbeit verbringen als unsere Artgenossen im Jahr 1950, beruht das Wohlstandswachstum der jüngsten Jahrzehnte auf einer Steigerung der Produktivität. Diese wird wiederum angekurbelt durch technischen Fortschritt, den Einsatz moderner Gerätschaft und gut ausgebildeten Menschen. Wie also soll es nun weitergehen?

Einem Kultur-Optimisten wie Wolfgang Price, Ökonom und Wirtschaftsberater der US-Regierung in der Ära Jimmy Carter, fiel dazu gleich mehreres ein. In den letzten Jahren seines Lebens – er verstarb 2021 an den Folgen von Corona – betonte er wiederholt in seinen Publikationen: Um gut über die Runden zu kommen, sei ein breites, fundamentales Umdenken, eine Neuordnung der Werte, vonnöten. Price war überzeugt: Es werde immer genug Arbeit für Menschen geben, die Frage sei bloß, welche Tätigkeiten als solche bewertet werden und welche nicht.

Kulturoptimismus à la Wolfgang Price

In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin profil meinte er: „Menschliche Arbeit wird künftig darin bestehen, dass sie sich-selbst-erfüllende Bedürfnisse bedient. Die Aufgaben des Menschen entwickeln sich dahingehend, dass sie in erster Linie der Gesellschaft nützen.“

Neue Arbeitsformen würden entstehen, die nichts mit der Beschäftigungs- und Organisationsstruktur der industriellen Periode zu tun haben. Vereinfacht ausgedrückt: Die Zukunft der Arbeit liegt im gemeinsamen Wohlergehen, der gegenseitigen Pflege und der Achtsamkeit für Umwelt und Klima. Vieles davon fällt heute in die Kategorie der Ehrenamtlichkeit. Vermutlich werde es also zu einer Neubewertung bisher nicht entlohnter Tätigkeiten kommen.

Ähnlich sehen das die großen Technik-Befürworter. Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson, beide Technologie-Kapazunder an der amerikanischen Elite-Universität Massachusetts Institute of Technology (MIT), schrieben bereits 2013 etwa in ihrem Bestseller „The Second Machine Age“: Die eigentliche Aufgabe der Innovation bestehe nicht darin „etwas Großes und Neues hervorzubringen, sondern vielmehr bereits Bestehendes neu zu kombinieren“. Fast im selben Atemzug raten sie zum Abschied von der Idee der Vollbeschäftigung und weisen darauf hin, dass sich der auf Arbeit entfallende Anteil am BIP in den USA schon seit dem Jahr 2000 konstant nach unten bewege. Sie führen den Rückgang auf die Technologien des Informationszeitalters zurück und darauf, dass weniger Menschen arbeiten – und jene, die beschäftigt sind, weniger verdienen als zuvor.

Darüber hinaus fließen gerade bei Digitalisierungsprozessen oft Güter ein, deren Wert nirgendwo festgehalten ist. Etwa Dienstleistungen, die zwischen Unternehmen und privaten Haushalten online ausgetauscht werden und für die im vordigitalen Zeitalter noch ein Außendienst-Mitarbeiter zuständig war. Oder Daten, die die Konsumenten aufgrund ihres Verhaltens nun direkt an die Strategie- und Planungsabteilungen von Firmen liefern – früher gingen solche Aufträge direkt und ungeteilt an Marktforschungsinstitute. Auch entstehen für die Betriebe Kosten, zum Beispiel im Forschungsbereich, die während der Implementierung von Technologie nicht an die Kunden weitergegeben werden können. All diese Faktoren führen zu Verzerrungen bei der statistischen Auswertung von Produktivität – und damit auch des Wandels.

Lässt sich Wohlstand künftig am Umgang mit Freizeit messen?

Neu ist dieses Phänomen nicht. Es wurde schon Ende der 1980-er Jahre bekannt mit dem häufig zitierten Satz des amerikanischen Wachstumstheoretikers und Wirtschafts-Nobelpreisträgers, Robert M. Solow: „You can see the computer age everywhere but in the productivits statistics“. Daher wird schon heftig an Konzepten gearbeitet wird, die den Wert dieser neuen digitalen Güter schätzen.

McAfee hat zum Beispiel ein Verfahren erstellt, bei dem er die Zeit, die seine Probanden freiwillig im Internet verbrachten, ihrem Arbeitslohn gegenüberstellte. Daraus berechnete er, was sie anstelle des Surfens im Netz verdienen hätten können. Diese „Opportunitätskosten“ sollten wiederum Rückschlüsse auf den Wert der Internetleistungen beziehungsweise dem entsprechenden Konsum liefern. Wohl auch vor diesem Hintergrund meint der MIT-Wissenschafter, der sich selbst als „Geek“, also Computerfreak bezeichnet, dass sich der Wohlstand unserer Länder künftig daran messen werde, wie sinnvoll wir mit unserer Freizeit umgehen. Für viele klingt das erst mal nach Paradies: Wow, nichts arbeiten und dennoch reicher werden! Bis jetzt war das doch nur etwas für vermögende Frühpensionisten, chillende Erben oder besonnene Lottogewinner. Aber nein, davon spricht McAfee nicht. Er spricht von der „Entfaltung der Macht menschlicher Genialität“.

Sozialutopien klingen ja fürs erste immer ganz toll, vor allem wenn sie das Ego streicheln und an unsere Einzigartigkeit appellieren. Lehnen wir uns also zurück. Stellen wir uns kurz einmal vor, wie es wäre, auf einmal all seinen kreativen Impulsen nachzugeben, den eigenen Forschungs- und Erkundungsdrang auszuleben oder einfach nur mehr Freundschaften zu pflegen. Natürlich wirkt das reizvoll. Ob man dennoch damit auf erfüllende Weise durchs ganze Leben surfen kann, sei dahingestellt.

Es gibt noch eine weitere Gruppe von Wissenschaftern, die sich ganz konkret mit neuen Leistungsmodellen beschäftigt. Der deutsche Sozialwissenschafter Christoph Strawe etwa schlägt eine Institutionalisierung von „Sozialzeiten“ vor, damit auch wichtige gesellschaftliche Aufgaben eine gesetzliche verordnete Anerkennung genießen. Darunter würden etwa Weiterbildung, eine nachweisbare individuelle Weiterentwicklung im Rahmen von Sabbath-Zeiten oder „ein freiwilliges ökologisches Jahr“ fallen. Neben Arbeit und Freizeit würde die Sozialzeit als dritte Leistungseinheit auftreten und somit eine neue Kategorie der Produktivität eröffnen. Das wäre zumindest eine ernstzunehmende Perspektive für die Zukunft und knüpft an die Idee von Wolfgang Price an, der da sagt: „Unsere Arbeit wird sich in eine Richtung entwickeln, die den Menschen in seinem Wert unterstützt. Damit hebt er sich von Robotern, künstlicher Intelligenz und digitaler Technologie ab.“ Na denn, hoffen wir’s.


Dieser Text ist, leicht abgewandelt und eingekürzt, dem Buch entnommen: „Error 404. Wie man im digitalen Dschungel die Nerven behält“ von Michaela Ernst (Ecowin, 2020).

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