StartBusinessSocial Entrepreneurship: „Es muss um mehr als nur Gewinnmaximierung gehen“

Social Entrepreneurship: „Es muss um mehr als nur Gewinnmaximierung gehen“

Nicht Profit, sondern das Wohl der Gemeinschaft steht im Mittelpunkt des sozialen Unternehmertums. Carolin Stüdemann, New Work Expertin und Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Viva con Agua, über globale Herausforderungen und kollektive Verantwortung, die Sinnfrage und wie es ist, mit 24 die erste Führungsrolle zu übernehmen.

Frau Stüdemann, Sie sind seit fünf Jahren Geschäftsführerende Vorständin der All-Profit Organisation Viva con Agua. Davor waren Sie bei einer Unternehmensberatung tätig. Wie kam es zu Ihrem Karrierewechsel?

Carolin Stüdemann: Gesellschaftliches Engagement war schon in meiner Schulzeit in Elmshorn ein sehr präsentes Thema für mich. Damals war ich Sprecherin der Schüler:innenvertretung und habe außerdem Regenwaldprojekte mit meiner Klasse gefördert. Danach habe ich Sozial-Management studiert und in Israel an der Hebrew University im Bereich der Sozialwissenschaften geforscht. Die Kombination aus Pädagogik, Psychologie, Soziologie und der wirtschaftliche Schwerpunkt haben die erste Brücke zu meinem Interesse am sozialen Unternehmertum gelegt. Die Frage, wie sozial orientierte Unternehmen und Organisationen wirtschaftliche Methodiken intern anwenden können, um in ihrer Hilfe effizienter zu sein, hat mich inspiriert.

Auf der anderen Seite kann auch die wirtschaftliche Welt viel von den sozialen Organisationen lernen. Wertorientierung zum Beispiel oder die Ausrichtung anhand eines tiefergehenden Willens und nicht nur nach Profit. Als ich später nach Hamburg gezogen bin und in einer Unternehmensberatung im Change Management Bereich tätig war, habe ich schnell festgestellt, dass mein Wunsch, mich im sozialen Feld zu engagieren, nach wie vor sehr groß ist. Diese Möglichkeit ist in einer Unternehmensberatung leider nicht so gegeben. Viva con Agua hatte zu dieser Zeit eine Stelle in der Geschäftsführung ausgeschrieben, darauf habe ich mich dann einfach beworben. Jetzt bin ich seit fünf Jahren in der Geschäftsführung und würde meinen, dass ich einen sehr modernen Führungsstil habe. Vieles, was man in der klassischen New Work Literatur findet, ist für mich selbstverständlich und prägt meine Arbeit bei Viva con Agua.

Der Job bei Viva con Agua war ja nicht Ihre erste Führungsrolle. Mit 24 haben Sie die Leitung der Jugendhilfeeinrichtung „PERSPEKTIVE“ übernommen. Wie wichtig war Mut in Ihrer bisherigen Leadership Journey?

Mut war immer wieder wichtig und er war möglich, weil ich stark in Visionen denke und eigentlich immer an das Potenzial geglaubt habe. Ich habe mir nicht so sehr über die Angst Gedanken gemacht, sondern mich gefragt, was daraus entstehen könnte, wenn ich diesen Schritt jetzt gehe. Wirksamkeit war mir immer entscheidend in dem, was ich tue. Nicht nur Mut war für diese Führungsposition wichtig, sondern auch eine hohe Selbstreflexion zu haben, nicht übermütig zu werden und zu denken „Ich kann alles“. Sich selbst gut zu reflektieren und zu überlegen, wo und wie kann ich wirklich wirksam sein. In der stationären Jugendhilfe äußerte sich das durch das Empowerment des Fachpersonals, die passenden Entscheidungen selbst zu treffen. Gleichzeitig habe ich mir Mentor:innen gesucht, die mich unterstützen, und bin in diese Verantwortung erst sukzessiv hineingewachsen. Zu kündigen, ohne im Vorhinein zu wissen, wie es genau weitergeht, hat ebenfalls viel Mut erfordert. Mut war und ist in meiner beruflichen Reise ein wichtiger Faktor.

„Soziales Unternehmertum heißt für mich, die globalen Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln an der Wurzel zu packen und zu beheben.“

Was bedeutet soziales Unternehmertum für Sie persönlich?

Soziales Unternehmertum heißt für mich, die globalen Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln an der Wurzel zu packen und zu beheben. Indem Einnahmen für soziale und ökologische Themen genutzt werden, wird ein Mehrwert geschafft. Viva con Agua ist gemeinnützig. Wir sind nicht nur ein Sozialunternehmen. Wir haben das Mineralwasser, das ist ein Sozialunternehmen, weil speziell diese Einnahmen unsere Projektumsetzung finanziell fördern. Der Ursprung und der Kern von Viva con Agua ist aber unser Verein Viva con Agua de Sankt Pauli e.V., dessen Vorständin ich bin, dieser ist als komplett gemeinnützig anerkannt. Alle unsere Mittel sind transparent, ich verwende daher gerne den Begriff gemeinnützige Organisation.

Neben Wirksamkeit haben Sie in unserem Gespräch auch Leidenschaft erwähnt. Wie äußert sich das in Ihrer Tätigkeit bei Viva con Agua?

Ja, Leidenschaft hat mich immer angetrieben, auch jetzt bei Viva con Agua, weil ich gemerkt habe, dass Wasser das Thema der Zukunft ist. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es einfach nicht Realität, dass wir uns über Wasser Gedanken machen müssen. Wenn Menschen Zugang zu Wasser haben, wird die Lebensqualität grundlegend verändert. Ich habe in den letzten Jahren öfters Reisen nach Uganda oder Indien gemacht, wo wir mit Partnerorganisationen vor Ort arbeiten, und konnte persönlich sehen, wie stark sich der Zugang zu sauberem Trinkwasser auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen auswirkt, auf die Gesundheitssituation und auf die Möglichkeit, dass Frauen beruflichen Tätigkeiten nachgehen können. Solche Learning Visits sind ein totaler Motivator. Was mich bei Viva con Agua außerdem so begeistert ist, dass sich wirklich alle einbringen können. Da fühlt es sich auf einmal gar nicht mehr so mutig an, weil wir so viele sind, die das gemeinschaftlich machen.

Sie haben öfter erwähnt, dass Ihnen New Work Prinzipien wie Empowerment und Selbstwirksamkeit wichtig sind. Wie stellen Sie sicher, dass Mitarbeiter:innen bei Viva con Agua empowert werden und sich bei Entscheidungen einbringen können?

Ein absoluter Kernwert für mich ist Vertrauen. Vertrauen meinem Team gegenüber, dass sie sich bestmöglich für Viva con Agua einsetzen. Das hat sich in den letzten Jahren immer wieder bewährt, weil ich gesehen habe, wie Menschen über sich hinauswachsen, wenn ich ihnen vertraue. Ich unterstütze, wo ich kann, begleite aber vor allem durch feste Rituale. Bei uns sind das zum Beispiel fixe Team Meetings mit einem Check-In und Check-Out, wo wir regelmäßig gemeinsam auf unsere Ziele schauen und Reflexion sowie persönliche Entwicklung fördern.

„Innovation ist nicht hierarchisch, sondern entsteht nur dann, wenn sich Menschen mit ihren Stärken und Ideen einbringen können. Das ist die Grundlage meines Führungsstils.“

Wie erfolgreich sind diese Maßnahmen?

Wenn wir als Organisation diese Dialoge realisieren und unsere Mitarbeiter:innen die Möglichkeit haben, sich einerseits selbst zu reflektieren und sich andererseits über Feedback aus den Augen der anderen sehen, durch klassische Spiegelungen zum Beispiel, erweitert das die Selbstwirksamkeit, weil sich alle in der Eigenverantwortung sehen. Es führt dazu, dass sich einzelne Personen denken: „Ich bin selbst verantwortlich und deswegen schaue ich, wo ich etwas dazulernen muss, um meine Rolle gut zu erreichen.“

Transparenz und Partizipation spielen eine wichtige Rolle. Wir haben gemeinsam mit Personen aus unserem Team ein transparentes Gehaltsmodell entwickelt. Partizipation ist elementar für mich, sowohl im Kernteam als auch in unserem ehrenamtlichen Netzwerk. Das Ziel ist, dass sich wirklich alle ermutigt fühlen, ihre eigenen Ideen beizutragen. Dadurch entstehen neue Projekte. Innovation ist nicht hierarchisch, sondern entsteht nur dann, wenn sich Menschen mit ihren Stärken und Ideen einbringen können. Das ist die Grundlage meines Führungsstils. Außerdem hole ich regelmäßig unseren Purpose ins Zentrum. Unsere Vision „Wasser für alle – alle für Wasser“ ist das zentrale Element, das alles bestimmt. Wir müssen uns immer wieder fragen: Warum machen wir etwas? Unsere Vision ist, glaube ich, eine starke Motivation.

„Wir brauchen eine Wirtschaft, in der Profit nicht mehr die einzige Priorität ist. Eine Wirtschaft, (…) bei der es um die Dinge geht, die wirklich wichtig sind im Leben, und nicht nur um Konkurrenz und Gewinnmaximierung.“

New Work und New Leadership sind, abgesehen von Ihrem persönlichen Führungsstil, ein Thema, für das Sie sich einsetzen und unter anderem als Speakerin bei Veranstaltungen auftreten, zum Beispiel bei der New Work Experience (NWX23) in Hamburg. Welche Trends sehen Sie aktuell in diesem Bereich?

Ich glaube, dass die Sinnfrage immer häufiger gestellt wird. Dass sich Menschen anders mit ihrer Arbeit beschäftigen und sich öfter fragen „Wie verwende ich eigentlich die vielen Stunden in der Woche und wofür?“. Dass darauf ein Fokus gelegt wird, finde ich sehr gut. Ich bin überzeugt davon, dass es einen Richtungswechsel geben muss. Ein passendes Zitat, dass mich sehr inspiriert, stammt von Viktor Frankl: „Frage dich nicht, was du von der Welt erwarten kannst, sondern auch, was die Welt von dir erwartet“. Diese Grundhaltung treibt vor allem jüngere Menschen um. Und gerade in Zeiten des Fachkräftemangels stellen sich auch eingesessene Großunternehmen diese Frage.

Wir brauchen eine Wirtschaft, in der Profit nicht mehr die einzige Priorität ist. Eine Wirtschaft, die innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert, die menschliche Bedürfnisse ins Zentrum stellt und stärker in Kooperationen denkt. Bei der es um die Dinge geht, die wirklich wichtig sind im Leben, und nicht nur um Konkurrenz und Gewinnmaximierung. Genau das steht auch bei New Work im Fokus, nämlich der Mensch und zwischenmenschliche Beziehungen. Für mich bedeutet das, dass wir eine globale Verantwortung übernehmen. Wir können nicht immer nur um uns selbst kreisen und überlegen, wie es uns am besten geht, sondern müssen berücksichtigen, dass jegliches Handeln globale Effekte hat.

„Wir können nicht immer nur um uns selbst kreisen und überlegen, wie es uns am besten geht, sondern müssen berücksichtigen, dass jegliches Handeln globale Effekte hat.“

Haben Sie einen Ratschlag für Frauen, die einen ähnlichen Weg im Bereich Social Entrepreneurship anstreben?

Ein Thema zu finden, das einen selbst inspiriert und die Leidenschaft entfacht. Nur dann sind wir glaubwürdig. Authentizität ist ein großer Punkt, denn nur wenn wir uns sicher sind, dass das, was wir tun, richtig und wichtig ist, wachsen wir organisch in eine Führungsrolle hinein und können in dieser Rolle ganz anders reflektiert werden, weil wir das innere Feeling dafür haben. Engagement kostet immer Energie und persönlichen Einsatz. Dafür braucht es innere Stärke und das Bewusstsein dafür, dass man für die in den eigenen Augen richtige Sache einsteht.

Ein zweiter Tipp ist, regelmäßig auf Netzwerkverantstaltungen zu gehen und einfach mal zu schauen, wie andere es machen und offen und ehrlich um Hilfe zu fragen. Viele Frauen, die jetzt schon erfolgreich sind, helfen anderen gerne dabei, den Weg zu beschreiten.


Zur Person

(c) Hanno Eckert

Carolin Stüdemann ist in Elmshorn, nordwestlich von Hamburg, aufgewachsen. Mittlerweile lebt sie in der deutschen Hafenstadt. Seit 2018 ist sie geschäftsführende Vorständin von Viva con Agua de Sankt Pauli e.V., einer Non-Profit Organisation (oder, wie Viva con Agua sich selbst bezeichnet, einer All-Profit Organisation). Seit 2006 ist der Verein offiziell eingetragen und als gemeinnützig anerkannt. Mit der Kernbotschaft „Wasser für alle – alle für Wasser“ setzt sich die Organisation international für sauberes Trinkwasser, Sanitärversorgung und Hygiene für alle ein und sammelt Spenden. Hier kann gespendet werden.

Carolin Stüdemann war Speakerin bei der diesjährigen New Work Experience 2023 (NWX) in Hamburg, dem größten Event für Arbeit und Zukunft im deutschsprachigen Raum. Das Interview entstand im Rahmen einer Medienkooperation zwischen sheconomy und der NWX23.

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