„Schon wieder auf den letzten Drücker, typisch – jetzt fange ich aber wirklich an mit der
Auswertung. Aber so unkonzentriert mache ich nur wieder Flüchtigkeitsfehler. Diese monotonen Exzelzeilen jedes Mal … Ich mache mich erst mal ans Cover für den Bericht, farbig, frei, kreativ, und schließlich auch etwas Produktives. Ja, ja. Und belüge mich mal wieder selbst; am Ende bin ich faul und hab nie so viel Durchhaltevermögen wie die Anderen. Warum habe ich überhaupt gesagt, dass ich diesen blöden Job mache? Für’s Team natürlich, wie immer. Und außerdem habe ich so die Kontrolle über das Budget.“
Das innere Team: Wer denkt, fühlt und handelt?
Die meisten von uns kennen diese inneren Stimmen: „Mach dich an die Arbeit! Mach den Bericht! Reiß Dich zusammen“, sagt eine mahnende Strenge. Das rebellische Kind: „Ich WILL aber nicht!“ Und bricht unterbewusst einen Stellvertreterstreit vom Zaun, ob dieser Etat grundsätzlich eigentlich der Unternehmensvision entspricht. Die innere Kritikerin: „Immer bin ich so …[selbst einfügen] und nie schaff ich es …“ Dann meldet sich eine frühe Bindungsruptur: „Das Team mag mich lieber, wenn ich die nervige Aufgabe übernehme.“ Das Sicherheitsbedürfnis ergänzt: „Wenn ich mich kümmere, laufen alle Informationen am Ende zu mir.“
Unser inneres Team ist eine der Grundannahmen der Psychologie, in der davon ausgegangen wird, dass Menschen unterschiedliche (Persönlichkeits-)Anteile haben, die sie bewusst und unbewusst zeigen. Einige sind die nach Außen gewandten Rollen voller Verpflichtungen und der Bestrebung unbedingt so, dabei aber keinesfalls so zu wirken. Andere werden versteckt, weil sie unliebsame Verhaltensweisen, unangenehme Gedanken oder schwer aushaltbare Gefühle repräsentieren, die wir als Bewältigungsmechanismen oft mit uns allein ausmachen und die gleichsam verletzte Bedürfnisse der Vergangenheit komplementieren.
Dies zeigt sich in romantischen Beziehungen, im Führungsstil in der Geschäftswelt und sehr oft im inneren Dialog, wenn wir mal wieder das Eine ganz klar für richtig und klug befinden und doch mit vollem Anlauf das Andere tun. Selbstsabotage und Perfektionismus in Aktion. Hierbei gibt es neben den erwachsenen Anteilen auch jüngere Repräsentationen bestimmter Erfahrungen und daraus resultierender Annahmen von der Welt.
Ein sozial unsicherer Mensch erinnert sich vielleicht in diesen Momenten daran, wie der bewundernswerte Vater jedes Mal vor Stolz strahlte, wenn ein Tennisturnier gewonnen wurde, aber keinen einzigen Blick übrig hatte für die eigene Malerei. Künstlerische Talente werden so beiseite gelegt. Das Annehmen und Ausleben eines möglicherweise verdrängten Bedürfnisses nach einem weniger leistungsorientierten, freieren Kontakt befreit häufig nicht nur von altem Bedauern, sondern löst Blockaden im Heute.
Eine weitere wichtige Grundannahme der Psychologie ist, dass jeder Anteil eine gute Absicht hat, diese manchmal bloß zu laut oder dysfunktional zu erfüllen sucht. Statt als Abwehrmechanismus betrachten wir einschränkendes Verhalten als Bemühung zum Wohlergehen. Und kommen hierüber zu verletzten Motivfeldern: Was durfte ich nie ausreichend leben, was musste ich zu oft aushalten, das heutige Vermeidung oder Übertreibung erklären kann?
Kontrolle vs. Loslassen
Ist eine Kontrollinstanz sehr laut, kann es sein, dass ein Gegenpart ungehört bleibt und anderen Anteilen im Unterbewusstsein Aufträge erteilt. Verkörperte Symptome, Entgrenzung in Beziehungen, Substanzmittelmissbrauch – Hauptsache irgendwie sich selbst entkommen. So ist Depression nicht nur Krankheit, sondern auch Symptom. Die nötige Zwangsbremse, die wir nicht hören wollten. Häufige Gegensatzpaare von Selbsten sind Macht und Verletzlichkeit, Antreiber und Nichtstuer, Denken und Fühlen, Kontrolle und Loslassen. Diesen Spektren wird in der Teilearbeit Raum gegeben – Containment der Spannung zwischen zwei Polen; nicht um sie aufzulösen, sondern um sie zu integrieren. Im selben Herzen Platz für die Widersprüche, Kontingenzen und Komplexität schaffen und auch die Seiten annehmen, die wir nicht so gerne zeigen oder fühlen.
Prokrastination und Perfektionismus zum Beispiel sind zwei Seiten einer Medaille, die glänzt in ihrer Schutzfunktion. Um blockierende oder überkritische innere Anteile zur Helferinnen des inneren Teams zu machen, eignen sich Methoden aus der Gestalttherapie oder Journaling-Übungen mit Bezug auf die Internal Family Systems Arbeit. Zum Beispiel, indem wir uns entspannt hinsetzen und in uns Kontakt aufnehmen mit dem Anteil, der uns Dinge ewig aufschieben lässt oder vor lauter Anspruch gar nichts abgibt. Wo sitzt dieser Perfektionismus? In den schwitzigen Händen, den verspannten Schultern, der ernsten Stirn? Nachspüren und zu Zettel und Stift ergreifen um aus der Perspektive dieses Anteils zu formulieren: „Ich zwinge dich zu Höchstleistungen, weil…“ Mindestens 5 Gründe notieren, auch wenn sie paradox oder weit hergeholt wirken. Aus dem erwachsenen, weisen Selbst wertschätzend antworten: „Ich höre, dass du …“ und benennen, was dieser Teil eigentlich will – Sicherheit, Wertschätzung, Vermeidung von Kritik. Dann die neue Rolle verhandeln: „Wie könntest du mir helfen, ohne mich auszubrennen?“ Wessen biographische Aufträge erfüllt ein Anteil, ist es wirklich das eigene Leistungsdenken oder vielleicht ein Muster, das die Mama schon hat leben müssen? Dann den Impulsen, Körperempfindungen und spontanen Ideen folgen.
Selbstsabotierende States sind oft kindliche Anteile, die in der Vergangenheit steckengeblieben sind. In der Ego-State-Therapie kann man einem verletzten Anteil gezielt die Ressourcen eines stärkeren, erwachsenen Anteils „übertragen“ – durch innere Bilder, Körperanker oder symbolische Handlungen (z. B. eine innere Umarmung, Schutzschild, Worte von Stärke). Ziel ist nicht, einen der beiden „loszuwerden“, sondern ein dialektisches Spannungsfeld zu schaffen, in dem beide Anteile integriert werden können.
Den inneren Saboteur zum Helfer machen
Ein alternativer Einstieg kann lauten: „Mein sabotierender Anteil meldet sich oft, wenn…“ Welche gute Absicht steckt hinter einem vielleicht früh gelernten, inzwischen veralteten Verhalten? Will mich dieser Part schützen? Wie kann ich ihm danken und herausfinden, was es braucht optimal für mich zu sorgen? Die Begegnung mit den eigenen Anteilen braucht Neugier, Wohlwollen und Geduld, denn manche, die unseren Alltag händeln und die öffentliche Persona managen, sind laut und forsch, erprobt und funktional, während ungeliebte Seiten gern versteckt oder komplett aus dem Bewusstsein gestrichen werden und sich als Projektionen in Streits mit dem Umfeld den Weg bahnen. Denn wir sind verständlicherweise lieber zu stark als zu schwach und bewegen uns unterbewusst zwischen „brauch ich nicht, hab ich schon, kann ich alles, weiß ich besser“ und „schaff ich nicht, überfordert mich, Andere haben es leichter und sind viel kompetenter“. Grandiosität und Scham sind ebenso zwei Seiten einer Medaille und beruhen beide auf Verdrängtem und Verletzungen. Integration und psychologische Arbeit sind kein Spaziergang, sondern ein Bergerklimmen, winken aber mit einer enormen Erweiterung des Horizonts. Zum Bespiel durch Reflexionen aus der Schattenarbeit.
Fragen zur Selbstreflexion
- Wie stehst Du zu Versagen und Fehlern?
- Was verunsichert Dich?
- Was hat man Dir als Kind nachgesagt, kritisiert oder vorgeworfen? Was fühltest Du dabei?
- Sind diese Anteile und Züge heute noch aktuell?
- Welche Charakterzüge und Verhaltensweisen haben Deine Eltern früher in Anderen gelobt oder geschätzt? In Bezug auf Arbeit, Charakter, sich selbst und Dich?
- Welche Charakterzüge und Verhaltensweisen idealisierst Du in Anderen?
- Was sind für Dich die unangenehmsten Charakteristika und Verhaltensweisen in Anderen?
- Was sind die von Dir an Dir selbst ungeliebten Charakteristika und Verhaltensweisen?
- Auf welche Charakterzüge und Verhaltensweisen bist Du neidisch?
- Auf welche Erlebnisse, Errungenschaften, Charakteristika und Verhaltensweisen bist Du bei Dir selbst stolz?
- Was bedeuten diese Antworten im Umkehrschluss über Dich?
Strategien gegen den inneren Kritiker
Eine wunderbare kurze Hilfe, wenn der innere Kritiker mal wieder sehr laut wird: bewusst wahrnehmen und feststellen: „Ah, da ist ja wieder PunktPunktPunkt, mal fragen, was sie oder er eigentlich wirklich will.“ Ihn in der dritten Person sprechen zu lassen stärkt die kognitive Distanzierungsfähigkeit. Sich die Kritik von einer ganz piepsigen Stimme sagen lassen oder sie wie eine Radiostation an- und auch wieder ausgeschalten lernen. Und ihm seinen Gegenpart vorstellen, den inneren Unterstützer, den wir alle in uns tragen, und innere Spaltungen sichtbar machen um sie mit versöhnlicherem Blick zu überwinden.
Zur Autorin:
Julia Rathjen arbeitet in privater, traumasensibler Praxis in Berlin und online an Symptomen von Burnout und ADHS. Bei www.athinline.berlin liegt der Fokus auf Stress, Selbstzweifeln und -sabotage, unliebsamen Coping-Mechanismen und emotionaler Belastung. Sie berät außerdem Unternehmen, Verbände und Start-ups zur Frage, wie wir in uns selbst, im Team, in Arbeitsabläufen, Identität und Organisationskultur zu mehr Gesundheit und Potentialentfaltung gelangen. Für gehirngerechten Change und effiziente, radikal menschliche Führung.
Weitere Artikel aus der Serie:
Highway ins Wohlbefinden – wenn das Nervensystem zur Ressource wird