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Psyche in der Pandemie: Welche Fragen jetzt drängen

Kolumne „Aus der VogelPerspektive – Von Melanie Vogel

Nach zwei Pandemie-Jahren ist es Zeit für wichtige Fragen, um nicht noch tiefer in eine „stille Pandemie“ zu rutschen, sagt Wirtschaftsphilosophin Melanie Vogel.

 

Pandemien beschleunigen historische Prozesse. Viele kurzfristige Notfallmaßnahmen kommen, um  zu bleiben, weil Gewohnheit und Angst neues Verhalten provozieren und schließlich zur neuen Normalität erklären. Entscheidungen, die in normalen Zeiten jahrelange Überlegungen erfordern würden, werden notfallmäßig in kurzer Zeit getroffen und überdauern Monate – in diesem Fall sogar mehr als zwei Jahre.

In den letzten 24 Monaten haben Gesellschaften weltweit als riesige soziale Versuchslabore hergehalten, denn wann sonst hätte man flächendeckend junge Menschen zu Hause unterrichtet, jeden auf 1,5 Meter Abstand gehalten und ganze Belegschaften über Monate ins Homeoffice geschickt, wenn nicht in einer Pandemie? In normalen Zeiten hätten Regierungen, Unternehmen und Bildungseinrichtungen einem solchen Vorgehen niemals zugestimmt. Doch die letzten zwei Jahre waren eben keine normalen Zeiten, sondern ein Ausnahmezustand, der bis heute kein Ende zu nehmen scheint. Krisen beherrschen immer noch den Alltag von sehr vielen Menschen, egal, wohin man schaut. Weltweit lassen sich Tendenzen erkennen, die einer neuen – stillen – Pandemie gleichen und die auf die sozialen Experimente der letzten zwei Jahre zurückzuführen sind: Die Psyche sehr vieler Menschen hat massiv gelitten.

 

Viele junge Menschen leiden

 

Das sollte nicht verwundern, denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Die über zwei Jahre in allen Lebensbereichen auferlegte Distanz hat Spuren hinterlassen, denn soziale Distanz ist nicht natürlich – und schon gar nicht selbst-verständlich. Ganz im Gegenteil. Unser Selbst braucht, um sich verstehen zu können, die Beziehung zu anderen.

Das gilt insbesondere für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die von Bezugspersonen lernen und nicht ausschließlich durch Sprache und Logik. Unsere Beziehung zur Welt entsteht auch im Erwachsenenalter durch Mitgefühl, Empathie, Kooperation – und Beziehung. Erst wenn wir uns im Bezug zur Welt erleben, lernen wir, uns selbst zu verstehen.

Im November/Dezember letzten Jahres befragten wir rund 900 Studierende bundesweit in einem Student Survey und wollten wissen, mit welchen Gefühlen sie die letzten zwei Jahre retrospektiv erlebten.

  • 80% gaben an, sich seit der Pandemie zu Hause am wohlsten/am sichersten zu fühlen.
  • 78,7% ermüden sehr schnell, wenn sie unter vielen Menschen sind und für fast die Hälfte der Befragten ist der Angstpegel deutlich höher als vor 2020.
  • 74,9% gehen fremden Menschen aus dem Weg. 75,7% meiden große Menschenmassen und werden das auch weiterhin tun.
  • 68,2% beobachten bei sich selbst, dass ihnen oft die Motivation fehlt, raus und unter Menschen zu gehen.

Auch das deutsche Studentenwerk schlug Anfang des Jahres Alarm. Depression und Vereinsamung führten dazu, dass die psychosozialen Beratungsstellen der Hochschulen überrannt würden. Auch das Portal „Human Resources Executive“ adressiert seit 2020 immer wieder die psychischen Folgen der Pandemie für die Menschen – und in der Folge auch die Herausforderungen für die Arbeitgeber, die auf die psychosoziale Krise reagieren müssen.

 

Jahrelange Desozialisierung hat Folgen

Letztlich reden wir über Menschen – nämlich über uns –, die monatelang desozialisiert wurden. In den letzten zwei Jahren haben wir alle, auf die ein oder andere Art und Weise, unseren Bezug zur Welt über Distanz erfahren. Vergleichbar ist dieses globale Massenexperiment aus meiner Sicht sogar mit Hospitalismus – den körperlichen und psychischen Begleitfolgen einer Deprivation (= Entzug von Reizen und psychosozialer Zuwendung) durch Entzug sozialer Interaktionen.

Was bedeutet das für die Lebenswirklichkeit von Menschen? Nichts Gutes, denn was wir derzeit nicht nur bei den jungen Menschen, sondern gesellschaftsübergreifend erleben, sind ein zunehmender Zukunftspessimismus, Sinnkrisen und jetzt im Angesicht des Ukraine-Konflikts eine neue Form von Angst und Panik, die bei vielen in Perspektivlosigkeit mündet.

Um zu erkennen, welchen historischen Impact die aktuelle Pandemie haben könnte, sollten wir anfangen Fragen zu stellen und Antworten zu suchen.

Wir könnten damit beginnen, unser heutiges Verhalten zu vergleichen mit unseren Verhalten bis 2019:

– Wo haben wir uns angepasst und nachhaltig verändert?

– Wo haben wir Sozialverhalten eingebüßt und unsere Leichtigkeit im Umgang mit anderen verloren?

– Was fehlt uns – und welche Errungenschaften betrachten wir auf der anderen Seite aber auch als positiv?

– Was soll von den letzten zwei Pandemiejahren bleiben?

– Welche Zukunftsschritte haben sich als sinnvoll und richtig erwiesen?

– Wie können wir das, was sich als richtig erwiesen hat, nachhaltig positiv gestalten?

– Und wie können wir die Menschen, die in den letzten zwei Jahren psychisch still, leise und ohne mediale Lobby gelitten haben, wieder in den Kreis der Gemeinschaft holen?

Wie heilen wir als Gesellschaft? Wie überwinden wir die gesellschaftliche Distanz? Wie resozialisieren wir uns?

Vor den Antworten und Lösungen stehen die Fragen. Beginnen wir also damit, Fragen zu sammeln.

Im nächsten Artikel „Aus der Vogelperspektive“ nähern wir uns den Antworten.

 

Melanie Vogel macht als Innovatorin, Unternehmerin und VUCA-Expertin Menschen fit für eine Welt dauerhaften Wandels und sorgt für eine mentale Frischzellenkur. Als WirtschaftsPhilosophin und Innovation-Coach begleitet sie bei ganzheitlichen Unternehmenstransformationen. Die Buchautorin ist Mitglied der Arbeitsgruppe „Hochschulbildung für das digitale Zeitalter im europäischen Kontext”, initiiert vom „Hochschulforum Digitalisierung” der Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Außerdem schreibt sie als Fachautorin für die Publikationen “PersonalEntwickeln” (Deutscher Wirtschaftsdienst) und „Grundlagen der Weiterbildung” (Luchterhand-Verlag).

 

 

 

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