Sie ist einer brasilianischen Favela geboren und berät heute weltweit verschiedene Großunternehmen: Domitila Barros. Nachhaltigkeit ist ihr Steckenpferd – in Bezug auf Unternehmensführung, Karriere und Konsumgewohnheiten. Dass sie seit Anfang des Jahres auch Miss Germany 2022 ist, stellt sie vor neue Herausforderungen.
Unsere Gast-Autorin Stefanie Hornung hat mit der Social Entrepreneurin & Speakerin darüber gesprochen, wie sich der bekannte Schönheitswettbewerb verändert hat, wie sie ihre Rolle als Miss Germany lebt und was andere von ihrer Geschichte lernen können.
Domitila, Du bezeichnest Dich als Greenfluencerin und Social Entrepreneurin. Wie sieht Deine Arbeit konkret aus?
Mit meiner Arbeit gebe ich Menschen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden. Außerdem greife ich Themen auf, die extrem wichtig sind für das Überleben der Menschheit. Ich bin als Aktivistin vor allem in Social Media unterwegs, mit Podcasts, Videos und Artikeln. Ich zeige zum Beispiel, wie es ist, wenn Menschen in Brasilien, dort wo ich herkomme, unter der Armutsgrenzen leben. Ich habe lange auf Bali gelebt und viel über Müll und Elektroschrott berichtet. Diese Themen mache ich auf verschiedenen Kanälen verständlich, so dass sie für möglichst viele Menschen zugänglich sind. Gleichzeitig berate ich wichtige deutsche Aktiengesellschaften in Sachen Nachhaltigkeit und Kommunikation. Auch eine nachhaltige Karriere habe ich dabei im Blick und coache Führungskräfte, vor allem Frauen.
Was Du heute tust, als Beraterin und als Coach, hat viel mit Deiner persönlichen Geschichte zu tun. Als Kind in einer brasilianischen Favela hattest Du nicht gerade die besten Startbedingungen, oder?
Das stimmt. Die Favela, wo ich geboren bin, heißt „linha do tiro“, übersetzt „Schusslinie“. Dort gibt es keine Polizeistation, keine Schule, keinen Kindergarten. Der Müll kann nicht abgeholt werden, weil durch die engen Gassen keine Autos durchkommen. Viele Menschen haben keine Adresse, keine Geburtsurkunde und keinen Ausweis. Für den Staat existieren sie nicht – wenn sie sterben, kann niemand belegen, dass sie gelebt haben. Bildung ist in einer solchen Umgebung extrem wertvoll. Das haben mir meine Eltern und Großeltern von klein auf vermittelt und vorgelebt.
Wie haben Deine Eltern das vorgelebt und wie hast Du Zugang zu Bildung bekommen?
Meine Eltern haben beide studiert. Meine Mutter hat zusammen mit meinem Vater während des Studiums das Straßenkinderprojekt CAMM ins Leben gerufen. Bis heute konnten sie in dem Projekt 5.000 Kindern helfen. Als meine Mutter noch Pädagogik studiert hat, fing das so an, dass sie die Straßenkinder zum Abendbrot eingeladen hat. Sie wollte zunächst nur das Gelernte aus ihren Pädagogikkursen anwenden. Es hat sich dann aber schnell herumgesprochen, dass es an diesem Ort Bildung und Essen gibt. Bis heute sind meine Eltern nicht aus der Favela weggegangen und führen das Projekt weiter fort. Das hat mich von klein auf geprägt. Ich habe immer Spaß am Lernen gehabt, weil das ein Luxus war. Ich war ein neugieriges Mädchen. Ich hatte Durst nach Wissen und wollte Dinge verstehen.
Wie hat Deine berufliche Karriere angefangen – und wie bist Du dabei aus der Favela herausgekommen?
Als ich 13 war habe ich schon Kindern Lesen und Schreiben beigebracht – und zwar durch Theater und Schauspiel. Seit ich sieben war, hatte ich Schauspielunterricht. Das war für mich sehr wichtig, weil es mir die Möglichkeit gab, in einem chaotischen Umfeld meine eigene Realität zu kreieren. Dadurch sind viele Kontakte und Beziehungen entstanden. So kam es dazu, dass ich im Jahr 2000 von der UNESCO als „Millenium Dreamer“ ausgezeichnet wurde und in Miami eine Rede vor einer UNESCO-Delegation halten durfte. Über ein Stipendium kam ich dann an die Freie Universität Berlin, wo ich Politik- und Sozialwissenschaften studiert und meinen Master gemacht habe. Heute lebe ich in Berlin.
Inzwischen hat Du die eigene Marke sheisfromthejungle für nachhaltigen Schmuck und ein Shampoo ohne Palmöl und Mikroplastik etabliert. Gleichzeitig präsentierst Du auch nachhaltige Produkte von anderen Unternehmen. Inwiefern kannst Du ausschließen, dass Du damit kein Greenwashing betreibst?
Ich verfolge die gesamte Lieferkette und schaue wirklich genau hin. Ich nehme viele Themen aus einer ganz anderen Perspektive wahr und übersetze Werte. Wenn ich mit großen Unternehmen zusammenarbeite, bin ich oft die einzige Person im Raum, die eine Migrationsgeschichte hat und aus einem sozialen Umfeld unterhalb der Armutsgrenze kommt. Oft sagen dann die Corporate Teams, so hätten wir das gar nicht gesehen. Unternehmen, die sich darauf nicht einlassen wollen, kommen tatsächlich gar nicht erst auf mich zu. Wenn sie mich als Greenfluencerin engagieren, wissen sie, dass ich aufgrund meiner Persönlichkeit und meiner Geschichte nicht bequem bin – da spüre ich oft auch einen großen Respekt.
Seit März 2022 bist Du nun Miss Germany. Inwiefern hilft Dir dieser Titel bei Deiner Arbeit – auch in finanzieller Sicht?
Der Titel Miss Germany ist mir eine Ehre und unterstützt mich dabei meine Botschaft in die Welt zu tragen. Mit meiner Mission bekomme ich als Miss Germany in der Presse zusätzlich Gehör und eine Plattform, um drüber zu sprechen. Er bedeutet besonders in den deutschen Medien und auch bei jüngeren Zielgruppen auf Social Media mehr Sichtbarkeit. Mehr Sichtbarkeit vor allem für meine humanitären Projekte, die ich wiederrum neuen Investor:innen vorstellen kann. Die Kooperationen, die ich auch finanziell zusammen mit dem Team von Miss Germany eingehe, sind ein wesentliches Fundament, um Narrative zu ändern und meine Programme umzusetzen.
Frauennetzwerke und Feminist:innen sehen das Konzept eines Schönheitswettbewerbs und das darüber vermittelte Frauenbild kritisch. Wie gehst Du damit um?
Miss Germany ist kein Schönheitswettbewerb mehr. Das Konzept hat sich 2019 von Grund auf verändert. Miss Germany zeichnet seitdem Frauen für ihre Mission und Handeln aus. Das Unternehmen hat mit seiner Auszeichnung eine Anlaufstelle geschaffen, wo sich Menschen vernetzen und austauschen, um gemeinsam etwas zu bewegen. Ich bin mittlerweile die dritte Miss Germany, bei der das neue Konzept greift. Und ich bin sehr dankbar, dass ich diese Werte vertreten darf, die ich selbst lebe. Dass dieses Konzept noch nicht bei allen angekommen ist, ist verständlich – das geht nicht von heute auf morgen. Hier ist der Schlüssel Kommunikation und Empathie. Als Vertreterin meiner Mission und der von Miss Germany führe ich viele Aufklärungsgespräche und schaffe Verständnis für unsere gemeinsame Sache.
Nun sollen die Kandidaten:innen für Miss Germany nicht nur schön sein, sondern auch noch klug und eine Mission haben. Inwiefern setzt Dich das unter Druck, dass die Anforderungen noch einmal gestiegen sind?
So würde ich das nicht formulieren. Die Anforderungen bei Miss Germany haben sich verändert. Für mich persönlich hat der Druck aber schon ein Stückweit zugenommen. Vorher war klar, wer ich bin und wofür ich stehe. Nun bin ich in verschiedenen Rollen unterwegs. Ich spüre auch eine gewisse Erwartung, dass ich besonders qualifiziert sein muss. Verschiedene Zielgruppen – die Endkonsument:innen, die Medien, meine Follower, die Unternehmen – beobachten, wie ich mich verhalte. Hinzu kommt, dass ich als erste Migrantin Miss Germany geworden bin.
Setzt Du Dich also selbst unter Druck oder stellen andere auch konkrete Forderungen an Dich?
Ich setzte mich vor allem selbst unter Druck, dass ich ein vernünftiges Jahr abliefere – auch um ein Role Model für die Frauen zu sein, die nach mir kommen. Vielleicht können sie es dadurch leichter haben. Aber es sind auch Rückmeldungen von Kund:innen. Da gibt es noch viel Skepsis. Manche laden mich explizit nicht als Miss Germany, sondern als Domitila Barros ein. Das hat aber damit zu tun, dass sie das neue Konzept noch nicht kennen. Das ist ein Auftrag an mich, die neue Idee des Wettbewerbs bekannter zu machen. Das wird noch dauern, aber das ist okay.
Kriegst Du auch offene Kritik oder erfährst Diskriminierung aufgrund Deines Backgrounds?
Ich befinde mich Gott sei Dank mittlerweile in einer sehr privilegierten Situation. Ich kann inzwischen viel besser entscheiden, in welchen Räumen ich mich bewege, welche Projekte meine Aufmerksamkeit verdienen und welche Menschen ich in meinem Umfeld haben will. Aber das war nicht immer so. Und es gibt schon so Bemerkungen wie, „Häh, Du bist Miss Germany? Du kannst ja nicht mal richtig deutsch!“. Oder dass Geschäftspartner:innen meinen, sie müssten anderen erklären, wer da ins Büro kommt, eine Miss Germany und die sieht so und so aus. Das macht mich doch nicht weniger professionell! Also ja, ich habe schon mit Rassismus und Sexismus zu tun. Ich bin eine jung aussehende brasilianische afrodeutsche Frau und jeder weiß, wie schwierig es schon allein ist, sich als Frau beruflich zu etablieren. Hinzu kommt, dass ich eine sehr selbstbewusste Frau bin.
Das ist doch ein Vorteil für die Karriere, selbstbewusst zu sein, oder nicht?
Eine selbstbewusste Frau ist manchen unangenehm. Ich rede nicht darüber, einen Platz am Tisch zu bekommen. Ich nehme ihn mir, denn er steht mir zu. Wenn ich mich irgendwo nicht hinsetzen darf, dann lade ich die Leute zu meinem Tisch ein. Ich lebe, was ich predige. Das heißt, ich schreibe keinen schön klingenden Text über Diversity und lache dann in der Vorstandsrunden über sexistische Witze von Männern.
Was passiert in solchen Situationen, wenn Du etwas Unangenehmes ausgesprochen hast?
Das Interessante ist: Meistens gab es dann schon eine Veränderung. Die Menschen haben darüber nachgedacht. Frauen in Führungspositionen merken schnell, dass sie in der Aufgabe keinen Sympathiepreis gewinnen, sondern Leistung erbringen. Viele geben mir aber das Feedback, dass es noch mehr Frauen wie mich braucht, die den Raum einnehmen und dabei trotzdem weiblich bleiben. Ich muss mich nicht wie ein Mann kleiden und die Männer nachahmen, um mir Gehör zu verschaffen. Das sollte selbstverständlich sein.
„Wir brauchen mehr Frauen, die sich ihren Raum nehmen und trotzdem weiblich bleiben“
Ein derartiges Selbstbewusstsein kommt selten von allein. Hattest Du Mentor:innen auf Deinem Weg – unabhängig von Deinen Eltern?
Nachhaltigkeit braucht Zeit und nachhaltige Beziehungen. Ich bin seit 22 Jahren in Kontakt mit der Frau, die in der UNESCO die Entscheidung getroffen hat, dass ich Millennium Dreamer werden soll. Wenn Nachhaltigkeit ein Hobby wäre oder ich damit nur einem Hype folgen würde, wäre alles spätestens nach zwei Jahren vorbei. Es braucht eine große Ausdauer und das haben mir nicht nur meine Eltern vorgelebt. Wenn ich dachte, ich wäre soweit, an bestimmten Stellen mitzureden, hat meine Unterstützerin bei der UNESCO immer zu mir gesagt: „Domitila, Du musst Geduld haben.“ Natürlich müssen Frauen kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie etwas wirklich wollen. Oder denken, sie sind nicht gut genug. Männer sind immer „ready“ für die nächste Karriereherausforderung. Da könnten wir uns bei aller Geduld auch etwas abschauen.
Welche Bedeutung hat Networking für Deinen beruflichen Erfolg?
Ich bin eine großartige Networkerin. Das weiß ich, aber ich musste erst lernen, das auszusprechen. Sonst spricht man immer darüber, worin man nicht gut ist – vor allem Frauen. Mit Menschen, die zu meinen Werten passen, tausche ich mich über viele Jahre immer wieder aus, nicht nur, um mich nicht alleine zu fühlen, sondern auch um mich inspirieren zu lassen. Ich bin ein großer Fan von Mentoring und von Coaching – und habe beides selbst immer wieder wahrgenommen und an andere weitergegeben. Frauen können davon nie genug haben.
Du hast Dir Dein berufliches Tätigkeitsfeld Greenfluencerin, Social Entrepreneurin und Model selbst geschaffen. War es für Dich schon immer schon so klar, was Du tun wolltest? Oder was hat Dir dabei geholfen, berufliche Entscheidungen zu treffen?
Die Frage kommt sehr oft, vor allem von Frauen in Führungspositionen. Dann sage ich immer ganz ehrlich: Ich bin nicht die beste Entscheiderin. Darum habe ich so ein großartiges Team, das mir hilft. Ich wusste nicht immer, was ich sein werde. Und trotzdem war ich mir immer sicher, wenn ich bestimmte Dinge tun wollte. Das ist eine Art Urvertrauen, das viele Kund:innen von mir und vor allem Frauen anscheinend verloren haben. Auch wenn es vielleicht etwas esoterisch klingt: Es geht darum, die innere Stimme zu hören und nicht die ganze Lautstärke von außen. Es gibt den Spruch: „If it is your calling, it will keep calling you.” Wenn man für etwas berufen ist, wird man immer wieder darauf zurückkommen. Das kann etwas ganz Absurdes sein, was gar nicht zum eigenen Bild passt. Ehrlich zu sich selbst zu sein, ist manchmal am schwierigsten. Aber wenn man davor wegrennt, führt es meistens zu schlechten Entscheidungen oder Selbstsabotage.
Haben Dir das Deine Eltern mitgegeben oder musstest Du das auch erst selbst erfahren?
Natürlich haben meine Eltern mir Vieles mitgegeben. Aber sie mussten auch 5.000 andere Kinder großziehen. Ich musste mich selbst beschäftigen. Und für die anderen Kinder war ich die privilegierte Domitila, die Tochter von den Eltern, die ein so wichtiges Hilfsprojekt gegründet haben. Ich habe gelernt, bei mir zu bleiben – auch wenn ganz viele Menschen um dich rum sind, die meinen, dich besser zu kennen als Du Dich selbst. Ich habe die Erfahrung gemacht: Je länger wir Zeit verlieren, es anderen recht zu machen und sie zu beeindrucken, desto länger leben wir ein Leben weit weg von dem, was eigentlich für uns gemeint ist und uns erfüllen kann.
Über die Person
Domitila Barros wurde in der brasilianischen Favela „Schusslinie“ (linha do tiro) geboren, in der mehr als 25.000 Menschen leben. Dort haben ihre Eltern vor mehr als 30 Jahren ein Straßenkinderprojekt gegründet, in dem auch sie aufgewachsen ist. Mit minimalen Mitteln große Erfolge zu erzielen, ist nur eine Eigenschaft, die sie in dieser Favela lernte. Domitila hat mit den unterschiedlichsten Menschen verhandelt – vom Bürgermeister bis zum Obdachlosen. Im Jahr 2000 wurde Domitila von der UN als „Millenium Dreamer“ ausgezeichnet und präsentierte ihre Vorschläge beim Millenium Dreamers Event vor der Uno-Kommission in den USA. So kam ihr der Gedanke, Motivatorin, Botschafterin unterschiedlicher Kulturen und Vortragsrednerin zu werden. Domitilas absolvierte einen Master in Politik- und Sozialwissenschaften an der Freien Universität in Berlin und arbeitet seit 2011 als Referentin, Motivationscoach und Beraterin für Unternehmen und Privatpersonen. Heute nutzt sie ihre Reichweite als Miss Germany 2022 und Greenfluencerin, um sich für das Thema Nachhaltigkeit, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit einzusetzen.
Dieser Artikel wurde uns von her-career.com zur Verfügung gestellt.