StartOpinionKennen Sie Annie?

Kennen Sie Annie?

Die neue Welt der Avatare ist faszinierend und verlockend. Warum wir Spaß am Experimentieren brauchen und trotzdem nicht nur die Künstliche Intelligenz, sondern auch unser soziales Miteinander trainieren sollten.

Annie ist da. Jedenfalls für diejenigen, die mindestens ein iPhone 12 haben. Annie möchte unsere „neue beste AI-Freundin“ sein. Immer verfügbar, immer freundlich. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen zusammengezuckt, als ich ihr Bild gesehen habe. Früh morgens schickte mir meine (echte) Freundin die Info zur neuen App „Call Annie“. Die rothaarige Frau sah für mich, ohne Brille, meinem eigenen Abbild auf den ersten Blick erstaunlich ähnlich. Sofort durchschoss mich die Befürchtung, dass jemand mit den Fotos, die ich kurz zuvor für die App profilepictures.ai hochgeladen hatte, ein neues Bild von mir generiert hat. Doch die leichte Ähnlichkeit ist rein zufällig.

Wir merken alle: Die heutige Zeit ist kompliziert. Immer neue Technologien, überlappende Krisen und Inflation – kein Wunder, dass viele  Menschen überfordert sind. Was liegt da vielleicht näher, als die Gesellschaft von Maschinen zu suchen, die ein Gespräch möglichst einfach machen? Die brav und (anscheinend) interessiert fragen, wie mein Tag war – was mein Umfeld im Alltagstrubel auch mal vergisst. Kostenlose Assistent:innen, die schnell eine Antwort auf fast alles haben. Denn Annie ist smart. Sie spricht fließend ChatGPT und reagiert zwar mechanisch, aber doch erstaunlich charmant und verbindlich auf alle Fragen. Sie kennt keine schlechte Laune, keine Tages- und Nachtzeiten, ist immer frisch gestylt und lächelt sanft.

Grafisch aufbereitete Avatare oder digitale Abbilder von uns selbst nehmen in unserem Alltag immer mehr Raum und neue Rollen ein. Das kann etwas „creepy“ sein, wie mit Annie und Co. Das kann jedoch auch einen echten Nutzen erfüllen. Wenn etwa im Web3 virtuelle Anproben für Kleidung on demand stattfinden können, um Ressourcen zu sparen. Oder wenn die Simax-Avatare des Wiener Anbieters Sign Time vorhandene Online-Inhalte für Gehörlose im virtuellen Raum sichtbar machen. Wenn mein digitaler Zwilling ein Meeting im Ausland für mich übernimmt oder Gesundheitsdaten besser denn je visualisiert werden können. Unternehmen können mit digitalen Identitäten ihr Marketing völlig neu denken, nicht nur im Metaverse. Seit einem Jahr stehen die vier „ABBAtare“ der schwedischen Erfolgsband in London auf der Bühne und begeistern ihr Publikum. Experimentieren lohnt sich also.

Den menschlichen Faktor sollten wir dabei trotzdem nicht aus dem Blick verlieren. Eine Flucht in virtuelle Räume macht mit klobigen VR-Headsets bislang nur wenig Spaß, doch das dürfte sich bald ändern, die Technologie macht auch bei der Hardware neue Sprünge. Der komplizierten Welt teilweise zu entfliehen ist wohl nur allzu menschlich. Aber wir sollten nie vergessen, dass das tägliche Miteinander eben anstrengend ist. Die kleinen und größeren Auseinandersetzungen im sozialen Gefüge brauchen tägliches Training. Die Belohnung ist dafür umso schöner: echte Emotionen von echten Menschen.


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