Carearbeit ist ein heiß diskutiertes Thema. Die Soziologin Maria Rerrich schrieb für Sheconomy eine Buchbesprechung über das heuer erschienene Werk „Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert“.
Text: Maria Rerrich
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der häufigste Indikator, um sich ein Bild über den Wohlstand und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes zu machen. Steigt das BIP, so bedeutet das, dass im Vergleich zum Vorjahr in der gleichen Zeit mehr oder wertvollere Waren und Dienstleistungen erzeugt wurden. Und das Wachstum des BIP gilt als zentrales Merkmal von gesellschaftlichem Wohlstand und Fortschritt, auch dann, wenn man auf manches verzichten könnte. Außen vor bleiben darin z.B. Aussagen über soziale oder ökologische Folgen: Die Reinigungsarbeit von Öl, das aus Frachtern ins Meer fließt, geht auch ins BIP ein.
Und die Arbeit der Hausfrau und Mutter kleiner Kinder? Oder des Rentners, der seine kranke Frau versorgt? Oder der Tochter, die ihren Beruf aufgibt, um den alten Vater zu pflegen? Tragen diese Arbeiten nicht zum Wohlstand der Gesellschaft bei? Wie können wir beurteilen, ob sie sich besser oder schlechter entwickeln? So genau weiß man das nicht, denn unbezahlte Sorge-Arbeit geht in der Erstellung von sogenannten Wohlstandsindikatoren wie dem BIP nicht ein.
Da stimmt doch irgendetwas nicht, sagen Ina Praetorius und Uta Maier-Gräwe. Industrie und Technik, so argumentieren die Autorinnen von „Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert“, bilden nicht etwa das Zentrum der Ökonomie. Im Gegenteil: Erst die nicht bezahlte Care-Arbeit in den privaten Haushalten bzw. die unterbezahlte Care-Arbeit in den typischen Frauenberufen wie Erzieherin oder Altenpflegerin halten die Gesellschaft am Laufen. Mehr noch: Sie stellen die Grundlage von Wirtschaft und Gesellschaft dar.
Nie wurde das so deutlich wie während der Pandemie. Auf vieles konnte man verzichten, nicht aber auf die Arbeit in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Und was geschieht, wenn Kitas schließen und die Kinder nicht in die Schulen gehen können – davon können alle inzwischen ein Lied singen.
Die Sozialethikerin und Gründerin des St. Gallener Think-Tanks ‚Wirtschaft ist Care‘ Dr. Ina Praetorius und die Hauswirtschaftswissenschaftlerin und Soziologin Prof. em. Dr. Uta Meier-Gräwe haben 61 kurze Texte zum Thema Care zusammengefasst, die meisten davon ursprünglich für ihre Kolumne in der deutschen Tageszeitung Handelsblatt entstanden. In dem gut leserlichen Band zeigen sie die vielen Zusammenhänge zwischen den an den Rand gedrängten Care-Bereichen der Ökonomie und den vermeintlich wichtigeren Sphären von Geld und Gewinn auf. Dabei werden auch Verbindungen zur Klimakrise und zu globalen Wirtschaftsprozessen herausgearbeitet. Verdeutlicht wird zum Beispiel der Zusammenhang davon, dass Produkte, die niemand braucht, im Überfluss hergestellt und dargeboten werden, während Familien verzweifelt nach einer verlässlichen Kinderbetreuung suchen. Oder dass der Pflegebereich seit Jahren unterbesetzt, unterfinanziert und überlastet ist und Pflegende – auch die unbezahlten in den Privathaushalten – an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geraten. Oder dass Frauen aus Polen oder Kroatien anreisen, um alte Menschen hierzulande rund um die Uhr zu betreuen und dabei Sorgelücken in ihren Heimatländern entstehen.
Die Autorinnen legen den Finger nicht nur darauf, was derzeit verkehrt läuft, sondern auch, wie es besser gehen könnte. Wie in einem Mosaik ergeben die einzelnen Textbausteine ein eindeutiges und überzeugendes Gesamtbild: Wir brauchen keine entfesselte Wirtschaft, keine Maßlosigkeit als Prinzip. Für ein gutes Leben in der Zukunft braucht es ein Umdenken. Nötig ist ein Wirtschaftssystem, das soziale und ökologische Einbettung von technischem Fortschritt anerkennt, Wohlstand als das Wohlergehen aller definiert und die Sorge füreinander in den Mittelpunkt stellt.
Mal distanziert, mal zornig, mal belustigt, auch mal verzweifelt, voller gesicherter Informationen und wissenschaftlicher Einsichten – die Autorinnen haben ein Buch geschrieben, das mit Gewinn zu lesen ist und nachdenklich macht. Ihm sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen, nicht zuletzt auf den Leitungsebenen von Wirtschaft und Politik.
Care und die Folgen: einige Zahlen
Von den insgesamt 4,1 Mio. pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden 80 Prozent zu Hause betreut. Zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind Frauen zwischen 45-60 Jahren. In Deutschland betreuen ungefähr 500 000 Frauen, oft aus Osteuropa, pflegebedürftige Menschen zu Hause. Diese Live-in-Carers arbeiten weit unter dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn, oft ohne Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten. Bundesweit fehlen in Deutschland heute bereits 200 000 Pflegekräfte in Einrichtungen und Pflegediensten. Bis 2050 werden 30 Prozent weniger potentielle Pflegepersonen bereitstehen. 83 Prozent aller Altenpflegekräfte und sieben von zehn Bewohner:innen in Alters- und Pflegeheimen sind Frauen. Die Mehrheit der 4,7 Mio. Menschen in Deutschland mit einem Minijob sind Frauen. Frauen erreichen im Durchschnitt zehn Beitragsjahre zur Rentenversicherung weniger als Männer. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland beziehen Frauen durchschnittlich etwa 40 Prozent weniger Rente als Männer. Während Männer mit minderjährigen Kindern in Deutschland zu fast 94 Prozent in Vollzeit arbeiten, sind es bei den Frauen 34 Prozent. Im Durchschnitt leisten sie 17 Stunden pro Woche Erwerbsarbeit. Gut ausgebildete, heute 35-jährige Mütter werden, wenn sich nichts ändert, ein durchschnittliches Lebenserwerbseinkommen erzielen, das 62 Prozent im Westen und im Osten 48 Prozent unter dem Lebenserwerbseinkommen der Väter liegen wird.
Alle Angaben aus: Ina Praetorius + Uta Meier-Gräwe (2023): Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert, Patmos Verlag, ISBN 978-3-8436-1441-2
Über die Rezensentin
Prof em. Dr. Maria S. Rerrich lehrte Soziologie an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München. Sie ist Mitbegründerin von Care.Macht.Mehr, einem Initiativkreis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die auf die aktuelle Care-Krise aufmerksam machen und mögliche Auswege aufzeigen.