Mit dem Mutterwerden wurde ich konfrontiert mit meiner tiefsten Angst und der Frage: Wer bin ich ohne meine Berufsidentität als „Woman in Tech“, die ich mir, wie viele andere Frauen, jahrelang durch mein Studium und hochdotierte Jobs in der Technologiebranche erarbeitet habe? Mit der Geburt unseres Sohnes hieß es für mich vom Vorstandsworkshop und der Bühne ab ins Wochenbett. Für mich war es eine große Herausforderung langsamer zu machen, auch wenn man meint, dass die Welt in diesen wenigen Jahren für immer an einem vorbeizieht.
Laut US-Schamforscherin Brené Brown gibt es zwei Top-Bereiche, für die Frauen besonders häufig Scham empfinden: Mutterschaft, für welchen Weg wir uns auch entscheiden, steht auf Platz zwei, dicht gefolgt vom eigenen Körperbild. Mutterschaft bedeutete für mich Frieden zu schließen mit beidem zur selben Zeit.
Mich selbst außerhalb der Überholspur der Leistungsgesellschaft und in der Mutterrolle wert zu schätzen, bedeutete für mich vor allem Frieden zu schließen mit meiner weiblichen Identität und meiner Intuition, die mir sagte, dass es nun wichtiger für mich ist, in die Ruhe zu gehen. Den Mut, diesen Schritt in die Ruhe zu gehen, auch wenn jede Zeitgeistlektüre zum Thema Unabhängigkeit und Altersarmut das Gegenteil empfiehlt, sehe ich nun als mein persönliches Empowerment.
Mutterwerden war eine Herausforderung für mein Ego, sie zeigte mir, dass es noch etwas mehr gibt, als mich selbst und schärfte somit besonders meine Fähigkeiten für Empathie und Resilienz. Mutter werden ist für mich eine Transformation, das Next Level, natürlich eingebaut in unserer Biologie.
Elternzeit als Tranformations-Booster
Für den gelungenen Weg dahin brauchte es zunächst viel Selbstreflektion. Unsere Partnerschaft funktioniert jetzt mit gesünderen Mustern. Dazu habe ich mir ein Unterstützungsnetzwerks aufgebaut, das vorher ganz anders aussah – vom Businessnetzwerk hin zu einer echten Gemeinschaft.
Für mich entpuppte sich die die zweijährige Elternzeit mit meinem Sohn als Transformations- und Inspirationsbooster. Sie machte mich vor allem geerdeter, stärker, schenkte mir eine neue Ausrichtung und eine neue Nähe zu meinem Mann.
Wie Vereinbarkeit im täglichen Leben für uns aussieht? Es ist ein stetiger Balanceakt mit unserem Sohn als Barometer für unsere Präsenz und Ausgeglichenheit als Familie. Und es ist eine tägliche Kommunikation und das Einfordern von Zeit für mich allein sowie gemeinsam als Familie und als Paar.
„Ich habe für mich realisiert, dass ich als Frau noch sehr viel Zeit habe. Ich muss nicht alles zur selben Zeit erreichen.“
Diese Phase hat bei mir eine neue Faszination für das Menschsein geweckt. Ich konnte auf einmal neue Verbindungen in der direkten Korrelation von Arbeit und Gesundheit sehen. Heute unterstütze ich Frauen dabei, mehr von ihrer weiblichen Identität in die Arbeit zu bringen, gesünder zu arbeiten und einfach das Beste aus ihrem Leben zu machen.
Natürliche weibliche Zyklen wie Menstruation, Geburt und Menopause sehe ich dabei als Treiber für diese persönliche Weiterentwicklung. Es wird Zeit, für neue Role-Models in der Wirtschaft – erfolgreich, weiblich und vor allem selbstbewusst in ihrer weiblichen Realität. Der Vorteil für die Unternehmen: ein nachhaltiges Female Empowerment, das an die tatsächlichen Bedürfnisse von Frauen angelehnt ist, gesundheitserhaltend ist und somit langfristig stabile Arbeitskulturen fördert. Fakt ist, dass neue Generationen bereits jetzt ganz anders an diese Themen herangehen und Unternehmen von morgen sich auf eine Welle von ganz neuen Bedürfnissen einstellen müssen.
Systemwandel voranbringen
Mir ist klar, dass mein Weg ein absolut privilegierter ist. Ich konnte mir die Zeit nehmen, mich selbst neu zu erfinden, wieder Fuß zu fassen, finanzielle Einbußen verkraften – das bekommen viele Frauen so nicht. Darum nutze ich nun meine Stimme und meine Arbeitskraft, um mit meinen Workshops wie „Frauen denken Arbeit neu“ in Unternehmen oder meinem Online-Kurs „Als Frau erfolgreich sein“ ein Umdenken und auch einen Systemwandel anzuschieben, der Raum lässt für weibliche Zyklen und weibliche Identität, wie auch immer diese sich für uns ausprägen.
Frauen, die selbstbewusst zu ihren natürlichen Zyklen stehen sich die Ruhe nehmen, wenn es nötig ist, sind für mich der Innbegriff einer Powerfrau. Es ist die Freiheit alles zu machen und sein zu können – und sich dennoch dafür zu entscheiden, eine bestimme Zeit im Leben „nur“ Mutter zu sein oder ein pflegebedürftiges Familienmitglied zu betreuen. Nicht als „Opfer des Systems“ oder des traditionellen Rollenbildes, sondern mit vollem Selbstbewusstsein und idealerweise mit finanzieller Absicherung. Hier haben wir systemisch noch viel zu tun.
Alissia Quaintance ist Coachin, Mutter und Speakerin für weibliche Kreativität, nachhaltige Produktivität und die Einführung zyklischen Denkens in menschzentrierten Organisationen der Zukunft. Mit ihrer Neugründung fokussiert sie sich auf die Rolle von Frauen in Organisationen und die Frage, welche neuen Normen es braucht, um Frauen in der Arbeitswelt und in Spitzenpositionen zu halten.