Die Energiewende birgt weltweit großes Potenzial: Derzeit gibt es mehr als zwölf Millionen Beschäftigte im Energiebereich. Bis 2050 muss sich diese Zahl vervielfachen, damit die Energiewende gelingt. Wo sehen Sie die Rolle der Frauen in diesem Ausblick?
Aktuell ist es leider oft Tatsache, dass der Blick auf Gleichberechtigung, Gender und Diversität erst am Schluss auf Überlegungen aufgesetzt wird. Das halte ich für viel zu spät, denn unterschiedliche Blickwinkel und Erfahrungen sowie Lebenswege müssen in sämtliche Überlegungen zur Energiewende eingebracht werden. Vielfalt ist für Innovation unglaublich wichtig. Allzu oft betonen wir, wie wichtig der technologische Aspekt ist. Der soziale wiegt genauso schwer.
Kann ein feministischer Blick auf die Energiewende etwas anstoßen?
Untersuchungen großer Beraterfirmen wie McKinsey zeigen, dass Unternehmen besser agieren, mehr Erfolg haben, nachhaltiger arbeiten und weniger in Rechtsstreitigkeiten involviert sind, wenn Frauen in der Führungsetage gut vertreten sind. Ich persönlich halte nichts von Geschlechterstereotypen wie „Frauen sind einfühlsamer“. Aber durch unterschiedliche Sozialisierungen von Frauen und Männern, wie sie beinahe überall auf der Welt stattfinden, entsteht eine wertvolle Vielfalt. Ich würde auf keinen Aspekt verzichten wollen. Wenn man dazu noch bedenkt, dass Energiewende und Digitalisierung eng zusammenhängen und Künstliche Intelligenzen eine Rolle spielen, dann dürfen diese nicht mit hauptsächlich männlich definierten Sichtweisen trainiert werden. Derzeit lenken Männer die Energiewende sowie Künstliche Intelligenz maßgeblich. In Algorithmen muss deshalb dringend weibliche Expertise einfließen, um gut die Hälfte der Bevölkerung gerecht zu repräsentieren!
In der österreichischen Energiebranche sind 24 Prozent der Beschäftigten weiblich, im Top-Management sind es nur zehn Prozent. Deutschlandweit liegt der Frauenanteil bei rund 16 Prozent, in der Führungsetage bei nur sechs Prozent. Ist die Energie kein Feld für Frauen?
Weil Frauen derart unterrepräsentiert sind in allen Energiesektoren – von Öl bis zu erneuerbaren Energien – habe ich ein Netzwerk mitbegründet. Wir sehen, dass Frauen immer noch zu selten technische Berufswege wählen, das sollte sich schnell ändern. Wenn wir mit der Energiewende Erfolg haben wollen, muss Platz für Frauen geschaffen werden. Dieser Wechsel ist mehr als von einem Schalter auf den anderen zu wechseln. Er wird nicht funktionieren, ohne dass gesellschaftliche Prozesse stattfinden. Dazu brauchen wir Frauen und Gruppen, die derzeit nicht in die Entscheidungen eingebunden sind.
„Wenn wir mit der Energiewende Erfolg haben wollen, muss Platz für Frauen geschaffen werden.“
Gehen wir zu Spezifischerem über: Karbon und Kupfer werden knapp. Beides ist für die Herstellung von Windturbinen notwendig. Das bremst den Ausbau erneuerbarer Energieträger für die Herstellung von grünem Wasserstoff und dämpft die Hoffnungen auf saubere Mobilität oder Industrie. China nutzt indes weißen, also natürlich vorkommenden, Wasserstoff bei Großprojekten. Ist das der Schlüssel zur Energiewende?
Akut hat Wasserstoff diese Schlüsselfunktion nicht, nein. Denn es braucht noch eine lange Zeit, um eine ausgedehnte Wasserstoff-Infrastruktur aufzubauen. Wenn wir die Pariser Klimaziele erreichen wollen, müssen wir jetzt handeln, und nicht erst, wenn wir diese und andere neue Technologien – so interessant sie sein mögen – vollumfänglich nutzen können. Essenziell ist, dass wir sofort alle vorhandenen Technologien zur Energiegewinnung heranziehen, die kommerziell wettbewerbsfähig sind, und dass wir nachfrageseitige Maßnahmen setzen. Wasserstoff mit erneuerbarer Energie zu erzeugen, hat ohne Frage enormes Potenzial für die Zukunft. Die internationale Zusammenarbeit ist vielversprechend, etliche Staaten und auch die EU selbst setzen darauf. Dennoch müssen wir jetzt hochnotwendige Maßnahmen ergreifen und diese mit vorhandenen Möglichkeiten schleunigst umsetzen.
Apropos umsetzen, der Hype um Elektromobilität war groß, aktuell geht er etwas zurück. Mit ein Grund dürfte sein, dass etwa in Deutschland die Förderung für die Anschaffung von E-Autos ausgelaufen ist. Welches Mindset braucht die Bevölkerung für eine gelingende Energiewende?
Das Mindset der Menschen ist wichtig. Doch damit dieses stimmig ist, müssen auch die Rahmenbedingungen angemessen sein. Kürzlich war ich bei einer Tagung der International Energy Agency und hörte sinngemäß diesen Gedanken: „Wir dürfen die Energiewende nicht als Bestrafung hinstellen, die die Menschen zu Verzicht und Einschränkung zwingt.“ Wir müssen sie als das darstellen, was sie ist – nämlich als Chance für ein Neuaufstellen einer Wirtschaft, die inklusiver und gerechter sein kann. In der es weniger Abhängigkeiten von unkontrollierbaren Mächten gibt, ob diese nun im Nahen Osten oder Russland sitzen. Das gefällt mir, denn wir haben heute die realistische Möglichkeit, neue Modelle der Kreislaufwirtschaft mit neuen Formen der Energie zu verbinden. Dazu müssen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger die Rahmenbedingungen so kommunizieren, dass die Energiewende als Chance erkannt wird.
Entlässt der Verweis auf das System Bürgerinnen und Bürger nicht aus ihrer Verantwortung?
Nein, denn auf das Verhalten jeder und jedes Einzelnen kommt es total an. Doch Kleinverbrauchern kann man nicht die Verantwortung für das Gelingen der Energiewende umhängen. Von den Bürgerinnen und Bürgern braucht es jeden einzelnen Tag verantwortungsvolle Konsumentscheidungen und eine Idee davon, wie sie ein gutes, faires Leben gestalten. Dafür müssen aber die Preissignale und Regelwerke von oben stimmen.
Sie selbst sind promovierte Juristin, haben Sprachen, Literatur und Theologie studiert. Wie wuchs Ihr Interesse an Energiewende, Energiepolitik und Energiewirtschaft?
In meiner Arbeit im Außenministerium hatte ich viel Gelegenheit, mich mit globalen Fragen und dem System der Vereinten Nationen auseinanderzusetzen. Die wirtschaftliche, soziale und die Umweltentwicklung waren brennende Themen. So habe ich mich immer mehr mit Nachhaltigkeit und internationaler Zusammenarbeit auseinandergesetzt; da hat die Energiewende eine Schlüsselrolle.
Haben Spiritualität und Glaube in der Energiediskussion Entscheidungskraft?
Durchaus, denn die Art und Weise, wie Menschen leben und was sie überhaupt als gutes Leben verstehen, hängt stark damit zusammen, was sie glauben. Papst Franziskus schreibt engagiert gegen die Klimakatastrophe an und betont die soziale Gerechtigkeit, die verwirklicht werden muss. Ja, Glaube und ethische Überzeugungen könnten helfen,
damit wir stärker in Richtung Energiewende kommen.
Wir müssen dabei zusehen, wie weltpolitische Ereignisse die Energiewende immer wieder in den Hintergrund drängen. Können wir uns derartige Verzögerungen noch leisten?
Nein. Wir bekommen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern immer wieder Updates, wie sehr die Auswirkungen der Klimakrise in der Natur spürbar sind. In Wahrheit sehen wir das ja alle selbst. Erinnern wir uns doch nur an die extremen Wetterereignisse des vergangenen Jahres auf der ganzen Welt. In Österreich haben wir den wärmsten Jänner der Messgeschichte und einen unglaublich milden Februar erlebt. Wir lesen über das mögliche Kippen des Golfstroms, weil sich Ozeane so stark erwärmen. Nein, wir haben keine Zeit zu verlieren. Klimastabilisierung gemäß dem Pariser Abkommen heißt, zur Mitte des Jahrhunderts global keine CO2-Emissionen mehr auszustoßen. Von Pfaden, die dorthin führen, sind wir heute meilenweit entfernt.
Zur Person:
Dr. Irene Giner-Reichl, Botschafterin a. D., ist promovierte Juristin und hat Master-Abschlüsse in Sprach-, Literatur- und Religionswissenschaften. Sie ist seit 1982 Mitglied des österreichischen diplomatischen Dienstes, der Fokus liegt auf wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, Frauenrechten, Umwelt, Energie und Entwicklungszusammenarbeit. Giner-Reichl war österreichische Botschafterin in der Volksrepublik China und der Mongolei (2012–2017) sowie in Brasilien und Surinam (2017–2021). 1999 gründete sie das Global Forum on Sustainable Energy (GFSE) für Dialoge über Energie im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung. Bis 2021 war sie Vizepräsidentin von REN21, Gründerin und Ehrenpräsidentin des Österreichischen Nationalkomitees für UN Women. Sie ist auch Mitbegründerin des Global Women‘s Network for the Energy Transition. Heute agiert sie unter anderem als Vorsitzende des Rates des Europäischen Forum Alpbach.