Sie sind seit vielen Jahren als Strategieberaterin für die Digitale Transformation von Organisationen unterwegs und haben mehrere Bücher dazu geschrieben. Wo stehen Unternehmen in Deutschland in der Digitalisierung?
Digitalisierungs- und Digitale Transformationsprojekte fokussieren sich nach wie vor meist auf die Prozesse, die notwendig sind, um eine neue Software, KI-Tools oder ein Ökosysteme über eine digitale Plattformen einzuführen. Das bekannte Prinzip „shit in, shit out“ begegnet uns dabei immer wieder, wenn man im Vorfeld die bestehenden Prozesse nicht gründlich analysiert und das „Wozu?“ kennt. Idealerweise löst die Einführung von Digitalisierung nicht nur ein operatives Problem, sondern zahlt auf Unternehmensziele wie Growth, Efficiency und Nachhaltigkeit iSv Planet, People, Profit ein. Häufig stellt sich bei der Analyse des Status Quo, auf deren Basis die Transformation zu radikalen Zukunftszenarien stattfinden soll, heraus, das die bekannten Organisationsstrukturen in Unternehmen nicht mehr passen. Und bei dem politischen Rechtsruck, der uns aktuell in Europa und der westlichen Welt begegnet, wird es vor allem in überregional agierenden Unternehmen schwieriger werden, den digitalen Wandel als Voraussetzung für profitable und menschenorientierte Nachhaltigkeit in der deutschen Wirtschaft zu nutzen.
Was heißt das konkret?
Viele Unternehmen – ob Mittelstand oder Konzern – sind derzeitig nicht dafür ausgelegt, sich im Ganzen langfristig und nachhaltig zu verändern, um marktfähig zu bleiben, obwohl es dringend nötig wäre. Viele Manager:innen sehen Digitalisierung noch immer als Projekt an, etwa, bei dem ein Spezialisten-Team neue Software einführt. Sie oftmals aus nachvollziehbaren Gründen nicht bereit, „dicke Bretter“ zu bohren, um Strukturen zu schaffen, die innovatives Wirtschaften ermöglichen. In einem Zeitalter, in dem auf Managementebene der Erfolg einzelner individuell verzielt ist und Führungskräfte auf demselben Hierarchielevel sich eher als Konkurrenten als Leadership-Team zum Wohle aller begreifen, ist es ein echter Kraftakt vom „Ich zum Wir“ zu gelangen. Es geht darum, das, was da ist und sich bewährt hat, ganzheitlich interdisziplinär und über alle Ebenen hinweg mit dem Neuem zu verknüpfen. Ich nenne das Prinzip “Connecting the dots“.
An welchen Stellen gibt es Korrekturbedarf?
Solange Boni und Incentives sowie Macht und Einfluss wichtiger sind als Zukunftsfähigkeit, wird sich wahrscheinlich nicht viel ändern. Auch die Einführung von OKRs ändert daran wenig, wenn nicht auf der ersten Führungsebene das große Ganze gesehen wird: Digitalisierung ist kein Selbstzweck und sollte die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, aus der Sicht aller Stakeholder mit Blick auf die ESG-Ziele (E wie Ecology, S wie Social und G wie Governance) optimieren.
Menschen, die in Systemen und mit Software arbeiten, fehlt oftmals der „Nordstern“, weil sie Prozessgetrieben funktionieren müssen. Sie tun das, was der Prozess ihnen vorschreibt, und nicht immer das, was für das Unternehmen sinnvoll wäre. Da in Konzernen oftmals auf Leadership-Ebene die Veränderungstreiber für eine langfristige Perspektive fehlen und Unternehmer:innen im Mittelstand oftmals überfordert sind von der Komplexität der Herausforderungen und dem notwendigen Tempo, sind digitale Transformationsprojekte leider häufig nicht mehr als Makulatur. Ein Ausweg wäre, die Verantwortung anders zu verteilen. Gremien wie Beiräte oder Aufsichtsräte sollten mehr in (digitale) Zukunftsprojekte eingebunden werden. Oder man vergibt die Verantwortung Interimsmanager:innen auf C-Level, weil unabhängiger von den Machtstrukturen agieren können.
„Finanzielle vorteile sind noch immer der größte Treiber“
Welche Vorteile bringt denn eine „echte“ Digitale Transformation?
Digitaler Wandel zieht sich optimalerweise durch die gesamte Organisation. Es geht darum, Flexibilität für die herausfordernde VUCA-Welt zu schaffen und auf neue Rahmenbedingungen schneller und resilienter reagieren zu können. Das müssen Unternehmen zwar sowieso schon tun. Doch die rasanten Entwicklungen auf dem Feld der KI und die neuen ESG-Anforderungen fordern ein noch konsequenteres Umdenken. Nur wer beispielsweise eine umfassende Datenstrategie hat, kann auf Entwicklungen wie KI oder ESG adäquat reagieren. Das Denken im Wir, das Teilen von Wissen und Transparenz, Experimentierfreudigkeit und eine echte Fehlerkultur – alles das gehört zu einer gelungenen Digitalisierungsstrategie und schafft neue Zugänge zu Ökosystemen, echten Innovationen und radikal neuen Geschäftsmodellen.
Wann funktioniert der Wandel aus Ihrer Sicht?
Finanzielle Vorteile sind immer noch der größte Treiber – sei es, dass man effizienter arbeitet, Kosten in der Wertschöpfungskette spart, durch neue Angebote mehr Umsatz und damit insgesamt einen größeren Gewinn für eine Organisation geben könnte. ESG-Studien belegen aber auch, dass Nachhaltigkeit Kosten spart, weil die Mitarbeitenden zufriedener und damit engagierter sind, die Markenbeliebtheit zunimmt oder Nachhaltigkeits-Risiken ausgeschlossen werden. Vor allem aber braucht es den Wandel hin zur „Kollektiven Intuition“ – die Gewissheit, dass die Gruppe den passenden Weg in die Zukunft kennt.
Ist es mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit für viele Unternehmen in Deutschland eigentlich schon zu spät?
Das lässt sich schwer sagen. Einerseits ist die Lage für einige Unternehmen noch nicht ausreichend bedrohlich, solange man die Zahlen noch schönreden kann. Andererseits sind wie Deutschen dafür bekannt, dass wir oftmals länger brauchen, die Themen dann aber gründlicher angehen. Das könnte ein Vorteil sein. Mit der schnell fortschreitenden Entwicklung der KI eigentlich schon im Jahrtausend der persönlichen Agenten und KI-getriebenen Vernetzung angekommen. Ich bin gespannt, wie lange wir Menschen noch unsere Leben selbst steuern werden.
Wie können Unternehmen starten, was sollten sie unbedingt tun?
Der Fisch stinkt meistens vom Kopf. Paul Pohlmann, der Ex-Unilever CEO, der sich als Vorreiter für Sustainability und Social Responsibility einen Namen gemacht hat, empfiehlt alle executive und non-executive Unternehmenslenker:innen, die den Stillstand verwalten, ihre Plätze zu räumen für jüngere und diversere Leader. Wenn das nicht möglich ist, empfiehlt es sich, Changemaker in allen Unternehmensbereichen und auf allen Hierachieebenen zu identifizieren und diese als Gruppe nachhaltig zu empowern, die notwendige Transformationen anzustoßen und auf Zeit zu steuern. Damit kommt die Bewegung in eine Organisation die notwendig ist, um in diesen turbulenten Zeiten zu bestehen.
Dazu gehören auf jeden Fall ein überzeugendes Storytelling und eine transparente Kommunikation, in der auch Verantwortliche zugeben dürfen, dass sie nicht genau wissen, ob das der richtige Weg ist, man aber jederzeit schnell nachjustieren oder gegensteuern kann. Das schafft Vertrauen, die Basis für mutiges Denken und Handeln. Nachhaltige Führung im digitalen Zeitalter fäng dort an, wo Machtspiele aufhören.
Connecting the dots – mit diesem Motto gestaltet die Geschäftsführende Gesellschafterin der Ahoi Innovationen GmbH als Strategieberaterin, Interimsmanagerin, Systemsicher Coach oder Beirätin Digitale Transformationsprozesse für Planet – People – Profit.
Christiane Brandes-Visbeck ist Beirätin bei dem Female Karrierenetzwerk Nushu, PCT Digital und Chapter-Lead Hamburg der Deutschen Digitalen Beiräte. Die ehemalige Bertelsmann-Medienmanagerin hat diverse Fachbücher und Artikel zu nachhaltiger Unternehmensführung und die Auswirkungen der Digitalisierung auf Organisationen verfasst, u.a. „Netzwerk schlägt Hierarchie. Neue Führung mit Digital Leadership“. Die Vordenkerin für Digital Leadership ist Top 99 HR-Influencerin sowie Impulsgeberin. Im Rahmen der Sheconomy-Medienpartnerschaft mit dem Hamburger „Face Club“ von Sören Bauer Events diskutierte sie kürzlich zum Thema Digitalisierung in einem hochkarätigem Panel des CEO-Dinners.