Ich möchte euch rastlose Kriegerinnen, Spurensucherinnen und Entscheidungsfinderinnen dazu aufrufen, in den nächsten Wochen euren Geist mit einer speziellen Übung zu schulen: Haltet nach Entweder-oder-Fragen Ausschau! Wenn euch eine begegnet, Obacht: Ihr seid im Begriff, in eine prähistorische, verrostete Falle zu tappen, die schon die uralten Jäger des Patriarchats ausgelegt haben. Sie ist gut getarnt, hat viele Gesichter und ist besonders gefährlich für Frauen. Denn die Mutter aller Entweder-oder-Fragen stellt sich ausschließlich uns, in Gestalt der eigenen Biografie: Kinder oder Karriere? Hoppla. Brutal, ne? Schon reingetappt …
Unsere Steinzeitgehirne sind evolutionär auf diese binäre Betriebssoftware programmiert „fight or flight“. Und die kategorische Vereinfachung der Welt in „Entweder-oder“ (also „black or white“, „Freund oder Feind“, „Mann oder Memme“, „us against them“) legt die Grundlage für straff organisierte, archaische Machtstrukturen, die jedem Menschen in der Gesellschaft einen Platz zuweisen.
Es ist also kein Zufall, dass Populisten dieses Denken forcieren und Diversität vor allem ignorieren. Donald Trump hat per Executive Order angeordnet, dass es in den USA künftig wieder nur zwei Geschlechter gibt; Die Algorithmen der großen Social-Media-Plattformen belohnen polarisierende Posts, die ins „Thumbs up oder Thumbs down“-Schema passen; Die Debattenkultur verkümmert zu „Klimakleber oder Klimaleugner“. Wir spalten uns immer mehr in Lager auf, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Komplexe Probleme werden auf griffige Gegensätze reduziert: „digital oder analog“, „Homeoffice oder Büro“ – als gäbe es nichts dazwischen. So kriegt man nicht nur Likes, so gewinnt man heute Wahlen.
Als leistungsbereite Vertreterin der Gen X bin ich angetreten – ehrgeizig und kämpferisch – zu beweisen, dass ein „Sowohl-als-auch“ möglich ist. Und habe mit diesem Kampf mein halbes Erwachsenenleben verbracht.
Diese binäre Denkfalle bedroht nämlich nicht nur unsere gesellschaftlichen Debatten – sie sabotiert vor allem auch unseren ganz persönlichen Erfolg. Ladies, seid also misstrauisch in Situationen, die euch vor eine Entweder-oder Entscheidung stellen. Dahinter steckt nichts anderes als ein Machtspiel! „Entweder ihr liefert bis Freitag, oder wir gehen zur Konkurrenz.“ – das dient dazu, künstlich Optionen zu verknappen, Druck aufzubauen, um eine Fehlentscheidung zu provozieren. Die Frage ist: Welche Optionen werden hier ausgeblendet? Und warum?
Am meisten hütet euch vor den Entweder-oder-Fallen, die ihr euch selbst stellt: „Entweder ich schaffe dieses Projekt, oder ich bin eine komplette Versagerin“; „Entweder ich kriege alles unter einen Hut, oder ich tauge nichts als Expertin/Mutter/Partnerin.“ Wir Frauen sind besonders anfällig für diese selbstzerstörerische Form des Denkens – perfektionistisch, selbstkritisch, ständig bereit, uns selbst zu demontieren und klein zu machen. Dabei übersehen wir das riesige Spektrum an Möglichkeiten dazwischen.
Lasst uns deshalb unbedingt das Denkgefängnis des „Entweder-oder“ sprengen. Lasst uns Ambiguitätstoleranz üben – die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit und Ungewissheit zu leben. Nicht alles braucht sofort eine Entscheidung, nicht jedes Problem eine perfekte Lösung. Es gibt einen Raum zwischen Schwarz und Weiß, der entdeckt und gestaltet werden will.
Über die Autorin:
Die Designerin Julia Peglow hat zwanzig Jahre für internationale Branding- und UX-Agenturen gearbeitet. Als Speakerin ist sie außerdem für Themen zur Digitaslierung bekannt und hat 2021 ihr Sachbuch „Wir Internetkinder – Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation“ (Hermann Schmidt) veröffentlicht.