StartMoneyInvestDie Aufsteigerin

Die Aufsteigerin

Gülsah Wilke ist in der deutschen Venture-Capital-Szene eine der wenigen Female Partners. Sie will nicht nur die Frauenquote, sondern die generelle Diversität in Risikokapitalgebern erhöhen. Im Interview erklärt sie, warum das der Gesellschaft hilft und wie sie selbst erst lernen musste, ihre türkische Abstammung nicht als Schwäche auszulegen.

Frau Wilke, Seit März 2024 sind Sie Partnerin bei der internationalen Risikokapitalgesellschaft DN Capital und Leiterin des deutschen Standorts in Berlin. Gratulation zu diesem Karriereschritt! Haben Sie sich schon eingelebt?

Gülsah Wilke: Ein neuer Job ist immer eine Herausforderung. Neues Team, neue Arbeitsweisen. Aber ich würde sagen: Ja, ich bin gut angekommen.

Bei Ihrem Antritt meinten Sie, Sie wollen als Investorin jene Gründer:innen ins Rampenlicht stellen, die noch nicht gesehen werden. Welche sind das?

Ich möchte Frauen, Menschen mit Migrationsvordergrund, sozialen Aufsteiger:innen helfen, den nächsten Schritt zu machen. Sei das mit Kapital von DN Capital, mit Mentoring bei der von mir mitgegründeten Plattform 2hearts für Gründer:innen mit Migrationsvordergrund oder mit Netzwerken wie dem Deutschen Start-up-Verband, wo ich im erweiterten Vorstand bin. Diese Menschen sollen ihre Talente, Potenziale und Unternehmen besser vorstellen können.

Haben Sie das Gefühl, dass Menschen mit „Migrationsvordergrund“, wie Sie es nennen, noch unterrepräsentiert sind?

Absolut. Zahlen zeigen ja auch, dass der Anteil weiblicher Gründer:innen mit Migrationsvordergrund nicht so hoch ist wie bei jenen Menschen, bei denen das Thema keine Rolle spielt. Mein Ziel habe ich dann erreicht, wenn unsere Start-up-Szene und deren Gründer:innen die Vielfalt unserer Gesellschaft wiedergeben: Jede zweite Person in Deutschland ist eine Frau, und jeder vierte Mensch hat einen Migrationsvordergrund. Bei den unter 20-Jährigen ist es jede dritte und bei den unter Zehnjährigen jede zweite Person.

Sie sagen ausdrücklich „Migrationsvordergrund“, und nicht „-hintergrund“. Wieso?

Ich finde, Hintergrund klingt so negativ, und Vordergrund klingt positiver. Das ist ja auch die Idee hinter der Initiative 2hearts, bei der Menschen mit Migrationsvordergrund Support fürs Gründen bekommen: Zwei Herzen, zwei Kulturen, zwei Perspektiven – all das ist eine große Bereicherung, nichts Negatives.

DN Capital ist ebenfalls sehr international aufgestellt, mit Mitarbeiter:innen aus den USA, Italien, Frankreich, Deutschland, dem Libanon und vielen Nationen mehr. Diversität wird zwar gerne als Kreativitäts-Booster propagiert – von alleine geht das jedoch nicht, wie Studien belegen. Es braucht ordentliche Leadership-Skills. Was bedeutet hohe Diversität für die Teamführung?

Das ist eine super Frage. Meine ersten Touchpoints mit einem sehr diversen Team hatte ich als COO beim Start-up Ada Health. Unter den insgesamt 350 Angestellten waren 55 Nationalitäten vertreten. Auch das gesamte C-Level-Leadership-Team war international aufgestellt. Das hat dazu geführt, dass gerade das Kennenlernen am Anfang – und in weiterer Folge natürlich auch die Entscheidungsfindung – länger gedauertmhaben, weil so viele unterschiedliche Perspektiven miteingeflossen sind. Aber diese unterschiedlichen Perspektivennführen schlussendlich auch zu besseren Entscheidungen. Wenn alle eine ähnliche Sichtweise haben, werden viele wichtige Entscheidungsfaktoren nicht berücksichtigt, weil sie gar nicht erst erkannt werden.

„Ich dachte früher immer, Leistung alleine reicht – egal, mit welchem Hintergrund. Aber das stimmt nicht.“

Wie verhält es sich bei DN Capital?

Als Frühphaseninvestor, der in junge Gründungsteams investiert, müssen wir unabhängig vom Hintergrund der Gründer:innen die besten und smartesten Ideen finden, die auch einen Impact für unsere Welt haben können. Dafür braucht man ein genauso diverses Investorenteam, das die Bandbreite an Innovation sowie Relevanz für die Welt und Standorte, an denen wir investieren, abschätzen kann. Entscheidungen brauchen also länger, sind aber reflektierter.

Nenad Marovac, einer der Gründer von DN Capital, ist selbst das Kind von Einwanderern, die in die USA emigriert sind. Macht das einen Unterschied in der Unternehmensführung?

Definitiv. Nenad hat einen kroatischen Background, und der zweite Gründer ist Amerikaner. Wir haben viele internationale Investor:innen bei uns im Team. Natürlich macht es einen Unterschied, wenn man einen Gründer hat, der selbst ein Migrantenkind war, um es mal so auf den Punkt zu bringen. Der hat eine ganz andere Offenheit in Bezug auf das Einstellen von diverseren Mitarbeiter:innen, aber auch das Investieren in Unternehmen und Gründer:innen, die genauso divers sind. Und da sind wir als DN Capital besonders stark.

Haben Sie Beispiele für diese Stärke?

DN Capital war der erste Venture Capital-Gesellschaft, die in die Musikerkennungssoftware Shazaam investiert hat; ein Start-up, das von einem sehr diversen Team gegründet wurde. Auch Auto1, das von einem türkischen Migranten mitgegründet wurde und heute an der Börse ist, wurde von DN Capital entdeckt.

Sie beschreiben selbst, dass man als Kind oder Enkelkind einer Migrantenfamilie ein offeneres Mindset hat. Wie würden Sie dieses im Business-Kontext beschreiben?

Man tritt anderen gegenüber einfach mit viel weniger Vorurteilen auf. Und das ist gerade in sehr kompetitiven Umfeldern wie in der Tech-Szene, bei Jobinterviews, aber vor allem bei der Kapitalvergabe sehr, sehr wichtig. Denn es entscheidet am Ende, welche Gründer:innen überhaupt zum Zug kommen, gehört oder gesehen werden und die Möglichkeit haben zu pitchen.

Man kann sich also besser auf die eigentliche Leistung konzentrieren?

Genau. Und das ist in der Investmentszene nicht selbstverständlich – und sonst im Übrigen auch nicht. Studien zeigen ja, dass Jobsuchende mit Migrationsvordergrund oder Frauen bessere Chancen auf eine Intervieweinladung haben, wenn Foto und Name abgeklebt sind und nur die Qualifikationen aufscheinen. Natürlich gibt es aber auch immer Biases, also unbewusste Vorurteile, wie eine Similarity Bias oder eine Gender Bias.

Die altbekannte Boys-Club-Story, dass weiße Männer am liebsten in weiße Männer investieren?

Zum Beispiel. Bei mir ist es umgekehrt. Ich favorisiere Frauen; eine Migrationsgeschichte bringt bei mir eher Plus- als Minuspunkte. Wichtig ist aber, dass wir Leadership-Positionen nicht immer mit denselben Personentypen besetzen, weil sonst eben immer derselbe Personentyp auch zu Geld, Erfolg und Einfluss kommt. Das spiegelt die Gesellschaft nicht wider. Genau da will ich aber hin.

Zu diesem Zweck haben Sie 2020 die Initiative 2hearts mitgegründet. Und sie sprechen sich für starke Netzwerke aus.

Genau. Ich dachte früher immer, Leistung alleine reicht – egal mit welchem Hintergrund. Aber das stimmt nicht. Bei Axel Springer habe ich gelernt: Es kommt auch drauf an, wer die oder der Lauteste ist, wer das beste Netzwerk hat, wer im Hintergrund am schlauesten taktiert. Deshalb habe ich das erste globale Frauennetzwerk bei Axel Springer aufgesetzt, um Frauen zu unterstützen, die beim Thema Karriere einfach anders aufgestellt sind als Männer; schüchterner, zurückhaltender. Und auch beim Gründen bringen Menschen mit Migrationsvordergrund nicht immer das Netzwerk mit, das es braucht, um aus einer Idee ein funktionierendes Geschäftsmodell zu machen. Nicht jeder bekommt die Gelegenheit, eine Idee mit den richtigen Menschen zu pitchen. Das machen wir bei 2hearts – wir stellen Gründerinnen und Gründern mit Migrationsvordergrund Mentorinnen, Netzwerk, Austauschmöglichkeiten zur Seite.

2hearts wurde sehr schnell zu einem riesigen Erfolg.

Ja, wir wurden in den ersten Monaten buchstäblich überrannt, der Bedarf war enorm. Heute teilen auf 2hearts Menschen mit Migrationsvordergrund ihre Erfahrungen, ihre Deals und Leads, unterstützen sich gegenseitig. Und das brauchen wir. Wir brauchen eine faire Reflexion der Gesellschaft in Führungspositionen und in aufstrebenden Start-ups.

Sie selbst sind das perfekte Beispiel für diese Art der Reflexion. Weibliche Besetzungen wie die Ihre als Partnerin bei DN Capital sind in der Investorenszene äußerst selten.

Ich hoffe natürlich, dass das in ein paar Jahren anders ist und dass jemand wie ich dann die Regel und nicht die Ausnahme in diesen Rollen ist. Aber ich stimme zu, aktuell ist es die Ausnahme.

„Ich hatte als Jugendliche nie Vorbilder, die so aussahen wie ich. Heute ist mein Ziel, selbst Vorbild zu werden.“

Sie haben es also, blöd gesagt, nicht geschafft, weil sie eine gut qualifizierte Frau mit Migrationshintergrund sind – sondern obwohl Sie all das sind. Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?

Ich glaube, es ist eine Aneinanderreihung und Verkettung von viel Arbeit, Glück, den richtigen Mentor:innen und einer gewissen Prise Ehrgeiz. Als Kind türkischer Eltern und Enkelkind türkischer Gastarbeiter hatte ich sicherlich keine einfachen Startchancen. Ich hatte Glück, dass meine Mutter sehr hinter meiner Erziehung und Ausbildung stand, sodass ich auch die richtigen Menschen getroffen habe.

Wie hat sich das geäußert?

Ich hatte Leute um mich, die mir helfen konnten, aufs Gymnasium zu kommen. Was ich alleine vielleicht nicht geschafft hätte, obwohl ich sehr gute Noten hatte. Der Lehrer meinte, ich gehöre so wie alle anderen türkischen Mitschüler auf die Hauptschule.

Im Gymnasium haben Sie aber mehr als reüssiert.

Ich habe mir gesagt: So, jetzt werde ich Gas geben, jetzt werde ich irgendwie eine Klasse überspringen, jetzt gehe ich auf die beste Uni. Dann hatte ich natürlich wieder Glück, denn ich bekam ein Vollstipendium der Vodafone Stiftung in einem Stipendiatenprogramm für hochbegabte Menschen mit Migrationsvordergrund. Das wurde genau in dem Jahr aufgesetzt, in dem ich entschied, zu studieren. Sonst hätte ich einen Kredit aufnehmen müssen.

Sie sagen, Vorbilder seien immens wichtig, erzählen aber, dass Sie selbst nie richtige Vorbilder hatten. Wie können Jugendliche mit Migrationshintergrund an das Thema Role Models herangehen?

Das ist besonders wichtig. Ich hatte als Jugendliche nie Vorbilder, die so aussahen wie ich. Es waren immer alte, weiße Männer. Aber Vorbilder sind ja universell. Für junge Menschen mit Migrationsvordergrund kann das ein Vorbild im Fußball sein wie Ilkay Gündoğan oder auch eine Angela Merkel, die als Frau die Weltbühne gerockt hat. Ob man sie jetzt mag oder nicht – wenn sie kam, standen die mächtigsten Männer der Welt aufrecht und still. Heute ist mein Ziel, selbst Vorbild für viele junge Menschen zu werden. Nach dem Motto „Be the person you needed when you were younger“. Ich will andere motivieren, ehrgeizig zu sein, sich zu trauen, in Industrien und Bereiche hineinzugehen, in denen man vermeintlich die Erste oder die Einzige ist.

Ihre Biografie liest sich wie ein durchgängiger, steiler Aufstieg. Gab es auch richtig schlimme Phasen der Verzweiflung und der Selbstzweifel in Ihrem Leben?

Ja, sicher. Auch ich zweifle manchmal an mir selbst. Auch, als ich auf diese Top-Privatuni kam oder die ersten guten Jobs bekam. Auf der Uni musste ich erst einmal lernen, wie ich mit superprivilegierten Unternehmer-Kindern umgehe, das war ein immenser Druck für mich. In meiner Karriere war ich dann oft die einzige Frau, eigentlich immer die einzige Frau mit Migrationshintergrund. Immer die Erste und die Einzige zu sein, das erfordert viel Kraft. Weil man – wenn auch nur implizit – mit Vorurteilen oder zumindest Vorbehalten konfrontiert wird und sich immer erstmal beweisen muss. Dieser Druck, den man am Anfang hat, ist richtig und wichtig, aber das kann auch echt ermüdend sein.

Was möchten Sie Jugendlichen mitgeben, die unter ähnlichen Voraussetzungen gestartet sind wie Sie?

Ich wurde zwischen zwei Welten geboren, und ich wurde hin- und hergerissen zwischen diesen zwei Welten, zwei Kulturen. Das hätte für mich leicht zu etwas Negativem werden können, als ob ich mich nirgendwo zuhause fühlte. Aber das genaue Gegenteil ist herausgekommen – es ist eine Stärke!


Zur Person:

Gülsah Wilke ist Gründerin, Investorin und seit März 2024 Partnerin des deutschen Venture Capitals DN Capital. Mit ihrer Plattform 2hearts will sie Menschen mit Migrationshintergrund helfen, selbst zu gründen. Sie hat türkischstämmige Eltern und bezeichnet sich als soziale Aufsteigerin. Wilke arbeitete für IBM, McKinsey, Axel Springer und Ada Health. Wilke ist 37 Jahre alt und hat zwei Kinder.

Fotomaterial(c) beigestellt

STAY CONNECTED