Es beginnt meistens harmlos: ein flaues Gefühl, Ziehen im Nacken „Ich weiß auch
nicht, was los ist…“ Willkommen in der Welt der somatischen Marker, erstmals
beschrieben vom Neurowissenschaftler Antonio Damasio. Körpersiegel, die sich
auf Erfahrungen stempeln und bei ähnlichen Situationen sagen „Das kennen wir!“:
blitzschnell, überlebenswichtig, nicht immer präzise. Ein minimaler Anstieg der
Herzfrequenz. Ein kaum merkliches Anspannen der Schultern. Ein warmes Gefühl
in der Brust oder eben jenes ungute Ziehen im Bauch. Viele nennen es Intuition
und meinen ihre verkörperte Vergangenheit.
Bauchgefühl ist kein Allheilmittel
Denn das mit dem Bauchgefühl ist so eine Sache… es ist eine Zusatzinformation,
kein Allheilmittel. Es ergänzt, aber ersetzt keine rationale Analyse. „Hör auf deinen
Körper“, heißt es doch in Ratgebern und Instagram-Posts. Doch was, wenn der
Körper eine Rückkopplungen aus alten Tagen überträgt? Wenn der Magen sich
zusammenzieht, weil er früher gelernt hat, dass Nähe gefährlich ist? Wenn die
Brust eng wird, weil Grenzen in der Kindheit oft übergangen wurden – und zwar
von jemandem mit genau diesem Gesichtsausdruck wie die neue Chefin. Die
vermeintliche Intuition ist unbemerktes Stress- oder sogar Trauma-Management.
Alte Prägungen, neue Situationen
Auch Neurodivergenz, Angststörungen oder chronischer Stress können
somatische Marker verzerren, wie bei Klient*innen auf dem AD(H)S-Spektrum, die
mit Ablehnungssensitivität kämpfen. Vermeintliche Kritik lässt bereits den Alarm
losschrillen. Und zwar nicht, weil wir fälschlicherweise denken, dass wir
angegriffen werden (das Denken ist dafür viel zu langsam). Wir fühlen nicht mal die
Frage, ob es ein Angriff ist. Wir fühlen ausschließlich und unmittelbar den Angriff,
dass wir mal wieder „nicht richtig“ waren. In Studien in funktionellen MRTs sogar
bei Gesichtsausdrücken von Menschen, die bloß im Begriff sind zu niesen.
Harmlos und doch so furchtbar in dem Moment. So wie auch körperliche
Beschwerden es sind.
„Das bildest du dir ein“, hört man manchmal, wenn Menschen mit Schmerzen
keine Diagnose bekommen. Etwa so empathisch wie: „Du frierst ja nur, weil dir kalt
ist.“ Die moderne Neurowissenschaft weiß längst: Psyche und Soma sind kein
Gegensatz, sie sind ein Stromkreis. Kein Gedanke entsteht ohne neuronale
Aktivität. Kein Gefühl bleibt ohne hormonelles Echo. Kein Muskeltonus verändert
sich ohne Bedeutung. Psychosomatik ist kein „Kopf macht Körper krank“, sondern
ein lebendiges Netzwerk wechselseitiger Beeinflussung. Das Nervensystem hat die
Funktion der Neurozeption – und scannt im Millisekundentakt: Ist hier Sicherheit?
Kann ich vertrauen? Und wenn nicht, dann macht es eben zu. Mit Fluchtreflex.
Oder Tinnitus, Reizdarm, Hautausschlag. Funktioniert evolutionär betrachtet exakt,
wie es soll.
Wenn Emotionen durch den Körper sprechen
Viele Klient*innen in meiner Praxis kommen mit einer Angst vor der Angst. „Wenn
ich das spüre, dann…“ ja, was eigentlich? Dann ist da ein altes Gefühl, das damals
zu groß war. Und das jetzt durch die Hintertür kommt: als Migräne, Verspannung,
Nebel im Kopf. Die Sprache des Körpers sind Empfindungen. Kein Feind, sondern
ein Bote, der einen Übersetzer braucht. Nicht jeder Schmerz verlangt Behandlung.
Nicht jedes „Ich hab’s im Kreuz“ ist orthopädisch. Vielleicht ein emotionaler Druck,
der sich in die Lendenwirbelsäule setzt, weil da für die Person das Thema
(fehlender) „Rückhalt“ wohnt. Klingt esoterisch, ist aber Neurobiologie. Und
Polyvagaltheorie, funktionale Medizin, Faszienforschung, Embodiment –
Neurowissenschaft in Alltagskleidung.
Drei Beispiele aus dem echten Leben:
- Die Managerin, die jedes Mal Migräne bekommt, wenn sie eine neue Rolle
annehmen soll. Die Rolle ist nicht das Problem. Der Glaubenssatz „Ich darf nicht
größer sein als mein Bruder“, ist es. - Der Vater, der seit dem Tod seines Kindes Rückenschmerzen hat, die kein
Orthopäde erklären kann. Weil sich Trauer nicht in MRTs zeigt, aber sehr wohl im
Iliosakralgelenk. - Die Gründerin, die regelmäßig Durchfall bekommt vor wichtigen Terminen. Nicht
weil ihr Körper versagt. Sondern weil ihr Nervensystem gelernt hat, dass Aktivität
schnell gefährlich werden kann – und daher präventiv entleert, um fluchtbereit zu
sein.
Kleiner Selbsttest: Wie gut kannst du deinen Herzschlag spüren, ohne den Puls zu
tasten? Kannst du wahrnehmen, ob dein Magen leer oder voll ist, ohne auf die Uhr
zu schauen? Nimmst du Unterschiede wahr zwischen dem rechten und dem linken
Fuß? Wann bzw. wie schnell fällt dir auf, dass sich die Atmung verändert hat?
Und als Mini-Übung für die nächste Entscheidung: Stell dir alle Parameter des
Szenarios genau vor: wann, wo, mit konkreten Bildern und möglichst vielen
Sinnesmodalitäten. Und dann sag innerlich Nein dazu. Wie war das? Und wie war
es mit einem Ja?
Menschen mit guter Interozeption (dazu mehr im Teil) sind nachweislich
empathischer, treffen bessere Entscheidungen, reduzieren cardiovaskuläre Risiken
und leiden seltener unter Angststörungen. Sie spüren früher, wenn etwas nicht
stimmt, und können entsprechend handeln. In einer Studie ließen Forscher
Probanden ein Kartenspiel spielen. Es gab zwei Stapel – einer brachte langfristig
Verluste, der andere Gewinne. Die Teilnehmer*innen wussten das nicht. Aber: Nach nur
40 Karten zeigten Hautleitfähigkeitsmessungen bereits Stressreaktionen beim
„schlechten“ Stapel. Bewusst erkannten die Probanden das Muster erst nach 80
Karten.
Nonverbal fühlen lernen, was viele Jahre unterdrückt wurde, und das dann sogar
noch aushalten können. Die Wahrnehmung schulen und Unterscheidungsfähigkeit
stärken – wirklich wütend oder doch eher traurig vor Enttäuschung? Wo sitzen
Ärger, Angst oder Freude? Und wie genau wohnen sie in uns: Ein Ziehen, Pochen,
Spannen? Ist da Hitze, ist es taub oder kribbelt was? Erst was ich genau genug
kenne, kann ich präzise verändern und verbessern. Autoimmunerkrankte, die von
integrativer Psychotherapie und Sensomotorik so profitieren, dass sie ihre
Medikation halbieren. Chronische Schmerzpatient*innen, deren größte Linderung
das Gespräch mit den Eltern war. Oder einst hochfunktional Depressive, die leisten
und durchziehen, weil loslassen noch viel schlimmer war als jede innere Leere.
Und die ihre Depression als den Schutz annehmen, der er ist. Zwangsschongang,
so lang, bis man sich selbst so sehr mag, dass man sich Ruhe und Zuneigung
gönnt.
Symptombekämpfung wie Säureblocker, Schmerzmittel, Muskelrelaxanz nehmen
uns den Blick auf den Ursprung. Wenn die Schultern ständig hochgezogen sind:
Wo bin ich in Alarmbereitschaft? Wenn der Kiefer verspannt: Was bleibt womöglich
besser ungesagt? Wenn die Verdauung verrückt spielt: Was liegt mir schwer im
Magen? Das heißt nicht, dass jedes körperliche Symptom rein psychosomatisch
ist. Aber die moderne Medizin zeigt mehr und mehr, dass unbewusste Konflikte,
verdrängte Bedürfnisse, notwendige Veränderungen über kurz oder lang zu Leiden
führen.
Der Körper als Frühwarnsystem
Frauen haben eine größere Offenheit ihrem Körper und der Psychologie
gegenüber. Trotzdem passiert uns im Business oft dasselbe wie Männern: Wir
lernen, Signale zu ignorieren, hart zu sein, cool zu spielen. Professionalität wird ein
Stummschalten des Körpers. Nicht nur ungesund, sondern auch nicht klug, denn
somatische Marker sind ein hochpräziser Radar für:
- Vertrauenswürdigkeit von Geschäftspartner*innen
- Stimmungen im Team (lange bevor sie explodieren)
- Die eigene Überforderung (bevor der Burnout zuschlägt)
- Marktchancen, die sich „richtig anfühlen“
- Entscheidungen, die langfristig Erfolg versprechen
Wir leben in einer Kopf-dominierten Arbeitswelt. Zahlen, Daten, Fakten – das zählt.
Der Körper? Störfaktor. „Sei rational!“ „Lass Emotionen außen vor!“ „Entscheide
faktenbasiert!“ Alles richtig und wichtig. Und dazu: knallharte Neurowissenschaft.
Nichts Anderes sind somatische Marker, messbare Veränderungen in
Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit, Hormonausschüttung, Muskelspannung, Atmung
und mehr. Nichts Mystisches, nur ein hochkomplexes biologisches System, das
Millionen Jahre der Evolution optimiert haben. Wer diese Signale nutzt, wird nicht
„unrationaler“ – sondern erweitert die Entscheidungsbasis um eine zusätzliche,
wertvolle Informationsquelle.
Körperintelligenz trainieren
Was also tun: regelmäßige Körperscans als Meditation. Achtsamkeitsübungen, die
Sinne aktivieren und an stressigen Tagen den Körper bewusst mit ins Boot holen.
Sich bewegen, die Gliedmaßen abklopfen (wieviel Druck und welches Tempo ist
angenehm?, Atemübungen, Bewegung ohne Leistungsdruck. Insbesondere, wenn
wir denken, dass wir uns nicht danach fühlen.
Zur Autorin:
Julia Rathjen arbeitet in privater, traumasensibler Praxis in Berlin und online an Symptomen von Burnout und ADHS. Bei www.athinline.berlin liegt der Fokus auf Stress, Selbstzweifeln und -sabotage, unliebsamen Coping-Mechanismen und emotionaler Belastung. Sie berät außerdem Unternehmen, Verbände und Start-ups zur Frage, wie wir in uns selbst, im Team, in Arbeitsabläufen, Identität und Organisationskultur zu mehr Gesundheit und Potentialentfaltung gelangen. Für gehirngerechten Change und effiziente, radikal menschliche Führung.
Weiterlesen:
Teil 1 unserer Serie zum Thema Stresskompetenz: Reguliert ist das neue Resilient