StartErfolgKarriereZwischen Job und Pflege: Was passiert, wenn Fürsorge Alltag wird

Zwischen Job und Pflege: Was passiert, wenn Fürsorge Alltag wird

Pflege trifft mitten ins Leben – und meist Frauen. Autorin und Markenstrategin Christina Käßhöfer beschreibt in ihrem neuen Buch „Plötzlich Pflege“, wie sie Verantwortung, Beruf und Selbstfürsorge unter einen Hut bringen musste – und warum Care-Arbeit zu einer der größten gesellschaftlichen Herausforderung unserer Zeit wird.

Wenn Pflege Realität wird, geschieht das selten geplant – meist mitten im Leben, zwischen Meetings, Familienalltag und eigenen Zukunftsplänen. Plötzlich gilt es, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und den Alltag neu zu organisieren. Die Managerin und Markenstrategin Christina Käßhöfer kennt diese Situation aus eigener Erfahrung: Über 15 Jahre pflegte sie ihren an Parkinson erkrankten Vater – eine Zeit, die sie geprägt und schließlich zu ihrem Buch „Plötzlich Pflege“ inspiriert hat.

Christina Käßhöfer: Plötzlich Pflege – Das Buch, das Sie lesen sollten, wenn Ihre Liebsten Sie brauchen. Knaur Verlag, 18,00 € (D)

Darin erzählt sie nicht nur von einer persönlichen Ausnahmesituation, sondern legt zugleich den Finger in die Wunde eines Systems, das ohne das stille Engagement von Millionen Angehörigen längst kollabieren würde. Während die geburtenstarken Jahrgänge dem Ruhestand entgegensehen, fehlen schon heute hunderttausende Pflegekräfte. Die unbezahlte Sorgearbeit – zu 72 Prozent von Frauen getragen – droht zur größten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderung der nächsten Jahrzehnte zu werden.

Gewinnspiel

Wir verlosen 3 Exemplare von „Plötzlich Pflege“. Einfach eine E-Mail an gewinnspiele@sheconomy.media mit dem Betreff „Plötzlich Pflege“ schicken. Teilnahmeschluss ist der 17. November.

Im Interview spricht Christina Käßhöfer über die Überforderung pflegender Angehöriger, die Illusion eines funktionierenden Pflegesystems und warum Selbstfürsorge kein Luxus, sondern Überlebensstrategie ist.

Frau Käßhöfer, was war Ihr persönlicher Auslöser, „Plötzlich Pflege“ zu schreiben, und welche Lücke wollen Sie in der öffentlichen Debatte schließen?

Ich habe begonnen, das Schicksal meines Vaters, das er über 15 Jahre mit viel Würde getragen hat, und unsere Achterbahnfahrt als Familie durch ein chaotisches Pflegesystem aufzuschreiben, damit das, was ihm widerfahren ist, für mich einen Sinn hat. Und zugleich ist mir beim Schreiben bewusst geworden, dass mein Buch für andere Familien das sein könnte, was mir all die Jahre fehlte – wertvolle Orientierung, eine Stütze, um sich nicht alleine zu fühlen und gute Entscheidungen zu treffen, sowie ein Mutmacher, sich zu öffnen und Hilfe zuzulassen.

Das Buch ist ein mutmachender Wegweiser, eine Werkzeugkiste aus Sicht einer Angehörigen, prall gefüllt mit persönlichen Erfahrungen, Gedankenanregungen und den wichtigsten Informationen rund um Pflege und Selbstfürsorge. Ich wünsche mir, dass es Licht in ein undurchsichtiges Pflegedickicht für all diejenigen bringt, die mit Anträgen, eigenen Sorgen und der Verantwortung für einen geliebten Menschen gefordert sind, wenn Pflege Realität wird.

In Richtung Politik: Mein Erfahrungsbericht zeigt ehrlich und ungeschönt, wo wir heute stehen in der häuslichen Pflege, wie pflegende Angehörige für eine gute Versorgung kämpfen müssen und was gute Pflege ausmacht – Professionalität, Empathie und Erinnerungsarbeit.

Warum ist Ihr Buch und die Auseinandersetzung mit Pflege gerade jetzt so wichtig?

Dank medizinischer Forschung und einer besseren gesundheitlichen Aufklärung steigt die Lebenserwartung wieder. Damit auch die Wahrscheinlichkeit, mit zunehmendem Alter pflegebedürftig zu werden. Die wenigsten Menschen, die in der Mitte des Lebens stehen, machen sich darüber Gedanken, wenn sie nicht von Pflege familiär betroffen sind. Die Versorgungslücke durch fehlende Pflegefachkräfte wird immer größer. Zugleich setzen politische Lösungen – soweit ich es beurteilen kann – oft an der falschen Stelle an. Millionen von Angehörigen fangen die jahrelange Misswirtschaft und fehlenden Investitionen in ein stabiles Gesundheits- und Pflegesystem auf, zu Lasten ihrer eigenen Gesundheit.

In Plötzlich Pflege und im meinem Podcast Heal2Care thematisiere ich, wie wichtig es ist, frühzeitig mit den eigenen Eltern oder dem Partner zu besprechen: Was wünschst du dir, wenn Pflege Realität wird? Wer soll lebenswichtige Entscheidungen treffen, wenn du es selbst nicht mehr kannst? Wer kann in der Familie bei der Versorgung unterstützen? Diese Gespräche, die mit Sensibilität und gegenseitiger Rücksichtnahme nicht nur einmal, sondern öfters geführt werden sollten, sind schwierig. Scham und der Wunsch nach Verdrängung schwingen oft mit, auf beiden Seiten. Und zugleich bieten diese wichtigen Dialoge eine Chance, um frühzeitig gemeinsam gute Vorkehrungen für einen geliebten Menschen zu treffen, ohne sich als Angehöriger dabei selbst zu verlieren.

Warum sind vor allem Frauen betroffen – und welche Mechanismen halten dieses Muster am Leben?

Über 5 Millionen Angehörige, 72 Prozent davon sind Frauen, sind das unsichtbare Rückgrat des deutschen Pflegesystems und versorgen, oft über Jahre, als Partnerinnen, Töchter oder nahe Bezugspersonen einen oder sogar mehrere Herzensmenschen. Oft unsichtbar, oft Anerkennung. Krankheit, soziale Isolation, große finanzielle Sorgen – das kennen viele pflegende Angehörige. Das beschäftigt mich sehr. Die Frage, warum ich die Verantwortung für das Wohlergehen meines Vaters mit übernommen habe, erschien mir all die Jahre zweitrangig. Ich habe als Einzelkind einfach funktioniert, es entspricht meinem Selbstverständnis.

So geht es vielen Frauen, wie ich aus Gesprächen weiß. Geleitet durch
eigene Glaubenssätze, familiäre Prägung und gesellschaftlichen Druck funktionieren Frauen einfach und das bis zur Erschöpfung und zu Lasten sozialer Bindungen und Schlaf. Wenn es darum geht, die Arbeitszeit zu reduzieren (da Pflege und ein Vollzeitjob schwer vereinbart sind), sind es zumeist Frauen, die auf Teilzeit reduzieren oder gar ihren Job aufgeben. Und der Staat und die Pflegeversicherung nimmt diese Aufopferung dankend an.

Mein Appell deshalb: Professionelle und private Pflege muss gemeinsam gedacht werden und die Anerkennung erhalten, auch finanziell, die sie verdient. Eines ist leider Fakt: Wir müssen uns von dem Gedanken an ein funktionierendes Pflegesystem ebenso schnell verabschieden, wie von einem Ritter in Rüstung, der kommt und uns erlöst. Wir sind auf uns allein gestellt und gefordert, gute Lösungen für die gesamte Sorgegemeinschaft zu finden, nicht nur für die pflegebedürftige Person.

Wie lassen sich Job und Pflege realistisch balancieren – was sind Ihre Top-Tipps?

In der Pflege besteht oft ein Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen, zwischen physischer Nähe und Raum für sich. Berufstätigkeit, persönliche Verpflichtungen, Familie und eigene Bedürfnisse bestehen ja weiter, wenn wir einen anderen Menschen mittragen. Ein anstrengender Drahtseilakt also, für den es kein Patentrezept gibt. Ich habe vieles zurückgestellt, um für meinen Vater und meine Mutter da zu sein, vor allem in den letzten beiden Jahren. Meine Selbstständigkeit gab mir eine gewisse Freiheit. Gerade in diesem Jahr habe ich das Wohlergehen meines Vaters über mein berufliches Engagement gestellt, zu Lasten meiner finanziellen Rücklagen.

Viele Familien sind nicht in der Lage, auf Einkommen zu verzichten, haben einen Beruf z.B. im Einzelhandel oder Schichtarbeit, bei dem sie nicht bestimmen können, wann sie arbeiten, während ihre Liebsten sie zuhause dringend brauchen. Im Buch teile ich eine Vielzahl von wichtigen Informationen rund um Vereinbarkeit, wie die gesetzlich verankerte Pflegezeit und Familienpflegezeit, zu Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, zu Renten- und Sozialversicherung oder Anlaufstellen für Angehörige. Am Ende gibt es nicht die eine perfekte Lösung, solange wir als Gemeinschaft Pflegezeit nicht als Alltagsrealität von Millionen von Menschen anerkennen und Raum dafür schaffen.

Folgende persönlichen Empfehlungen für Frauen sind mir wichtig, die Beruf und Pflegearbeit jonglieren:

  • Wir dürfen akzeptieren, dass wir nicht alle Krisen von unseren Liebsten abwenden können und alles alleine auffangen können.
  • Es ist wichtig, die Pflegesituation in der Familie, im privaten Umfeld und im Arbeitsumfeld zu thematisieren und zu besprechen, wie diese neue Alltagsrealität und Beruf gestemmt werden können.
  • Starten Sie frühzeitig, ein gutes Beziehungs- und Sorgenetzwerk aufzubauen – sei es
    Alltagsbegleiter, Notrufsystem, mobile Pflegedienste oder Tagespflegeeinrichtungen (können zum Teil über Pflegeleistungen und Entlastungsbeitrag gegenfinanziert werden) – Sie werden Entlastung brauchen. Und: Gute Pflege zu finden, benötigt Zeit und genaues Hinsehen.
  • Denken Sie auch an sich. Selbstfürsorge bei Pflegenden ist kein Luxus, sondern
    Notwendigkeit. Wir können andere nur ein Stück des Weges mittragen, wenn wir selbst
    genügend Kraft haben.

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Fotomaterial(c) Mike Meyer

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