Seit dreißig Jahren kommen sie auf den Karmelitermarkt, erzählt uns ein älteres Ehepaar aus der Nachbarschaft. Jeden Samstag. Früher sind sie immer bei der russischen Bäckerin stehen geblieben, „die mit dem besten Striezel von ganz Wien“. Im selben Lokal, in dem es damals nach Germteig und Zucker duftete, befindet sich heute die erste Wiener Tofu-Manufaktur mit warmem, dampfendem Tofu – und zeigt, wie sich Markt, Grätzel und Essgewohnheiten verändern. Vom Tofu erfahren habe das Paar aus dem Fernsehen. „Gegessen haben wir ihn davor noch nie“, sagen sie. Inzwischen kommen sie öfter vorbei und holen sich das Tofu-Tatar als Brotaufstrich zum Sonntagsfrühstück.
Ein Marktstand, der schneller voll wurde als gedacht
Als Elisabeth Hakel und ihr Team im Frühsommer 2025 den Marktstand umbauten, war der Plan eigentlich: erst einmal in Ruhe fertig werden, dann eröffnet man „richtig“. Das Marktamt sah das etwas pragmatischer: 48 Stunden nach Abschluss des Umbaus musste aufgesperrt werden. „Wir hatten noch nicht alle Verpackungen, vieles war provisorisch“, erzählt Hakel. „Aber dann haben wir gesagt: Egal, wir sperren jetzt auf und schauen, was passiert.“
In der ersten Woche passierte noch wenig. Ein paar Postings auf Instagram, ein paar Neugierige. „In der zweiten Woche ist es dann explodiert“, sagt sie. Über den Sommer wurden sie überrannt. Statt in Ruhe nachzujustieren, wurde produziert, was die Maschine hergibt. Im September folgte die offizielle Eröffnung. „Wir haben gedacht: Vielleicht ist es ein Sommerhype“, sagt Hakel. „Aber auch im Herbst ist es stark weitergegangen – das freut uns extrem.“
Schon jetzt gibt es Anfragen aus dem Handel. Noch können sie diese Mengen nicht bedienen – die Manufaktur ist als Marktstand bewusst klein gedacht. „Wir haben tausende Ideen, kommen aber kaum nach, das alles umzusetzen“, sagt Hakel. Für 2026 ist eine größere Produktionsstätte in Wien geplant, dann soll Tofu aus dem Karmeliterviertel schrittweise auch im Handel ankommen.
Wie aus China-Erinnerungen ein Marktstand in Wien wurde

Die Idee zur Manufaktur begann mit Gesprächen übers Essen. Hakel probiert auf einer Chinareise zum ersten Mal Seidentofu – weich, warm, duftend, mit dem, was man in Österreich lange als Tofu kannte, kaum vergleichbar. Als sie in Liwei Suns Lokal auf der Taborstraße saß, erzählte sie ihm von diesem Geschmackserlebnis. Er begann spontan zu kochen, verschiedene Varianten aufzutischen. „Da hab ich mir gedacht: Wenn Tofu so schmecken kann, warum gibt es das in Wien nicht?“, erzählt sie. Sun wiederum verbindet Tofu mit seiner Kindheit in China – mit Marktfahrern, die frühmorgens Tofublöcke in Tüchern auf die Stände legen, mit deren Dampf und Duft.
Aus diesen Gesprächen entstand ein Plan. Aus dem Plan wurde ein Unternehmen. Heute sind es vier Gründer*innen: Elisabeth Hakel, Biru Yu, Lhamo Enshe und Liwei Sun. Zwei Jahre lang wurde neben Jobs und Familien vorbereitet, gerechnet, beantragt, gebaut. „Wenn man so etwas macht, muss es von Anfang an durchdacht sein“, sagt Hakel. „Wir sind alle Mitte 40 plus, wir können nicht einfach sagen: Wir leben jetzt zwei Jahre von Luft und Liebe und schauen, was passiert.“
Frisch statt abgepackt
Wer hinter die Glasfront der Manufaktur blickt, sieht eher eine kleine Schaukäserei als ein klassisches Imbisslokal: Edelstahl, weiße Fliesen, eine Maschine aus China, die die Sojabohnen mahlt. Der Unterschied zum Supermarkt-Tofu ist für Hakel schnell erklärt: „Bei uns liegt der Tofu nicht wochenlang im Regal. Wir produzieren hier am Stand, verkaufen direkt danach.“ Im Tofu stecken Wiener Wasser, Magnesium und Bio-Sojabohnen – sonst nichts.

Die Bohnen kommen aus Österreich, bevorzugt aus Niederösterreich. „Wir nennen uns Wiener Tofu“, sagt Hakel, „da müssen die Wege kurz sein.“ Aktuell suche das Team nach einem biozertifizierten Sojabohnen-Betrieb direkt in Wien.
Beim Thema Verpackung standen sie vor einem Dilemma: Flüssige Saucen, Seidentofu, eingelegte Würfel – das braucht dichte Verpackungen. „Wir haben alles Mögliche getestet. Am Ende ist es eine wiederverwendbare Kunststoffverpackung geworden, die man im Geschirrspüler waschen kann“, erzählt sie. Kund*innen können die Boxen zurückbringen, das Team setzt auf Kreislauf statt Wegwerfmentalität.
Raus aus der „Ökoecke“
Tofu hat hierzulande ein Imageproblem: blass, gummiartig, „irgendwas für Veganer*innen“. Genau da wollten Hakel und ihr Team ansetzen. Und: „Die Leute kaufen als erstes mit den Augen“, fügt sie hinzu. „Du kannst den besten Tofu der Welt machen – wenn die Verpackung nach nichts aussieht, bleibt er im Regal.“

Also investieren sie viel in Branding und Gestaltung: klare Logo-Sprache, reduzierte Farben, ein cleaner Look, der eher an Specialty Coffee als an Reformhaus erinnert. Beim Brand Design wurden sie von Emanuela Sarac und Sigi Mayer (AnotherStudio/Halle34) unterstützt, die sie – wie Hakel sagt – „sehr gefordert, aber in die richtige Richtung geschubst“ haben.
Das Team positioniert Tofu nicht als Ersatzprodukt, sondern als eigene Kategorie. Auf der wöchentlich wechselnden Karte stehen rein pflanzliche Gerichte wie Seidentofu-Suppe oder knuspriger Tofu in Kokos Curry Soße neben einem Fleischgericht, so wie in China Tofu, Fleisch, Fisch und Gemüse selbstverständlich nebeneinander auf dem Tisch stehen. „Viele unserer Gäste essen Fleisch, aber nicht jeden Tag“, sagt Hakel. „Für diese Tage wollen wir eine lustvolle Alternative sein, nicht der erhobene Zeigefinger.“
Gründen zwischen Förderung und Formalismus
Hinter dem frischen, leichten Auftritt steckt harte Arbeit. Ein wichtiger Baustein im Businessplan ist die Förderung der Wirtschaftsagentur Wien, inklusive Frauenbonus. „Der Antrag war viel Arbeit – ich habe im Urlaub jeden Morgen zwei Stunden daran geschrieben, bevor meine Familie munter war“, erzählt sie. Mitten in der Planungsphase kam die Zusage. Fremdfinanzierung konnten sie damit vermeiden, die Investitionen bleiben in der eigenen Hand.
Herausfordernd seien vor allem die langen Behördenwege und die enge Regulierung. Dazu komme das Thema Personal: Für die Küche suchen sie chinesische Köch*innen, die das Handwerk und den Geschmack aus erster Hand kennen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen seien hier eng – von Kontingenten für Arbeitsvisa bis zu eingeschränkten Jobmöglichkeiten für Studierende. Gleichzeitig seien Lohn- und Lohnnebenkosten hoch, was schnelle Teamaufstockungen schwierig machen. Die Konsequenz: „Wir stehen selbst viel im Lokal“, sagt Hakel. „Neben unseren anderen Jobs. Das ist anstrengend – aber im Moment der einzige Weg, das so zu machen, wie wir es wollen.“

Und die Kund*innen? Alle.
Wer ins Lokal kommt, ist schwer auf eine Zielgruppe zu reduzieren: junge Menschen mit Stofftasche und Coffee-to-go, Familien mit Kindern, Tourist*innen – und eben auch pensionierte Marktbesucher*innen, die seit Jahrzehnten in der Nachbarschaft einkaufen.
Spannend wird es immer dann, wenn Medien berichten: Nach einem TV-Beitrag im öffentlich-rechtlichen am Nachmittag seien vor allem ältere Menschen gekommen. „Viele sagen: Wir haben noch nie Tofu gegessen, aber wir wollen es jetzt probieren.“ Nicht wenige wurden zu regelmäßigen Gästen – so wie das ältere Ehepaar, das früher bei der russischen Bäckerin eingekauft hat und heute Tofu zum Mitnehmen bestellt.
Tofu zu Weihnachten
Kurz vor Weihnachten wird es voll am Karmelitermarkt. Zwischen Lebkuchenduft, Punsch und Christbäumen gibt es nun auch Tofu. Wie lässt sich dieser ins Festmenü integrieren? Mit großer Geste brauche es das gar nicht, findet Liwei Sun. Er empfiehlt dicke, angebratene Tofuscheiben, übergossen mit der hausgemachten Mischung aus Sojasauce und Kürbiskernöl – eine Brücke zwischen steirischem Kernöl und chinesischer Sojabohne, die erstaunlich gut zu klassisch-österreichischen Beilagen passt. „Unsere Kürbiskernöl-Sojasauce ist ein richtiger Tofu-Bekehrer“, sagt Hakel und lacht. „Viele Skeptiker probieren damit zum ersten Mal unseren Tofu – und plötzlich haben sie ein Lächeln im Gesicht.“
Vielleicht holen sich heuer also nicht nur das ältere Ehepaar, sondern noch ein paar mehr Marktbesucher*innen ihren Tofu fürs Weihnachtsmenü genau hier – in dem Lokal, in dem früher Striezel gebacken wurde und heute die Zukunft einer klimafreundlichen Proteinquelle im Grätzel ankommt.