„Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird“ lautet der Titel des neuen Buchs von Wolf Lotter. Darin feiert der Publizist Diversität, verstanden als Vielfalt individueller Eigenschaften und Bedürfnisse. Wenn Menschen diese leben können – so seine These – entsteht eine gerechtere Welt, die Selbstverwirklichung ermöglicht. Wolf Lotter im Interview.
Dieser Artikel erschien am 20. April 2022 auf her-career.com.
Wolf, Dein neues Buch handelt davon, was einen Unterschied macht: unsere persönliche Individualität. Was hat das mit Diversity zu tun?
Das sehe ich im Kontext des Wandels von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Die alte Industriegesellschaft war eine Massengesellschaft, die auf Quantität baut. Doch wenn die Konsumgesellschaft gesättigt ist von immer mehr des Gleichen, entsteht ein Gap in Sachen Qualität. Dann kommen die persönlichen Bedürfnisse heraus. Ich bin ein Anhänger der Maslowschen Bedürfnispyramide: Wenn die Existenz gesichert ist und wir soziale Bedürfnisse befriedigt haben, wird das Persönliche wichtiger. Dann kommt man in die Welle rein, in der wir heute sind: Die Leute wollen nicht mehr nur einen Job und Geld, sondern Respekt und Anerkennung ihrer Persönlichkeit. Diversität ist nichts anderes als diese Vielfalt individueller Eigenschaften und Bedürfnisse.
Warum steht aus Deiner Sicht in der Diversity-Debatte das Thema Geschlechtergerechtigkeit häufig im Fokus?
Dass wir Vielfalt als Frauen-Thema sehen, liegt daran, dass hier die Bedürfnisse am größten sind. Frauen sind diejenigen, die benachteiligt wurden in der Arbeitswelt, für die die Arbeitsmodelle nicht entwickelt sind und die Karrierewege nicht gemacht wurden. Wer als Frau ein Kind hat, ist sofort draußen. Doch es braucht nicht nur diese Diversity des Feminismus. Gender Diversity oder Rassismusfragen sind nur der Door Opener für eine größere Diskussion: um die Kenntlichmachung der Menschen in dieser Vielfalt. Diversität ist eine ökonomische und gesellschaftliche Ressource zur Problemlösung.
Inwiefern löst Diversität Probleme?
Es geht um Respekt und Anerkennung, die kriege ich als Person. Diversity erkennt meine Probleme an – und zwar nicht nur meine, sondern auch meinesgleichen in Schattierungen. Das ist der Zauber der Diversität: Sie bewirkt, dass Unterschiede nicht mehr negativ konnotiert sind wie früher in der Klassengesellschaft. Da waren oben die Mächtigen und die Erben der Mächtigen und unten die Armen bis hinunter zum Lumpenproletariat.
Eine derartige Klassengesellschaft gilt als ungerecht, da sie viel damit zu tun hat, in welche „Klasse“ wir zufällig hineingeboren werden. Wie wird daraus durch Vielfalt dann Gerechtigkeit?
In der Klassengesellschaft sind Chancengleichheit, Gleichheit vor dem Gesetz und gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit wichtige Forderungen. Natürlich sollten wir alle gleich behandelt werden. Aber wenn ich eine Gleichheit fordere, die die Gleichförmigkeit von Arbeit und persönlichen Bedürfnissen im Detail beinhaltet, dann bin ich falsch gewickelt. Das ist sozusagen die Umkehr und Pervertierung eines Gleichheitsgedankens. Deshalb sage ich: Gleiches gleich, Ungleiches ungleich.
Du sagst, Diversität sei dem Wesen nach nichts anderes als Einzelgerechtigkeit. Was meinst du mit Einzelgerechtigkeit genau?
Auch da greift wieder der Maslow. Nach der vierten Ebene der Bedürfnispyramide – da geht es um Respekt und Anerkennung – kommt die fünfte: Selbstverwirklichung. Einzelgerechtigkeit ist also nicht nur das, was ich selber möchte für meine Person. Obwohl das schon das Wichtigste ist, dass man selbst ein erfülltes Leben hat. Einzelgerechtigkeit bedeutet aber auch, dass ich das, was ich gern und richtig tue, was ich kann, wofür ich talentiert bin und was meinen Lebensumständen entspricht – dass ich das selbst wählen kann. Das ist Selbstverwirklichung, wenn man sich derart entfalten kann und sich selbst gerecht wird. Das wird gern verwechselt mit Selbstoptimierung. Das ist eine andere Geschichte, die mit der Selfie-Kultur zu tun hat: Ich möchte anderen gefallen. Aber die Selbstverwirklichung möchte nur einem selbst gefallen.
Wer das super verstanden hat, war einer meiner Freunde und langjährigen Wegbegleiter: Frithjof Bergmann, der Begründer von New Work. Er sagte, es komme drauf an, was wir wirklich wirklich wollen. Das ist die eigentliche Anstrengung der Selbstverwirklichung. Nicht anderen hinterherlaufen, sondern sich eigene Gedanken machen, wo man einen Unterschied macht. Das ist der Übergang vom kollektiven zum individuellen Menschen. Und der läuft nicht reibungslos und nicht auf Knopfdruck. Wir erleben jetzt einen Zwischenschritt: Altes Denken, aber neue Ansprüche. Und das ist kompliziert.
Es sind ja nicht nur Denkweisen aus dem Industriezeitalter heute immer noch verbreitet, sondern auch die Strukturen. Müsste man nicht daran etwas verändern?
Ja absolut. Aber zunächst müssen wir verstehen, wo das alles herkommt. Wir denken immer noch wie die alten Griechen im Hellenismus, nämlich universalistisch, also einheitlich. Da kann es nur Gut und Böse geben, Entweder-oder und kein Sowohl-als-Auch, es gibt nichts dazwischen, keine Schattierungen. Schublade auf und Schublade zu. Unterschiede sind dann negativ konnotiert, weil ich immer nur die Abweichung vom Mainstream sehe. Deutschland ist ein Kind der deutschen Fabrikgesellschaft, die schon immer die Kleinstaaterei beklagt. Das heißt letztlich, dass man immer so sein muss wie die anderen. Diese Einheitskultur ist hierzulande omnipräsent. Was nicht passt, wird passend gemacht – der Spruch bringt es so wunderbar auf den Punkt. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass alle gleich sein müssen.
Differenz ist dann ein Mittel der Ausgrenzung. Warum können wir Unterschiede nicht inklusiv denken?
Das ist die Kernfrage. Grenzen können Unterschiede sichtbar machen oder ausgrenzen. Lasse ich jemand über eine Grenze oder nicht. Wir haben in Organisationen aber einige Instrumente, die eher Konformität fördern anstatt Unterschiedlichkeit erkennbar zu machen. Das Benchmarking zum Beispiel. Die Idee dabei ist, so zu tun, als ob man etwas anderes beobachtet, aber nur, um sich anzupassen. Das ist der alte Trick. Das ist in der Mode übrigens auch ähnlich. Die Mode tut ja so, als ob sie individuell ist, wenn man etwas bestimmtes anzieht. Aber tatsächlich ist man uniform. Man macht mit. Wähnt sich aber anders. Es ist ein Distinktionsmerkmal und es ist andererseits aber auch das Mitmach-Ding. Sehr oft versuchen wir durch bewusste Abgrenzung erkennbar zu sein und trotzdem mit zu tun. Wenn man sich diese Dialektik bewusster macht, passieren zwar keine Wunder, aber dann ist schon etwas getan.
Dein Ansatz ist also, dass sich durch Erkenntnis und Verständnis etwas ändert. Reicht das? Werden wir nicht auch neue Regeln wie die Quote brauchen, um Diversity zu fördern?
Ich habe es schon immer für einen Fehler gehalten, Feminismus so zu verstehen, dass Frauen nun die Organisationen übernehmen, die Männer gebaut haben. Das ist ein struktureller Irrtum. Das sorgt nur dafür, dass sich Frauen so benehmen wie Männer, es geht gar nicht anders. Dann stehen nicht mehr die Männer morgens um 7 Uhr auf, gehen dynamisch ins Amt, rufen fleißig Tschaka und fallen spätabends ins Bett, sondern die Frauen tun das. Das ist kein Fortschritt. Das ist ein falsch verstandenes Egalisierungsthema. Was bringt es, wenn wir Frauen in Führungsrollen bringen, aber die Führungsrollen nicht okay sind?
Wenn Frauen die Macht haben, könnten sie etwas verändern…
Aber doch nicht allein dadurch, dass sie die Macht haben. Es geht nicht darum, dass die Macht den Besitzer wechselt. Dann setzte ich eine Kandidatin statt eines Kandidaten auf die Liste, die macht auch, was wir sagen. Sieht aber besser aus. Das reicht mir nicht! 50 Prozent Frauen, die konformistisch sind, statt 50 Prozent konformistischer Männer. Das ist zwar eine Form von Gerechtigkeit, aber eine unzulängliche. Mir wäre es lieber, dass wir Führungskräfte haben, die unabhängig denken und sich nicht adaptieren. Dann ist mir ihr Geschlecht wurscht. Wir sollten die Systeme nicht mehr weiter so betreiben wie bisher, sondern uns fragen, was wir an hierarchischen Ideen noch mitschleppen. Vielleicht brauchen wir eine Quote, aber eine durchdachte.
Wie könnte eine durchdachte Quote aussehen?
Die Frage ist, wer bildet die Quote inhaltlich aus und wer macht die Kultur. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat erkannt, dass die gebildeten und wohlhabenderen Kreise feine Codierungen haben, die andere ausschließen. Ich bin ein Österreicher in Deutschland und habe sofort gemerkt, es gibt so viele Dinge, wo Du Dein Lebtag ausgeschlossen bist, weil Du die Codes nicht beherrschst. Das ist die eigentliche gläserne Decke, die Menschen mit Migrationshintergrund oder aus bestimmten sozialen Schichten täglich erleben. Auch wenn alle eine Welcome Party veranstalten, das sind stahlharte Gehäuse. Die einzige Antwort, die ich darauf habe: Eigene Organisation und Netzwerke gründen, denn alles andere funktioniert nicht. Die lassen dich nicht ran.
Eine Netzwerkorganisation beschreibst Du in Deinem Buch so, dass Menschen dabei frei und unabhängig kooperieren. Inwiefern erlebst du denn heute tatsächlich solche Netzwerke?
In Unternehmen sind sie selten. Aber es gibt schon immer mehr Leute, gerade im Management, die Transformation ernst genug nehmen, weil sie wissen, dass ihr Geschäft auf dem Spiel steht. Es geht darum zu lernen, wie man so zusammenarbeitet, dass alle etwas davon haben. Das ist das Prinzip der Genossenschaft. Frauen und Männer, die sich bewusst sind, was sie tun und die frei agieren können als Teil eines Ganzen. Dabei gehören sie nicht mehr der Firma, sondern sie gehören sich selbst.
Viele Arbeitgeber schreiben sich Diversität auf die Fahnen. Woran kann man erkennen, ob das nur Gerede ist oder tatsächlich was dahintersteckt?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass da, wo am meisten über Diversität geredet wird, am wenigsten los ist. Das ist wie beim Greenwashing: Firmen wiederholen ständig, wie nachhaltig und umweltbewusst sie sind und wie viele Nachhaltigkeitsprogramme sie haben. Greenwashing ist inzwischen ein Teil der Compliance geworden: Man hat ein eigenes Regelwerk und setzt ein Häkchen dran. Dafür braucht es dann Millionen von Workshops und Palaver, es verändert sich aber nichts. Genauso ist es mit dem Changewashing, das ist gerade sehr populär. Echte Transformation ist nämlich sehr anstrengend. Man darf das Alte nicht gleich ganz lassen und muss gleichzeitig das Neue vorantreiben. Das ist eine Doppelanstrengung, die wir seit Jahren schludern lassen.
Sobald wir uns in der Gruppe bewegen, tun wir uns schwer mit anderen Meinungen und neigen dazu, uns anzupassen. Du sprichts von „Vereindeutigungsinstituten“. Was ist daran schlecht, wenn Menschen gemeinsam Klarheit schaffen, durch Regeln beispielweise?
Regeln sind überhaupt nicht schlecht, nur die alten Regeln sind schlecht. Die Homogenisierung und der Gruppendruck nutzen den Mächten, denn dann ist alles viel übersichtlicher. Das Fürchterliche ist, dafür braucht es gar keine Regeln und Gesetze, das funktioniert ganz von alleine. Sehr viele Unterdrückungsmechanismen müssen gar nicht angewandt werden. Die wirklich harten Dinge sind die, über die wir nie reden, weil wir sie für normal halten. Die Art und Weise, wie wir miteinander reden und was wir nicht ansprechen. Das ist das Infame an einer Kultur und an einer sogenannten Normalität, dass sie als Dogma funktioniert, wie der Philosoph Slavoj Žižek sagt. Das ist wie eine Wand, die niemand wahrnimmt. Diese hintergründige Erwartungshaltung, die wir in vorauseilendem Gehorsam erfüllen, indem wir uns anpassen. Darum müssen wir Regeln definieren, die diese Normalität entnormalisiert. Es geht darum, die alte Normalität zu verlernen und ernsthaft die Frage zu stellen, was Kooperation ist und wozu sie dient. Wir sollten die Gleichförmigkeit der Duracell-Häschen nicht als Kooperation missverstehen. Nur wenn wir selbstbestimmt und selbstbewusst sind, sind wir in der Lage, wirklich zu kooperieren. Dann machen Regeln Sinn, wenn die Zusammenarbeit von Menschen in bestimmten Projekten sehr genau definiert wird.
Wie müssen Regeln formuliert sein, damit sie Diversität fördern?
Neue Regeln sorgen dafür, dass es Grundlagen gibt, zum Beispiel soziale Absicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung, die Basics in Form eines Grundeinkommens. Das dürfen keine Almosen sein. Es geht um materielle Autonomie, von da aus können wir dann frei operieren, weil wir dem Druck und der Existenzangst entgehen. Das wäre eine politische Zäsur, weil das hieße, dass die, die viel haben, denen, die wenig haben, etwas abgeben müssen. Nicht im Sinne eines neuen Kommunismus, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass wir diese Entwicklungsfreiheit brauchen.
Was ist mit denjenigen, die sich gar nicht persönlich entwickeln möchten?
Dazu sollten wir niemand zwingen. Es wird heute viel zu oft Solidarität und Empathie geheuchelt – zum Beispiel mit dieser Phrase, dass man „jemand abholen“ muss. Das ist eine Machtparole. Letztlich ist das nur ein Ausdruck eines Menschenbildes, das sagt, ihr seid unmündig und ihr kriegt es nicht hin. Glaubt bloß nicht, ihr könnt euch allein entwickeln. Und zu viele Menschen haben das verinnerlicht und trauen sich das nicht zu. Weil sie es nie probiert haben. Deshalb muss man mit solchen Parolen schonungslos umgehen, viel radikaler als wir das heute tun. Wir müssen solches Denken klar benennen.
Die herCAREER versteht sich als Netzwerk für Menschen, die Frauen beruflich unterstützen möchten. Ist es eine gute Idee, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun oder nur eine weitere Form von Vereinheitlichung und Abgrenzung?
Natürlich ist das eine gute Idee! Ich betone zwar die Aufgabe, dass wir uns unseres Selbst bewusster werden. Aber das selbstbestimmte Individuum ist keine Insel, sondern sucht Kooperation. Ein starkes Ich macht ein starkes Wir. In Netzwerken geht es um Solidarität bei der Durchsetzung von Transformation – sei es beim Lohn oder bei den Möglichkeiten von flexiblem Arbeiten oder Homeoffice. Gemeinsam können wir lernen zu verstehen, worum es bei der Transformation geht. Ohnmacht und Angst sind die schlimmsten Feinde der Emanzipation. Deswegen ist Aufklärung und gegenseitige Unterstützung so wichtig. Ein Netzwerk, in dem man gemeinsam Probleme angreift, das ist sehr gut. Es darf nur nicht bei der Definition der gemeinsamen Probleme stehen bleiben. Man muss sie auch auf den Tisch legen und sie anpacken, damit sich etwas verbessert.
Wie gut gelingt es Dir selbst, Unterschiede anzuerkennen und nicht in die Vereinheitlichungsfalle zu tappen?
Auch mir fällt das nicht immer leicht. Die Muster der Gleichmacherei stecken so tief in uns. Wir haben das von klein auf gelernt und wo immer wir hingehen und hinschauen, ist diese Kultur wiederzuerkennen. Dass wir uns das immer wieder klarmachen – mit nüchternen und nicht mit emotionalen Augen wie Karl Marx sagt – das ist harte Arbeit. Aber sich dafür anzustrengen, das ist nicht so schlecht.
Am 06. und 07. Oktober 2022 kommt Wolf Lotter mit seinem neuen Buch „Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird“ auf die Karrieremesse herCAREER-Expo und stellt im Authors-Meetup seine Thesen zum Thema Diversität vor.
Über Wolf Lotter
Wolf Lotter (geboren 1962 in Mürzzuschlag/Österreich) ist Autor und Journalist mit dem Schwerpunkt Transformation und Innovation. Seine publizistische Karriere begann der Österreicher in Wien, wo er für verschiedene Wirtschaftsmagazine schrieb. Er ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins „brand eins“, für das er seit 2000 die Leitartikel zu den Schwerpunktthemen verantwortet. Seit vielen Jahren ist der Wirtschaftsessayist auch als Keynote Speaker in Unternehmen, Ministerien, Verbänden, politischen Parteien und Stiftungen unterwegs. Wolf Lotter gilt als einer der Vordenker, wenn es um die Entwicklung der Industriegesellschaft hin zu einer Wissensgesellschaft geht. Diese Thematik zieht sich wie ein roter Faden durch zahlreiche seiner Bücher: Zuletzt erschien nach „Innovation“ (2018), „Zusammenhänge“ (2020) und „Strengt euch an!“ (2021) am 11. April das Buch „Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird“ bei Edition Körber.