Frau Klarén, welche Herausforderungen sehen Sie derzeit als die wichtigsten für den Erfolg der Mobilitätswende an?
Fredrika Klarén: Wir haben vor einigen Monaten einen Bericht veröffentlicht, in dem drei sehr große Herausforderungen, aber auch Potenziale und tatsächliche Möglichkeiten für die Automobilindustrie aufgezeigt wurden, sich rechtzeitig auf die Klimakrise einzustellen. Der Bericht heißt Pathway Report. Darin konnten Rivian und Polestar zusammen mit dem Klimaberater Kearney das verbleibende Kohlenstoffbudget für die Automobilindustrie aufzeigen. Es liegt bei etwa 80 Gigatonnen, wenn wir die Zahlen für 2020 betrachten. Damit wir als Industrie wirklich zum 1,5-Grad-Ziel beitragen können, dürfen wir also nur 80 Gigatonnen CO2 ausstoßen. Wir sind aber auf dem besten Weg, 140 Gigatonnen auszustoßen. So wie es jetzt läuft, werden wir das gesamte Budget bis 2035 verbraucht haben. Die große Herausforderung, um auf Ihre Frage zurückzukommen, besteht also darin, unsere Strategien neu zu entwerfen. Denn wir sind nicht auf einem Weg, bei dem der Elektromobilität jene Wichtigkeit zukommt, die sie als Klimalösung haben sollte.
Was muss passieren, damit das Kohlenstoffbudget nicht überschritten wird?
Wir müssen uns auf drei Dinge konzentrieren. Erstens, der Umstieg auf den ausschließlichen Verkauf von Elektrofahrzeugen – und zwar noch in diesem Jahrzehnt. Bis 2032 sollten wir also weltweit keine Autos mit fossilen Brennstoffen mehr verkaufen, damit wir unser Kohlenstoffbudget nicht überschreiten. Zweitens müssen wir sicherstellen, dass die Energienetze und die Ladeinfrastruktur bis 2033 ausschließlich mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Drittens und letztens müssen wir die Art und Weise, wie wir Autos produzieren, dekarbonisieren. Bis 2032 müssen wir die Emissionen aus den Lieferketten der Automobilindustrie um mehr als 80 Prozent senken. Wir bei Polestar haben das Gefühl, dass wir in einer Branche arbeiten, die sehr fragmentiert ist und in der eine sehr isolierte Denkweise vorherrscht. In der Automobilbranche sind es viele nicht gewohnt, zusammenzuarbeiten und dieselben Dinge zu sehen. Mit dem Pathway Report wollten wir Daten präsentieren, auf Basis derer wir zusammenarbeiten können.
Ich möchte auch die Herausforderung ansprechen, dass es sich um eine sehr homogene Industrie handelt. Ich habe früher in der Modebranche gearbeitet, die war sehr vielfältig. Beispielsweise war ich einem Unternehmen tätig, in dem mehr als 90 % der Führungskräfte Frauen waren. Man könnte sagen, dass wir in diesem Unternehmen andere Herausforderungen hatten, nämlich Männer an den Tisch zu bekommen. Diese fehlende Diversität ist auch für die Automobilindustrie eine echte Challenge. Sie behindert den schnelleren Übergang zu einer nachhaltigen Elektromobilität. Weil wir zu homogen sind, und nicht die richtigen Entscheidungen auf der Grundlage eines vielfältigen Wissens und vielfältiger Perspektiven treffen. Deshalb ist auch das eine zentrale Herausforderung für uns.
In Deutschland zum Beispiel sind rund 18 Prozent der Beschäftigten in der Automobilbranche weiblich, in Österreich sieht es ähnlich aus. Sie sind ja in Schweden zuhause. In vielen Angelegenheiten sind skandinavische Länder Vorreiter. Können Sie uns mehr über die Diversität der Automobilbranche in Schweden erzählen?
In Schweden haben wir nur zwei Automobilunternehmen, und es sind im Wesentlichen jene Automobilunternehmen, die weltweit eine wirklich fortschrittliche Agenda in Bezug auf die Vielfalt verfolgen. Bei Polestar ist heute mehr als ein Viertel der Belegschaft weiblich. Wir liegen also ein wenig über dem Durchschnitt, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Und wir sind sehr offen für die Tatsache, dass es nicht nur darum geht, Recruiting-Ziele zu setzen, sondern wirklich allen Stakeholdern, also potenziellen und bestehenden Mitarbeiter:innen, aber auch Kunden zu zeigen, dass wir auf eine neue Art und Weise arbeiten wollen, denn nur so können wir eine vielfältigere Gruppe von Menschen anziehen.
Wir möchten dazu beitragen, dass mehr Menschen das Gefühl haben, in den Ingenieurbereich gehen zu können. Es geht also nicht nur darum, von Manager:innen zu verlangen, Frauen einzustellen. Das Thema ist viel komplexer.
Noch eine Frage zur Vorreiterrolle von Schweden: Studien* in Deutschland und Österreich deuten darauf hin, dass Konsument:innen noch sehr skeptisch gegenüber Elektroautos als privates Fortbewegungsmittel sind. Währenddessen beobachtet man immer mehr Unternehmen, die Elektroautos als Dienstwagen anschaffen. Gründe für die Skepsis sind unter anderem die hohen Anschaffungskosten und die in Österreich und Deutschland noch lückenhafte Ladeinfrastruktur sowie die hohen Strompreise. Wie schätzen Sie die Lage ein? Was können wir von Schweden diesbezüglich lernen?
Was Schweden und Norwegen erfolgreich gemacht haben, ist die Bedürfnisse und Sorgen der Verbraucher:innen zu beachten, um den Übergang zu schaffen. Ich meine, Norwegen ist das beste Beispiel dafür, oder? Sie waren in der Lage, diese Transition in einer Handvoll Jahren zu vollziehen, was mir viel Hoffnung gibt, dass der Umfang des Übergangs, der in diesem Jahrzehnt notwendig ist, nicht unüberwindbar ist. Er ist durchaus machbar.
Viele Leute in der Branche verweisen auf die politischen Entscheidungsträger. Ein normaler OEM, mit dem man sich unterhält, würde wohl nur darüber sprechen, was die politischen Entscheidungsträger tun müssen. Und das ist auch gut so. Denn ja, politische Entscheidungsträger:innen müssen sich engagieren. Aber ich habe genug davon, OEM-Vertreter:innen zuzuhören, die auf verschiedenen Konferenzen stehen und nur darüber reden, was die Politik tun muss. Wir müssen als Branche ein klares Signal dafür aussenden, dass sich die Automobilindustrie für die wirkungsvollste und wertvollste Lösung entschieden hat, die existiert, nämlich Elektrofahrzeuge, und dass wir sie schnell ausbauen werden. Das halte ich für viel wichtiger, weil wir im Moment sehr verwirrende Botschaften senden. Dabei haben wir es in der Hand, die Mobilitätswende voranzutreiben.
Es fängt also bei uns an, die politischen Entscheidungsträger:innen werden das zur Kenntnis nehmen müssen, und dann werden sie hoffentlich diese wirkungsvollen Lösungen wie zum Beispiel in Norwegen umsetzen. Ich glaube dann werden wir einen schnelleren Übergang erleben.
Was denken Sie über die Skepsis von Verbraucher:innen?
Verbraucher:innen haben recht, wenn sie sich auf die Kosten und die anderen Aspekte konzentrieren, und es ist unsere Aufgabe, sie dabei zu unterstützen. Es muss Elektrofahrzeuge für alle Geldbörsen geben. Wir beobachten eine explosionsartige Zunahme von Elektroauto-Modellen auf dem Markt. Wir haben Modelle in allen Preisklassen, und es gibt wirklich gute Energiepakete. Wenn man sich die Betriebskosten für ein E-Fahrzeug ansieht, sind sie immer noch niedriger. Verbraucher:innen werden von den Medien mit einem sehr verwirrenden Narrativ konfrontiert. Ich möchte die OEMs ermutigen, ein ehrliches Gespräch zu führen, um Kund:innen in ihrem Marketing auf eine Weise zu informieren, die auf Daten und dem aktuellen Stand der Branche basiert, denn dieser ändert sich von Tag zu Tag.
Wir bemühen uns, Verbraucher:innen gegenüber sehr transparent zu sein und nicht nur über die guten, sondern auch über die schlechten Dinge zu sprechen. Bei einer Transition zu mehr Nachhaltigkeit muss man offen für neue Erkenntnisse sein. Wenn man sich beispielsweise für ein Polestar Modell interessiert, sehen Kund:innen auf unserer Produktseite eine Nachhaltigkeitserklärung für das Auto und sogar das spezifische Modell, das sie kaufen wollen. Darin findet man den CO2-Fußabdruck des Fahrzeugs und wie dieser berechnet wurde. Wir sind bisher die einzigen, die das veröffentlichen. Wir sprechen über die Materialien, die Batterie, die Risikomaterialien und wie wir mit Rückverfolgbarkeit arbeiten. Es geht nicht darum, zu sagen E-Autos sind perfekt. Sie sind aber die nachhaltigste Option, die man heutzutage hat, wenn man ein Auto kaufen möchte.
Sie haben soeben Mythen rund um E-Fahrzeuge angesprochen. Welche Mythen gehören denn entkräftet?
Der vorherrschende Mythos, der am meisten Schaden angerichtet hat, ist das Narrativ, dass E-Fahrzeuge einen größeren negativen Einfluss auf das Klima haben als Autos mit fossilen Brennstoffen. Diesen Mythos gibt es schon so lange. Dabei ist das bereits durch so viele Studien entkräftet worden.
Ein weiterer Mythos ist, dass es schwierig und unbequem ist, ein E-Fahrzeug zu haben und dass es nicht genügend Ladepunkte gibt. Wie ich schon sagte, wird massiv in Ladestationen investiert und sie tauchen überall auf, das ändert sich von Tag zu Tag. Ich fahre schon seit 10 Jahren mit diesen Autos. Mir ist nicht ein einziges Mal der Akku ausgegangen, dabei bin ich schon von Schweden nach Italien gefahren.
Braucht es denn nicht trotzdem eine gewisse Planung, wenn man eine größere Reise macht?
Nicht mit den heutigen Apps, nein. Man gibt das Ziel ein und erhält Vorschläge, wann man wo aufladen kann. Es ist sogar einfacher als damals, als man mit einem Verbrenner gefahren ist. Als ich klein war, mussten wir mit einer Karte herausfinden, wo die Tankstellen sind. Jetzt, mit der Digitalisierung, sagt das Auto einem einfach, wo man tanken kann.
Ein anderer Mythos ist, es gäbe es keine Risikomaterialien in einem Auto mit fossilen Brennstoffen. Oft wird argumentiert, dass Risikomaterialien wie Kobalt nur in Elektrofahrzeugen eingesetzt werden, dabei stimmt das so nicht. Kobalt gab es schon immer in der Autoproduktion. Wenn wir jetzt mehr risikoreiche Materialien wie Kobalt, Lithium und Mangan verwenden, müssen wir sicherstellen, dass wir sie auf nachhaltige Weise beziehen. Wir versuchen in der Lieferkette die Rückverfolgbarkeit für alle Risikomaterialien in unseren Autos einzurichten. Das ist uns bisher bei den größten Risikomaterialien in den Batterien gelungen, zum BeispielKobalt, Nickel, Lithium und Glimmer. Wir haben die Rückverfolgbarkeit für diese und weitere mittels Blockchaintechnologie sichergestellt.
Mit dem Polestar 0 Project hat Polestar angekündigt, bis 2030 ein gänzlich klimaneutrales Auto zu bauen. Wie wird das gelingen? Was ist seit April 2021, dem offiziellen Start des Projekts, geschehen?
Dieses Ziel haben wir uns gesetzt, weil wir wissen, dass wir die Lösungen in diesem Jahrzehnt finden müssen, nicht erst nach 2030, denn da ist es zu spät. Wir müssen Lösungen dafür finden, wie Treibhausgase aus der Produktion eliminiert werden können. Seit April 2021 konnten wir sehr wichtige Partner:innen für das Polestar 0 Projekt gewinnen. Rund 30 Partner:innen sind dabei, vom schwedischen Stahlhersteller SSAB über Sekab, das mit Chemikalien arbeitet, bis hin zu kleinen Start-ups wie Papershell, das kunststoffähnliche Materialien aus Papier herstellt. Das sind großartige Unternehmen, mit denen wir jetzt in die Forschung einsteigen. Wir erforschen, woher die Emissionen bei der Herstellung dieser Materialien kommen und wie wir sie beseitigen können. Unsere Partner investieren technische Ressourcen, und wir hoffen, dass wir Mitte des Jahrzehnts wissen, welche Lösungen möglich sind, um Autos damit zu bauen. Es geht aber nicht nur um Polestar, sondern darum, diese Erkenntnisse der ganzen Industrie und auch anderen Branchen, die diese Materialen verwenden, zur Verfügung zu stellen.
Wie stehen Sie zum Thema E-Fuels? Können diese eine sinnvolle Ergänzung in der Debatte um die Mobilitätswende sein?
Wir lernen aktuell eine Menge über E-Fuels. Ich denke, dass wir mehr Forschung und mehr Arbeit in diesem Bereich brauchen. Meiner Meinung nach wurden die Entscheidungen über E-Fuels auf sehr unsicherer Grundlage getroffen. Dadurch besteht die Gefahr, dass ein Schwarzmarkt für fossile Brennstoffe entsteht beziehungsweise dass nur diejenigen profitieren, die es sich leisten können, für E-Fuels zu bezahlen. Es ist noch ein sehr unerforschter Bereich, der von der Tatsache ablenkt, dass E-Fahrzeuge der Weg in die Zukunft sind und außerdem der einzige Weg, wie die Automobilindustrie die Probleme der Klimakrise wirklich angehen kann. Hätten wir E-Fuels schon vor 10 Jahren gehabt, dann hätten sie vielleicht eine Wirkung gehabt, aber mit heutigem Stand ist das nicht der Fall. Sie können vielleicht eine gewisse Rolle spielen. Wasserstoff kann durchaus in der nachhaltigen Gesellschaft relevant sein. Aber ich denke, E-Fuels werden eine Lösung im kleinen Maßstab sein und nicht die Klimalösung, die wir brauchen.
Als Abschluss möchte ich noch einmal auf das Thema Diversität zurückkommen. Wie wir festgestellt haben, ist die Anteil von Frauen in der Automobilbranche immer noch sehr gering. Haben Sie einen Ratschlag für Frauen, die eine ähnliche Rolle wie Sie anstreben?
Ich möchte allen Frauen raten, fest zu ihren Überzeugungen zu stehen, zu ihrer Ethik und an dem, woran sie glauben, festzuhalten. Die Entscheidungen zu treffen, die sie für sich selbst für richtig halten. Und dann die Plattform zu finden, von der aus sie das tun können. Das bedeutet, ein Unternehmen zu finden, in dem man wertgeschätzt wird und in dem man seine Meinung sagen kann. Wir Frauen sind nicht alle gleich. Und man sollte nicht von uns erwarten, dass wir mit einer einheitlichen Stimme an den Tisch kommen. Ich ermutige Frauen dazu, die Intersektionalität ihrer Persönlichkeit zu respektieren und all das an den Entscheidungstisch zu bringen, wenn sie das richtige Unternehmen oder die richtige Organisation gefunden haben, die das zu schätzen weiß. Bleibt also nicht in einer Kultur, die das nicht anerkennt. Wenn ihr von innen heraus etwas verändern könnt, ist das gut, aber wenn es eine Kultur ist, die euch wirklich runterzieht, solltet ihr euch einen anderen Rahmen suchen. Das bedeutet, sich selbst darüber klar zu werden, was man tun möchte, welche Ziele man verfolgen will und was den eigenen Überzeugungen entspricht.
* zB Allensbach-Erhebung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften