StartInnovationRaus aus der Nerd-Ecke

Raus aus der Nerd-Ecke

Vorurteile auf beiden Seiten, wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine oft männlich dominierte Sprache sorgen dafür, dass sich immer noch wenig Frauen für technische Berufe interessieren. Dabei reichen oft kleine Maßnahmen, um das Ruder herumzureißen, wie ein Beispiel an der FH Hagenberg (OÖ) zeigt.

MINT-Fächer sind nach wie vor stark männerdominiert. Eine Studie aus 2022 zeigt, dass in der EU nur 34 Prozent der Absolvent*innen in diesem Bereich Frauen sind. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum Beispiel: ganz klassische Vorurteile. Eine Umfrage unter durchschnittlich 17 Jahre alten Schülerinnen ergab, dass neun von zehn jungen Frauen solche Ausbildungen und Jobs scheuen. Hauptgrund? „Sie möchten nicht seltsam wirken – wie die Darsteller der Serie ‚Big Bang Theory‘, die kaum nach draußen gehen und Probleme im Sozialleben haben“, sagt Martina Gaisch, wissenschaftliche Leiterin für Gender & Diversity an der FH Oberösterreich in Hagenberg. „Raus aus der Nerd-Ecke“ für Informatik und IT fordert daher Gaisch.

„Wir müssen mit dem Vorurteil ,IT = Männerjob‘ aufräumen.“

– Sigrid Hantusch-Taferner

Sigrid Hantusch-Taferner, Country Managerin Codecool Austria (c) Codecool

Auch bei der internationalen Programmierschule Codecool wird eine Diskrepanz in der Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten von Studentinnen festgestellt: „Wir beobachten, dass unsere Studentinnen sich weniger zutrauen als ihre männlichen Kollegen. Sie haben weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten, obwohl sie bei Eignungstests häufig besser abschneiden. Das zeigt uns, dass wir mit dem Vorurteil IT = Männerjob stärker aufräumen müssen“, so Sigrid Hantusch-Taferner, Country Managerin bei Codecool Austria.

„Worte wie ,communication‘, ,collaboration‘ und ,creativity‘ im Titel eines Studiengangs bewirken, dass Frauen sich solche Fächer besser vorstellen und zutrauen können, denn diese Fähigkeiten sind weiblich.“

-Martina Gaisch

Martina Gaisch, wissenschaftliche Leiterin für Gender & Diversity an der FH Oberösterreich (c) FH OÖ

Häufig werden in der Kommunikation Begriffe verwendet, die eher männlich konnotiert sind. Ein Leichtes, hier die Schraube in eine andere Richtung zu drehen: „Worte wie ,communication‘, ,collaboration‘ und ,creativity‘ im Titel bewirken, dass Frauen sich solche Fächer viel besser vorstellen und zutrauen können, denn diese Fähigkeiten sind weiblich“, erklärt Martina Gaisch. Mit solchen angepassten Kommunikationsmaßnahmen kann viel bewirkt werden: So sind 80 Prozent der Anmeldungen für das neu startende Bachelorstudium „Design of Digital Products“ der FH Oberösterreich Frauen. Mittlerweile gibt es an vielen Universitäten und Ausbildungsstätten vielversprechende Initiativen, um gesellschaftlich verankerten Stereotypen den Kampf anzusagen. Lesen Sie hier eine kleine Auswahl davon.

FH TECHNIKUM WIEN

Angebot: Rein technische FH, 39 Studiengänge – von AI-Engineering über Maschinenbau bis hin zu Erneuerbaren Energien. Seit 2021/22 rund 22 Prozent weibliche Studierende.

Initiativen: u.a. WeCanTech-Netzwerk – Mentoringprogramm, Workshops und ein Award in zwei Kategorien

„Der WeCanTech-Award wird einmal im Jahr an zehn Studentinnen in zwei Kategorien vergeben, und zwar für besonders herausragende Studienleistungen sowie als Anerkennung für Studentinnen, die das Studium mit Kind(ern) gut vereinbaren. Mit dem Award werden außergewöhnliche Frauen als Vorbilder sichtbarer und die Technik stärker als attraktive Ausbildung positioniert“, sagt Nicole Sagmeister, Leiterin des Equality Managements an der FH Technikum Wien. Neben dem Award gibt es für Studentinnen auch einen jährlichen WeCanTech-Workshop. „Besonders weibliche Führungskräfte stehen jeden Tag immer noch vor der Herausforderung, kritischer wahrgenommen zu werden, weil sie ‚eine Frau sind‘. Um mit Widerständen und Vorurteilen gelassen und wirkungsvoll umzugehen, sind Wissen und ein souveränes Agieren, vor allem auch in schwierigen Situationen, wesentliche Aspekte“, ergänzt Sagmeister.

Homepage: https://www.technikum-wien.at/

FH CAMPUS WIEN

Angebot: über 60 Studiengänge. 48 Prozent Frauenanteil im Bachelor Clinical Engineering, 57 Prozent im Master Health Assisting Engineering

Initiativen: u.a. Technische Vorqualifizierung für Frauen über das AMS FiT Programm – Vorbereitung auf ein technisches Studium; Brückenkurse zur MINT-Wissensauffrischung

An der FH Campus Wien wird der Fokus auf den Barriereabbau gelegt. Ulrike Alker, Gender & Diversity Management und Andreas Posch, Departmentleiter Technik, sind sich einig: „Frauen in technischen Studiengängen und Berufen sind teilweise noch unterrepräsentiert. Strukturelle Benachteiligungen und tradierte Rollenbilder stellen oftmals Hindernisse dar. An der FH Campus Wien bemühen wir uns deshalb laufend darum, diese Barrieren aufzubrechen und Frauen gezielt zu fördern. Aktuell wird der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften wieder besonders beklagt. Vor diesem Hintergrund ist es einmal mehr notwendig und wichtig, Frauen zu ermuntern, die Chancen, die sich jetzt nutzen zu ergreifen, und in technische Studiengänge zu gehen“. Maßnahmen wie die Technische Vorqualifizierung bereiten Teilnehmerinnen auf den Studieneinstieg in technische Studiengänge, insbesondere auf die Bachelorstudiengänge Computer Science and Digital Communications und High Tech Manufacturing vor. Der Kurs findet seit 2010 im Rahmen des FiT Programms – ein Akronym für „Frauen in die Technik“ – des AMS Wien statt. Dieses Programm stellt für viele Frauen den Anstoß für ein technisches Studium an der FH Campus Wien dar. Die Maßnahmen zeigen Wirkung: Im Studiengang Clinical Engineering, in dem Expert*innen für die technische Infrastruktur im Gesundheitswesen ausgebildet werden, ließ sich der Frauenanteil auf 48% steigern. Im Vergleich zu den übrigen Studiengängen im Technik-Department weist dieses Bachelorstudium den höchsten Studentinnenanteil auf. Beim interdisziplinären Masterstudium Health Assisting Engineering liegt der Frauenanteil sogar bei 57%. Zusätzlich zu der Technischen Vorqualifizierung können Studienanfänger*inen  in Brückenkursen ihr Wissen in Mathematik, Elektronik, Programmieren und Physik auffrischen oder nachholen und sich somit den Einstieg ins Studium zu erleichtern.

Homepage: https://www.fh-campuswien.ac.at/

FH OBERÖSTERREICH, HAGENBERG

Angebot: 32 Bachelor-, 38 Masterstudiengänge. 28 Prozent weibliche Erstsemestrige, insgesamt 20 Prozent weibliche Studierende, 80 Prozent Anmeldungen von Frauen für den neuen Bachelor „Design of Digital Products“. *

Initiativen: MINT your future (gefördert vom BKA), #GirlsgoforIT, Girls just love IT, MINT-Region West

* Zum Vergleich: In Österreich sind 15 Prozent der Informatik-Studierenden weiblich.

Warum Frauen gerade in IT und Informatik so wichtig sind? An der FH Oberösterreich ist klar, dass digitale Produkte nicht an der Hälfte der Bevölkerung „vorbeientwickelt“ werden dürfen. Frauen sollen die digitale Zukunft aktiv beeinflussen, in Teams und als Leaderinnen. Gaisch: „Diversität bedeutet, an die gesamte Gesellschaft zu denken. Wenn Frauen ganz selbstverständlich mitarbeiten, dann kommen Studien und Jobs auch aus der angesprochenen Nerd-Ecke.“ Gleichzeitig spricht die Professorin sich dafür aus, dass Hochschulen und Universitäten Role Models, also coole Mutmacherinnen, „ausfindig machen, sammeln und kultivieren, damit sie Mädchen ein Vorbild sein können“.

Homepage: https://www.fh-ooe.at/campus-hagenberg/

MONTANUNI LEOBEN

Angebot: 13 Bachelor-, 22 Masterstudien im technisch-naturwissenschaftlichen Umfeld

Initiativen: u.a. „Girls Only – Female Empowerment“ Projekt in Kooperation mit der JKU Linz (gefördert vom BKA).

Ziel: Das Interesse an MINT-Berufen so früh wie möglich wecken, langfristig halten und Frauen, die diesen Weg wählen, bestmöglich unterstützen. Mentoring, Workshops und Netzwerken für ausgewählte Projektteilnehmerinnen.

„Frauen werden an der MUL dafür begeistert, technische Lösungen für die Zukunft zu entwickeln“, so Eva Wegerer, Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen. Im Rahmen des Pilotprojekts „Girls Only – Female Empowerment“ in Kooperation mit der JKU Linz wurde Anfang Oktober 2022 ein Mentoringprogramm für Studentinnen implementiert. 12 Studentinnen haben die Möglichkeit, sich mit einer Mentorin einzeln oder in Kleingruppen über fünf Monate hinweg auszutauschen. Die Studentinnen werden mittels schriftlicher Bewerbung und eines persönlichen Gesprächs ausgewählt. Außerdem erhalten alle interessierten Studentinnen der MUL und JKU in hybrid geplanten Workshops gezielte Unterstützung und können anschließend im ungezwungenen Rahmen wertvolle Kontakte knüpfen. Auch diverse Preisverleihungen sollen junge Frauen durch die Vorbildwirkung der Preisträgerinnen zu einem technischen Studium motivieren: Jedes Jahr der Wissenschaftspreis für Montanistinnen an Wissenschaftlerinnen und Studentinnen für exzellente Forschungsleistungen vergeben. 2021 wurde außerdem die Preisverleihung des TU-Austria-Mädchen-Preises durch die Montanuniversität Leoben veranstaltet.

Homepage: https://www.unileoben.ac.at

CODECOOL

Orte: Österreich, Ungarn, Polen, Rumänien und online

Angebot: Internationale Programmierschule – von Intro ins Coding über Software Testing bis hin zum Fullstack Development. 35 Prozent aller Bewerber*innen bei Codecool sind Frauen.

Initiativen: CoderGirl Scholarship – Möglichkeit zur kostenlosen Absolvierung der Fullstack Developer Ausbildung für weiblich gelesene Teilnehmerinnen.

„Bei Codecool steht der Mensch und sein Ziel, in der IT-Branche Karriere zu machen, im Mittelpunkt. Weder (soziale) Herkunft, Geschlecht oder berufliche Erfahrungen spielen eine Rolle. Unsere Vision ist es, ein Bildungsmodell zu schaffen, das alle Interessierten einschließt. Codecool arbeitet stets daran, diverse Förderangebote, Kurse und Lehrmethoden zu entwickeln, die sich den jeweiligen Bedürfnissen anpassen“, sagt Sigfrid Hantusch-Taferner. Im Mai wurden beispielsweise die ersten Full-Stack-Onlinekurse gelauncht, um zeitlich oder örtlich unflexible Studierende anzusprechen, weiters gibt es seit Kurzem berufsbegleitende Kurse, um eine Ausbildung auch mit einem Vollzeitjob zu ermöglichen. Dank dem „CoderGirl Stipendium“ haben weiblich gelesene Teilnehmerinnen die Möglichkeit, die Full-Stack-Developer Ausbildung kostenlos zu absolvieren. Durch Veranstaltungen wie dem internationalen IT-Event, Keynotes und Interviews wird versucht, dem Aufklärungsbedarf zum Thema Frauen in der IT gerecht zu werden. 35 Prozent aller Bewerber:innen bei Codecool sind Frauen, der Anteil der erfolgreichen Bewerbungen liegt bei 40 Prozent – das bedeutet, dass Frauen eher akzeptiert werden als Männer. Trotzdem beobachtet Sigrid Hantusch-Taferner, dass die Teilnehmerinnen bei Codecool sich weniger zutrauen als ihre männlichen Kollegen. „Eine aktive Ermutigung, um tiefsitzende soziale Prägungen abzuschütteln, ist ein essenzieller Schritt“, erklärt Hantusch-Taferner und ergänzt: „Der Fachkräftemangel ist groß und kann nur gedeckt werden, wenn die Branche für alle Interessentinnen aller Geschlechter, Herkünfte und Geschichten offen ist und sie entsprechend berücksichtigt. Das beginnt bereits mit der gezielten Förderung im Schulalter und endet bei den Konsument:innen digitaler Produkte und technischer Entwicklungen. Die zunehmende Digitalisierung erfordert einen inklusiven Zugang, um sie weiter vorantreiben zu können.“

Homepage: www.codecool.com/at

TU GRAZ

Angebot: 21 Bachelor-, 37 Masterstudiengänge im technisch-naturwissenschaftlichen Umfeld
Initiativen: „FEM in TECH“, „Technikerinnen der Zukunft“ der TU Austria (Zusammenschluss der drei technischen Universitäten Österreichs), Talentestipendienprogramm „TU Graz 100“.

„Die TU Graz setzt vielfältige Maßnahmen, um Mädchen und junge Frauen für ein technisch-naturwissenschaftliches Studium zu begeistern. Etwa durch das Programm ‚FEM in TECH‘, das Schülerinnen über Events, bewusstseinsbildende Maßnahmen oder technik-orientierte Sommerkurse anspricht, oder die Initiative ‚Technikerinnen der Zukunft‘ der TU Austria, dem Verein der drei technischen Universitäten Österreichs. Über unser Talentestipendienprogramm ‚TU Graz 100′ fördern wir gemeinsam mit heimischen Unternehmen auch ganz gezielt weibliche Talente in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen“, sagt Claudia von der Linden, Vizerektorin für Digitalisierung und Change Management. Die Maßnahmen zeigen Wirkung: „Der Frauenanteil unter neuzugelassenen Studierenden liegt an der TU Graz aktuell bei knapp 35 Prozent und somit um fünf Prozentpunkte höher als noch vor fünf Jahren“, so die Vizerektorin.

Homepage: https://www.tugraz.at

IU INTERNATIONALE HOCHSCHULE, ERFURT

Angebot: Private, staatlich anerkannte Hochschule mit über 200 Studienprogrammen. 26 Prozent Frauenanteil in Engineering und Technik. Mit über 90.000 Studierenden ist die IU Internationale Hochschule mit Sitz in Erfurt die größte Hochschule in Deutschland.

Initiativen: „Women in Tech“ – u.a. ganz- heitlicher Ansatz (Podcasts, Videos, Online-Events) sowie Stipendien zu 50 Prozent an Bewerberinnen in MINT- Studiengängen

Die IU Internationale Hochschule hat aktuell 3.498 Studentinnen in MINT-Fächern. „Im Gegensatz zu vielen anderen Initiativen bieten wir mit ‚Women in Tech‘ einen ganzheitlichen Ansatz über diverse Kanäle wie Podcasts, Videos und die Online-Eventserie mit ‚Yes she can – Girls in IT‘, um junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern. Sie brauchen vor allem weibliche Vorbilder. Die unbewusste Diskriminierung durch Lehrer und Lehrerinnen in den Schulen muss aufhören. Was die Wissenschaft bisher noch nicht genau weiß: Vielleicht nehmen sich Schülerinnen Diskriminierung, insbesondere in der Mittelstufe, auch besonders stark zu Herzen. Denn in dem Alter verlieren sie oft das Interesse. Daher konzentrieren wir uns in dem Projekt ‚Women in Tech‘ auch auf Schülerinnen ab der 9./10. Klasse“, erklärt Sybille Kunz, Professorin für Medieninformatik an der IU Internationalen Hochschule. Die Maßnahmen sind studiengangsübergreifend, dabei werden neue Lösungswege ausprobiert, Daten gesammelt und neue Erkenntnisse generiert. Beispielsweise wurde die „MINT-Bildung. Was junge Frauen darüber denken“ veröffentlicht. Im Herbst gab es die kostenlose Online-Eventserie für Schülerinnen ab der 10ten Klasse, wo IT den Teilnehmerinnen nähergebracht wird. In diesem Rahmen werden auch die Frauen in der IU vernetzt. „Im aktuellen Projekt sind wir zwölf MINT-Professorinnen, die den Studentinnen unterschiedliche Biografien vorleben: einige mit Kindern und Beruf, andere haben sich ausschließlich für den Beruf entschieden. Eines haben wir aber gemeinsam: Wir brennen für das Fach. Das merken die Teilnehmenden und sie erfahren auch, dass während in anderen Hochschulen die Quote bei unter 15 Prozent liegt, wir an der IU einen Frauenanteil von 26 Prozent in Engineering und Technik haben. Wir Professorinnen bringen unsere eigenen Role Models gleich mit und können jungen Frauen erzählen, warum wir uns für MINT entschieden haben. Viele der Hürden haben wir selbst erfahren. Das ist etwas ganz anderes, als wenn jemand in der Berufsberatung sagt: ‚Du könntest ja auch Informatikerin werden‘. MINT ist unglaublich vielfältig. Mit unserem Projekt haben wir die Chance, auch mal die anderen methodischen und sozialen Kompetenzen, die es für das Berufsfeld braucht, zu beleuchten“, sagt Kunz.

Homepage: https://www.iu.de/


Dieser Artikel erschien zuerst in der aktuellen sheconomy Ausgabe (drittes Quartal 2022). Der Beitrag wurde für die Onlineversion um Wortmeldungen und Zitate der Ausbildungsstätten ergänzt.

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